Der schwäbische Riot: Die einen schreien jetzt, wie vorher auch schon, nach dem „starken Mann“ und starker Polizei…

Dossier

Züricher Polizei mit Gummigeschossen am 1. MaiNun ist sie also gekommen: Die Welt nach Stuttgart. Junge Leute die revoltieren, weil die Polizei sie kontrollieren will. Das kennt man aus den Vororten von Paris, London oder Stockholm, aus den USA oder sonstigen Ghetto- oder Slum-Landschaften, die keine großen – und in der Regel auch wenig kleine – Perspektiven bieten. Mit kaputten Autos, Fensterscheiben und Geschäftsplänen. Und jetzt eben auch in der Neckar-Metropole, wo die Autoindustrie auch schon lange nicht mehr das ist, was sie einmal war. Die Reaktionen darauf kennt man aber ebenfalls (…) Noch nicht einmal die Frage wird gestellt, ob es sich vielleicht um eine „anlasslose Kontrolle“ handelte, das typischste Beispiel des Weges zum Polizeistaat. (…) Wenn jetzt vermutlich die große Debatte von Kommentatoren und unsäglichen Fernseh-ModeratorInnen darüber beginnt, was „aus Stuttgart“ zu lernen sei, dann ist das: Die falsche Frage… (Das ursprüngliche vollständige Vorwort – und Statement – von Helmut Weiss zu diesem Dossier ganz unten). Siehe dazu einige Beiträge auch zur weiteren Entwicklung:

  • Stuttgarter Unrechtsprechung geht in die zweite Runde: Berufung im „Krawallnacht“-Prozess ab 2. Februar – »Das Bekenntnis zu linker Haltung wird bestraft« New
    Am 24. Oktober 2022 hatte das Amtsgericht Stuttgart einen linken Aktivisten in einem aufsehenerregenden Prozess zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Außer verschiedener antifaschistischer Aktivitäten war der Genossen beschuldigt worden, an der „Stuttgarter Krawallnacht“ beteiligt gewesen zu sein. Nun steht der Berufungsprozess bevor, der am 2. Februar startet. Seit der „Krawallnacht“, als sich am 21. Juni 2020 die Wut über die schikanösen und rassistischen Polizeikontrollen in der Stadt entlud, gehen die Stuttgarter Repressionsbehörden mit willkürlichen und drakonischen Strafen gegen alle vor, denen sie eine Teilnahme daran unterstellen. Zudem nutzen sie die Chance, linke Aktivist*innen zu kriminalisieren, indem sie sie ebenfalls mit diesen Vorwürfen überziehen. In diesem Zusammenhang hatte das Amtsgericht Stuttgart Ende Oktober zwei skandalöse Urteile über drei Jahren und neun Monate sowie über drei Jahre und zwei Monate Haft gegen zwei Genossen verhängt. Der unbedingte Verfolgungswille der Stuttgarter Justiz zeigte sich auch in einem dritten Prozess, als am 17. Januar 2023 eine weitere linke Aktivistin zu einer Bewährungsstrafe von 1 Jahr und acht Monaten verurteilt wurde. Alle drei Prozesse basierten auf fragwürdigen Gutachten, illegalen Videoaufnahmen fragwürdiger Qualität und Indizien; ernstzunehmende Beweise und Zeug*innenaussagen konnten die Ermittler*innen hingegen nicht aufbringen. Stattdessen verwies das Gericht auf die politische Überzeugung der Angeklagten, die strafverschärfend gewertet wurde. (…) Der Berufungsprozess beginnt am 2. Februar 2023 um 9.00 Uhr vor dem Landgericht Stuttgart. Bereits um 8 Uhr beginnt eine Kundgebung solidarischer Unterstützer*innen. Weitere Termine sind für den 7., 9. und 16. Februar 2023 angesetzt.“ PM vom 29.01.23 des Bundesvorstandes von und bei Rote Hilfe e. V. externer Link, siehe auch:

    • »Das Bekenntnis zu linker Haltung wird bestraft«. Stuttgart: Landgericht verhandelt Berufung gegen ein Urteil zur »Krawallnacht«
      „[Das Amtsgericht Stuttgart hatte Ende Oktober 2022 im Zusammenhang mit der sogenannten Stuttgarter »Krawallnacht« vom Juni 2020 zwei harte Urteile von mehr als drei Jahren Haft gegen zwei linke Aktivisten gefällt. Am Donnerstag wird vorm Landgericht Stuttgart die Berufung gegen eines davon verhandelt. Was wurde den Angeklagten vorgeworfen?]
      In jener Nacht auf den 22. Juni 2020 gab es wütende Massenproteste, deren Ausgangspunkt eine rassistische Polizeikontrolle am Eckensee war. Den Genossen wird vorgeworfen, daran beteiligt gewesen zu sein. Konkret ging es um Vorwürfe wie den Wurf von Gegenständen oder Sachbeschädigung an Gebäuden. Dies wird ihnen als Landfriedensbruch, tätlicher Angriff oder versuchte gefährliche Körperverletzung ausgelegt. Zusätzlich werden ihnen noch antifaschistische Aktionen oder Teilnahme an linken Demos zur Last gelegt. Hier wird ein unbedingter Verfolgungswille der Justiz sichtbar.
      [Das Gericht soll die politische Überzeugung der Angeklagten strafverschärfend gewertet haben. Wie wurde das begründet?]
      Im Fall, in dem die Richterin einen Aktivisten zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilte, der nun in Berufung geht, sprach sie von »ideologischer Verblendung«. Der Angeklagte werde das noch »in 20 Jahren auch so machen«, behauptete sie. Diese Form von politischer Justiz ist nicht hinnehmbar. Da müssen wir gegensteuern. Dieser politisch motivierte Prozess soll offenbar der Abschreckung und Einschüchterung dienen. Und die Urteile sollen offenbar ein Signal setzen, dass solch ein Engagement kriminalisiert wird, vor allem bei klarem politischen Auftreten. Das Bekenntnis zu einer politischen, linken Haltung wird bestraft.
      [Laut Roter Hilfe basieren diese Prozesse auf fragwürdigen Gutachten, illegalen Videoaufnahmen und unklaren Indizien. Was ist damit gemeint?]
      Weil sich die Wut aufgrund der rassistischen Polizeikontrolle in der Nacht spontan äußerte, gibt es einzig unscharfe Aufnahmen vom Geschehen. Die Identifizierung der Angeklagten erfolgte auf Grundlage von minimalen Kriterien, wie Kleidung, Haltung, Gestik. Sehr fragwürdige Gutachten wurden herangezogen sowie auch Videos, die teilweise rechtswidrig entstanden sind: aufgenommen von Tesla-Autos im sogenannten Wächtermodus. Solche Videos waren Grundlage zur Verurteilung!…“ Interview von Gitta Düperthal in der jungen Welt vom 01.02.2023 externer Link mit Anja Sommerfeld, Mitglied des Bundesvorstands der Solidaritätsorganisation Rote Hilfe e.V.
  • Razzien gegen Linke im Südwesten: Die Stuttgarter »Krawallnacht« und Proteste gegen Querdenken führen zu Hausdurchsuchungen 
    Um 6.10 Uhr hat es am Dienstagmorgen im Linken Zentrum »Lilo Herrmann« in Stuttgart gerumst. Einsatzkräfte der polizeilichen Spezialtruppen der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten drangen in das Zentrum ein und zerstörten dabei mehrere Türen. Ihr Ziel: eine Wohngemeinschaft, die zum Zentrum gehört. Die Durchsuchung ist nur Teil einer größer angelegten Aktion. Auch an anderen Orten in Stuttgart, Tübingen und Villingen-Schwenningen finden Hausdurchsuchungen statt. Hintergrund sind zwei unterschiedliche Ermittlungskomplexe der Stuttgarter und der Konstanzer Polizei. Die Stuttgarter Polizei ermittelt wegen der als »Krawallnacht« bekannt gewordenen Ausschreitungen vom 21. Juni 2020. Damals war es zu Ausschreitungen gekommen, nachdem sich Jugendliche durch Polizeikontrollen gegängelt gefühlt hatten. (…) Weitere Hausdurchsuchungen betreffen eine Aktion am Rande einer Querdenker-Kundgebung am 4. Oktober 2020 in Konstanz. 60 Antifaschisten hatten eine Spontandemonstration zum Wohnhaus eines Aktivisten der »Identitären Bewegung« veranstaltet, dort flogen Eier und Farbbeutel gegen die Fassade. Im Wohnumfeld des »Identitären« wurden außerdem sogenannte Outing-Plakate geklebt. (…) Für das Linke Zentrum »Lilo Herrmann« ist klar, dass die Hausdurchsuchungen in den unterschiedlichen Ermittlungskomplexen zusammengedacht werden müssen. In einer Erklärung nennt das Zentrum die Durchsuchungen eine »Repressionswelle«, deren Botschaft eindeutig sei: »Der Feind steht links.« In Stuttgart steht Ende der Woche ein linker Aktivist vor Gericht, den eine Haftstrafe erwartet. Drei weitere Antifaschisten aus Stuttgart verbüßen wegen Auseinandersetzungen mit Rechten derzeit mehrjährige Haftstrafen.“ Artikel von Sebastian Weiermann vom 22.03.2022 in ND online externer Link, siehe dazu:

    • Hausdurchsuchungen in Baden-Württemberg
      Am heutigen 22. März kam es in den frühen Morgenstunden zu fünf Hausdurchsuchungen bei linken Aktivist*innen in Stuttgart, Tübingen und Villingen-Schwenningen. Die Polizeieinheiten traten während des Einsatzes an mehreren Stellen martialisch auf. Straßen rund um die durchsuchten Gebäude wurden gesperrt und Türen im Linken Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart mit Rammböcken aufgebrochen. Als Vorwände für diese Repressionsmaßnahmen gegen die linke Bewegung in Baden-Württemberg dienen in diesem Fall zwei unterschiedliche Ereignisse von 2020. Zum einen soll es um eine angebliche Beteiligung an der „Stuttgarter Krawallnacht“ gehen. Dort war es im Zuge der repressiven Polizeikontrolle einer Person in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni in der Innenstadt zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei gekommen. Weitere Durchsuchungsbeschlüsse beziehen sich auf eine antifaschistische Demonstration gegen einen stadtbekannten Neonazi in Konstanz im Oktober des vorvergangenen Jahres. Bei der Outing-Aktion soll es angeblich zu Straftaten gekommen sein. Hierzu erklärt Anja Sommerfeld, Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.: Die Repression gegen linke Strukturen im Süden geht unvermindert weiter. Den Repressionsbehörden in Baden-Württemberg ist offensichtlich jedes Mittel recht, um gegen linke Aktivist*innen vorzugehen. Die Rote Hilfe e.V. verurteilt diesen neuerlichen Angriff als staatlichen Einschüchterungsversuch und solidarisiert sich mit den Betroffenen.““ Mitteilung des Bundesvorstandes der Roten Hilfe vom 22.03.22 externer Link
  • Kein Spaß: Justiz geht mit auffallender Härte gegen Beschuldigte der Stuttgarter »Krawallnacht« vor 
    „… Mit auffallend harten Urteilen gegen zwei junge Männer am Dienstag sind die Richter am Amtsgericht Stuttgart der vorgegebenen Linie gefolgt. Das lässt ähnliche, politisch motivierte Urteile für die weiteren rund einhundert anstehenden Prozesse erwarten. (…) Es drängte sich der Verdacht auf, dass es hier um eine aus dem Innenministerium gewünschte politisch motivierte Härte geht. Dafür spricht auch, dass die Prozesse nicht den Amtsgerichten der Kleinstädte um Stuttgart überlassen werden, in denen die beiden Angeklagten und viele weitere wohnen. Damit in dieser Sache hart durchregiert werden kann, werden alle Verfahren am Amtsgericht Stuttgart gebündelt. »Der Rechtsstaat zeigt Zähne«, jubelte Strobl am Dienstag. »Der Mob« solle sich »hinter die Ohren schreiben, dass Randale und Gewalt bei uns kein Spaß sind«.“ Kommentar von Ursel Beck in der jungen Welt vom 12. November 2020 externer Link, siehe auch:

    • Krawallnacht in Stuttgart: Zwei Randalierer zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt
      „Die ersten Urteile nach der Randale-Nacht fallen heftig aus. (…) Das Amtsgericht Stuttgart verurteilte einen 18- und einen 19-Jährigen am Dienstag wegen besonders schweren Landfriedensbruchs und versuchter schwerer Körperverletzung zu Jugendstrafen von jeweils zweieinhalb Jahren Haft. (…) Beide Verurteilten hatten damals die Scheiben von Polizeiautos zerstört. Marc Reschke, der Anwalt des 18-Jährigen, kündigte umgehend an, Berufung einzulegen. „Das Urteil ist nicht akzeptabel, mein Mandant ist entsetzt“, sagte er. Die Tat sei zwar „eine große Dummheit“ gewesen, die Strafe dafür aber unverhältnismäßig. Sie müsse nun als Richtschnur für die kommenden Verfahren zur Krawallnacht gesehen werden. Reschke hatte auf eine Bewährungsstrafe plädiert – ebenso wie die Staatsanwaltschaft. (…) Auch im zweiten Prozess gegen einen bereits vorbestraften 19-Jährigen hatte sich die Verteidigung für eine Bewährungsstrafe ausgesprochen, die Staatsanwaltschaft forderte hingegen eine Jugendstrafe von zweieinhalb Jahren. Nicht entschieden ist bislang, ob die Verteidigung auch in diesem Fall in Berufung geht. (…) Die Deutsche Polizeigewerkschaft begrüßte die Haftstrafen. „Diese Urteile sind klare und deutliche Signale und werden zur Abschreckung beitragen“, sagte der Landesvorsitzende Ralf Kusterer der Deutschen Presse-Agentur. Dazu werde der Strafrahmen ausgeschöpft. Nach Ansicht von Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) zeigen die Urteile, dass Polizei und Justiz konsequent Straftaten ermitteln und auch hart ahnden…“ Agenturmeldung vom 10. November 2020 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link
    • RAV am 11.11.20 dazu auf Twitter externer Link: „Innenminister #Strobl bemüht nach  der Verhängung von Jugendstrafen in #Stuttgart die „der-Rechtsstaat-zeigt-Zähne“ Rhetorik. Auch der law & order-Fraktion sollte bekannt sein, dass #Abschreckung im Jugendstrafrecht nichts zu suchen hat.
  • „Aus Stuttgart lernen – ohne Schubladendenken“ von Matthias Koch am 22. Juni 2020 beim RND externer Link steht sozusagen als exemplarischer Betrag, und zwar weil „alles drin“ ist, von „ungeheuerlicher Gewalt“ über die starke Polizei als Rezept gegen den starken Mann bi zum Vorbild Macrons Prügelhorden: „… Tatsächlich ließen die Nachrichten aus Stuttgart gleich zwei Wellen der Verunsicherung durch ganz Deutschland laufen. Erst schauderten viele angesichts der menschenverachtenden Gewalt einer tobenden Masse. Dann folgte auch noch ein ausdrückliches Bekenntnis der Polizei dazu, überfordert gewesen zu sein. “Wir haben es nicht geschafft, trotz erheblichen Kräfteaufgebots, die Situation gleich in den Griff zu bekommen” – mit dieser Äußerung war Thomas Berger, der Vizepräsident der Stuttgarter Polizei, am Sonntagabend in der “Tagesschau” zu sehen. Was er sagte, war zwar absolut redlich und absolut richtig. Und dennoch hinterlässt eine solche Äußerung bei den Bürgern ein schlechtes Gefühl: Was, wenn sich morgen hier oder übermorgen dort Hunderte nächtens drohend erheben und die Kontrolle übernehmen über öffentliche Straßen und Plätze? Es geht hier nicht um Kleinigkeiten, sondern um den Kernbestand des Rechtsstaats. Wenn die Bürger nicht mehr darauf vertrauen können, dass die Polizei die Geltung der Gesetze durchsetzen kann, an allen Orten und rund um die Uhr, geht es etwas kaputt im Land. Dann entsteht ein Klima der Einschüchterung und der Angst, in dem die Schwachen und die Armen am meisten zu leiden haben. Am Ende steht dann der Ruf nach dem starken Mann. Genau deshalb darf man ein Ereignis wie das in Stuttgart nicht beiseite schieben: Jeder Vorgang wie dieser macht den Rechtspopulismus stärker. Der französische Präsident Emmanuel Macron kann ein Lied davon singen…“
  • „Live-Blog zu Krawallen in Stuttgarts Innenstadt: Özdemir besorgt über den Ruf Stuttgarts“ bis 22. Juni 2020 beim SWR Aktuell externer Link – wird zwar vermutlich mit wechselnder Überschrift auftauchen – diese ist von Montagmorgen, 22. Juni um 10 Uhr – legt aber nahe, dem Herrn Özdemir mal vorzuschlagen, sich Sorgen zu machen um die politischen Auswirkungen etwa des schwäbischen Pietismus. Ansonsten werden in diese Blog die jeweils aktuellen Beiträge des in diesem Fall als Leitmedium fungierenden SWR dokumentiert. Etwa eine – nicht ganz eigene, besteht der Verdacht – Übersicht „Was geschah in der Samstag Nacht“…
  • „Nie dagewesene Dimension der Gewalt““ von Thomas Pany am 21. Juni 2020 bei telepolis externer Link versucht eine Zusammenfassung: „… „Solche Szenen hat es in Stuttgart noch nie gegeben“, so der Polizeipräsident der Stadt, Franz Lutz. Er habe so etwas noch nie erlebt, sagte er. Er sprach in einer Pressekonferenz von einer „nie dagewesenen Dimension der Gewalt“. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn sprach von einem Schock. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann (Grüne), sagte, dass uns die Bilder aus der Stuttgarter Innenstadt „nicht kalt lassen können“. Innenminister Strobl (CDU) kündigte die volle Härte des Rechtstaats an, um gegen die Randalierer vorzugehen. Er sprach von einer beispiellosen „Qualität der Ausschreitungen“. Diese seien nicht politisch motiviert, so Polizeipräsident Franz Lutz: „Wir können aus der momentanen Sicht der Dinge eine linkspolitische oder überhaupt eine politische Motivation für diese Gewalttaten ausschließen“. Er spricht von einer Party- und Eventszene, die sich in den vergangenen Wochen schon in den sozialen Medien mit ihrem Handeln inszeniere. „Dazu gehört seit neuestem auch ein aggressives Tun gegen Polizeibeamte.“ Die Polizei habe einen 17-Jährigen wegen eines mutmaßlichen Rauschgiftdelikts kontrollieren wollen, wird als Anstoß zur Eskalation angegeben, daraufhin hätten sich Feiernde „solidarisiert“ (Polizeibericht), seien Richtung Schlossplatz gezogen und hätten sich offenbar auch in Gruppen in der Innenstadt verteilt. Polizei-Vizepräsident Thomas Berger erklärte auf die Frage nach der Nationalität der Beteiligten beziehungsweise deren etwaigen Migrationshintergrund, es sei „ein bunter Mix über den Globus“ gewesen. Da laut Bergers Erklärungen anzunehmen ist, dass die Antifa nicht beteiligt war und wahrscheinlich auch nicht die Inspiration für die gefilmten Gewalttaten gegen die Polizei bot, laufen die akklamationsheischenden Erklärungslinien des politisch rechten Spektrums auf Folgendes hinaus: Die Ursachen werden in der Gewaltbereitschaft von Personen mit migrantischem Hintergrund gesucht und bei Medien, die der Gewaltbereitschaft gegen Polizisten angeblich zuarbeiten. Der Vorwurf lautet, dass Kritik an der Polizeigewalt, wie sie zuletzt infolge der Proteste in den USA erfolgte, Hemmschwellen heruntersetzen würde…“
  • Diejenigen, die Teile der Bevölkerung regelmäßig rassistischen Kontrollen unterziehen, sollten sich nicht wundern, wenn die Wut, die sie säen, irgendwann explodiertam 21. Juni 2020 im Twitter-Kanal des Enough 14D Info-Café externer Link ist hier vor allem wegen des darauf folgenden Threads dokumentiert, bei dem in zahlreichen Kommentaren außer ein paar hardcore-Polizeifans auch viele Gewaltgegner, zumindest dieser Art von Gewalt, zu Wort kommen…
  • Zuerst einmal die Feststellung, dass die gezeigte Gewalt – insbesondere gg. die Polizei – indiskutabel ist. Das ist Konsens in einer Demokratie. Absehbar war dann, dass Viele (u.a. MdB) noch ohne genauere Informationen bereits die  Erklärung parat hatten: Chaoten, Extremisten, die in blindem Hass gg. Staat und Polizei vorgingen. Und: Die „elende“ Diskussion über Rassismus in der Polizei und „pauschale“ Misstrauensvoten (u.a. LADG) haben die Menschen beflügelt, sind mitschuldig…“ ist der Beginn einer Tweet-Reihe am 21. Juni 2020 im Twitter-Kanal von Oliver von Dobrowolski externer Link (Grüne Polizei) der zumindest solche Fragen aufwirft, die in den Medienberichten elegant „unter Tisch“ landen, wie: War es eine anlasslose Kontrolle oder ein konkreter Verdacht und weitere wichtige Sachfragen, wenn es über den politischen Schlagabtausch hinaus gehen soll…
  • „Stuttgart: Wir sehen genau, bei welcher Gewalt ihr schreit“ von Peter Schaber am 21. Juni 2020 im Lower Class Magazine externer Link zum Thema, wer sich wann worüber empört (und worüber nicht): „… Ich will im folgenden nicht über diejenigen Reden, die jetzt ein Fest des Rassismus feiern, denn sie sind so elend, dass es keiner Beschreibung bedarf. Es sind Leute, die bei jeder Gelegenheit ein Pogrom verüben würden, aber bei „Ausländergewalt“ zum liebevollen Wahrer gesellschaftlichen Friedens werden; Leute, die zuhause die „eigene“ Frau halb tot prügeln und dann mit dem Finger auf die “Fremden” zeigen, um sich als Retter des weiblichen Geschlechts aufzuspielen. Man muss ihnen nicht zu viele Zeilen widmen. Ich möchte aber über etwas anderes reden: Die ganz normale, ganz durchschnittliche Empörtheit der ansonsten auch ganz progressiven Mitte. Die Saskia Eskens dieser Republik. Die SPD-Vorsitzende formulierte direkt nach den Auseinandersetzung: „Was für eine sinnlose, blindwütige Randale in #Stuttgart, die so viele verletzte Polizist*innen und zerstörte Ladengeschäfte zurücklässt. Die Gewalttäter müssen ermittelt & hart bestraft werden. Unbegreiflich, wie die Situation derart eskalieren konnte.“ Die liberale bis linksliberale Reaktion auf spontane Riots fragt nicht: Was sind die Gründe? Warum kommt es zu der Gewalt? Um welche Art der Gewalt handelt es sich, wessen Gewalt ist es? Leute wie Esken wollen das Bild vermitteln: Wir sind die, die immer gegen Gewalt sind. Ist das schlecht? Jede*r ist gegen Gewalt. Noch der letzte genozidale Militär wird aufrichtig glauben, sein Morden dient dem Ende irgendeiner Gewalt oder Not. Gewalt ist nicht die „Ausnahme“ in der Welt, in der wir leben, sie ist der Normalfall. Es ist so trivial und eigentlich weiß es jeder: Krieg ist Gewalt, Vertreibung ist Gewalt, das Europäische Grenzregime ist Gewalt, Rassismus ist Gewalt, Feminizide sind Gewalt. Mehr noch: Ein Leben in Prekarität und Unsicherheit, im schlimmsten Fall Hunger ist Gewalt. Und das Iphone, auf dem ihr diesen Text lest, ist vergegenständlichte Gewalt, in Form gegossen in Kobaltminen und Menschenschinderfabriken. Libysche Folterlager sind Gewalt, bezahlt von der Bundesregierung. Türkische Angriffskriege mit bundesdeutschem Kriegsgerät sind Gewalt. Handelsverträge sind Gewalt, Austeritätsmaßnahmen sind Gewalt. Die Liste ist endlos – und es ist trivial, jeder Mensch weiß das. Aber die Gewalt dieses Systems ist man gewohnt, seit man das Licht der Welt erblickte. Und wieder und wieder und wieder und wieder wird einem gesagt, man könne sie eben nicht ändern, sie sei unveränderlich, notwendig oder das kleinere Übel. Man begegnet ihr mit einem Schulterzucken, oder wenn man progressiv und links ist, dann mit einer allzeit gemäßigten Kritik, zu deren Überbringung an die zuständigen Stellen man sich doch bitte auch das Zugticket zu lösen hat. Aber wehe es kommt zur „außerordentlichen“ Gewalt. Zur Gewalt derer, die man selber nicht kennt, denn sie kommen so selten in den Bundestag, die Zeitungsredaktion und die hübschen Restaurants, in denen man zu Abend isst. Selbst in die Clubs nicht, in denen man ganz cool feiert, schon wegen der Türsteher. Diese „außerordentliche“ Gewalt, die zeiht man des Zivilisationsbruchs. Und beschwört die Härte genau jenes Systems, das man zuvor noch wohlfeil kritisiert hatte...“
  • „Randale von Stuttgart kann kaum verwundern“ von Marcel Richters am 21. Juni 2020 in der FR online externer Link zu Hintergründen (und nicht so konsequenten Konsequenzen, aber das bleibt hier außen vor): „… Die Randale von Stuttgart war überfällig. Sie war nicht notwendig oder ist irgendwie gut zu heißen, aber dass es zu diesem Gewaltausbruch kam, kann kaum verwundern. Es ist eine explosive Mischung, die derzeit zusammenkommt. Langeweile durch die Corona-Pandemie, dazu drohende Existenzkrisen insbesondere für Menschen in prekärer Beschäftigung. Außerdem warme und lange Nächte, vielleicht noch Drogen und Alkohol. Und das alles in einer Stadt, in der man gerne zeigt, was man hat. Nach ersten Erkenntnissen waren eine Polizeikontrolle und Solidaritätsbekundungen von Umstehenden Auslöser der Krawalle. Das ist ebenso wenig verwunderlich. Besonders unter migrantischen Jugendlichen hat die Polizei nur selten den Ruf eines „Freund und Helfers“ – und noch weniger nach den Protesten der vergangenen Wochen. Wenn sich Politikerinnen wie die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken von der Eskalation überrascht zeigen, dann weist das nur darauf hin, wie weit sie sich inzwischen von potentiellen Wählerinnen und Wählern entfernt hat. Natürlich gibt es keine Rechtfertigung für die Ausschreitungen. Genauso wenig sind diese zu entschuldigen. Aber zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, ist nicht so schwer, wie jetzt vielleicht einige Politikerinnen und Politiker glauben machen wollen. Wichtiger, als „harte Strafen“ wäre es sich der Frage zu widmen, wie sich derartige Ausschreitungen in Zukunft verhindern lassen könnten. Die Antwort darauf werden vermehrte Streifen in der Stuttgarter Innenstadt sein und womöglich sogar neue Gesetze, welche diese Akte der Gewalt unter schärfere Strafe stellen. Damit geht es aber nicht an die Wurzel des Problems. Das liegt tief in der Vergangenheit, in einer Zeit, als Menschen als „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik geholt wurden, um bei Mercedes und Porsche die Dienstwagen der Vorstandsetagen zusammenzuschrauben. Schon das Wort „Gastarbeiter“ impliziert, dass nie geplant war, dass diese Menschen Teil der deutschen Gesellschaft werden. Aber jetzt sind sie seit Generationen hier und werden von der Gesellschaft und vor allem der Polizei trotzdem als „fremd“ und „unzugehörig“ angesehen. Das hat sich in der Nacht zu Sonntag in Stuttgart bemerkbar gemacht…“
  • Die Migrantifa Stuttgart schließlich hat zu den Geschehnissen von Samstag Nacht einen Offenen Brief veröffentlicht externer Link (bei Twitter) zu den Denunzierungsversuchen gegenüber MigrantInnen und dem andauernden Racial Profiling duch die Polizei – vielleicht bisher die besonnenste Äußerung zu den noch lange nicht aufgeklärten Ereignissen in Stuttgart…

Das ursprüngliche vollständige (aber doch zu lange) Vorwort – und Statement – von Helmut Weiss zu diesem Dossier lautete: „Nun ist sie also gekommen: Die Welt nach Stuttgart. Junge Leute die revoltieren, weil die Polizei sie kontrollieren will. Das kennt man aus den Vororten von Paris, London oder Stockholm, aus den USA oder sonstigen Ghetto- oder Slum-Landschaften, die keine großen – und in der Regel auch wenig kleine – Perspektiven bieten. Mit kaputten Autos, Fensterscheiben und Geschäftsplänen. Und jetzt eben auch in der Neckar-Metropole, wo die Autoindustrie auch schon lange nicht mehr das ist, was sie einmal war. Die Reaktionen darauf kennt man aber ebenfalls: Wie die Trump- und Bolsonaro-Fans dieser Welt schreien auch ihre schwäbischen Gesinnungsfreunde nach Polizeistaat, Toten und Diktatur und kotzen, ohne nähere Fakten zu kennen, schon mal ihren Rassismus aus. Dieweil das liberale und staatstragende Bürgertum Reaktionen zwischen Entsetzen und Empörung, mit Vorliebe entsetzter Empörung an den Tag legt und sich beeilt, der Polizei ihre Wertschätzung zu versichern und ihr den nächsten Freibrief in Aussicht zu stellen. Ganz wie einst in den 60er Jahren, als in der Berliner Waldbühne bei einem Rolling Stones-Konzert das Mobiliar kaputt ging. Noch nicht einmal die Frage wird gestellt, ob es sich vielleicht um eine „anlasslose Kontrolle“ handelte, das typischste Beispiel des Weges zum Polizeistaat. Nicht überraschend bei einem Bürgertum, das aus Anlass von Bundeswehr-Bomben auf afghanische Hochzeitsfeiern keine entsetzte Empörung zeigt, sondern die nächste „humanitäre“ Kriegsmission debattiert. Wenn jetzt vermutlich die große Debatte von Kommentatoren und unsäglichen Fernseh-ModeratorInnen darüber beginnt, was „aus Stuttgart“ zu lernen sei, dann ist das: Die falsche Frage. Die richtige wäre die grundsätzliche: Was wir aus Ausbeutung, Repression, Perspektivlosigkeit und permanenter Demütigung lernen müssen…“
Auch die ursprüngliche Überschrift war leider zu lang: Der schwäbische Riot: Die einen schreien jetzt, wie vorher auch schon, nach dem „starken Mann“ und starker Polizei. Wir, wie vorher auch schon, nach starkem Widerstand gegen den Kapitalismus… (gekürzt, ausdrücklich ohne Distanzierung!)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=174352
nach oben