Die Form des Wirtschaftens ändern: Mit dem Sozialstaatsprinzip zu Vergesellschaftungen

Dossier

Kampagne zur Enteignung der „Deutsche Wohnen“… Vergesellschaftungen sind nicht mehr eine abstrakte Angelegenheit, ihre Notwendigkeit wird immer auffälliger. (…) Mit der Initiative »Deutsche Wohnen enteignen« in Berlin, die die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen erreichen will, wurden Vergesellschaftungen erstmals zu einem realistischen Szenario in der Politik. Die Corona-Krise zeigt, dass insbesondere im Gesundheitssektor ebenfalls über Vergesellschaftungen nachzudenken ist, denn der Markt regelt jedenfalls nicht, dass die Bedürfnisse befriedigt werden können. Wohlgemerkt, Vergesellschaftungen, nicht Enteignungen. (…) Wenn über Vergesellschaftungen gesprochen wird, dann geht es um die Erfüllung des Sozialstaatsgedankens des Grundgesetzes. Nicht alles kann oder sollte vergesellschaftet werden, aber wenn es um die Daseinsvorsorge geht und der Markt nachweislich keine Lösung bietet, müssen sie thematisiert werden…“ Artikel von Halina Wawzyniak aus PROKLA 199 vom Juni 2020 externer Link – siehe weiter daraus und dazu:

  • Konferenz „Vergesellschaftung: Strategien für eine demokratische Wirtschaft“ am 7.-9-10.22 in Berlin
    Ob Klimakatastrophe oder globale Ungerechtigkeit, ob Mietenwahnsinn oder Pflegenotstand: Eigentumsfragen liegen an der Wurzel zahlreicher Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Aktuelle Debatten und wachsende Bewegungen für Vergesellschaftung skizzieren den Weg zu einer demokratischen Wirtschaft, die am Gemeinwohl ausgerichtet ist. Mit der Konferenz „Vergesellschaftung: Strategien für eine demokratische Wirtschaft“ laden wir Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Gewerkschafter*innen, Politiker*innen und viele mehr ein, radikale Perspektiven auf die Gegenwart für eine bessere Zukunft einzunehmen. Vom Wohnen über das Gesundheitssystem und Mobilität bis hin zur Energieversorgung wollen wir Bündnisse schaffen und gemeinsam die Eigentumsfrage neu stellen – so, wie es „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ erfolgreich vorgemacht hat. Um an einer Ökonomie der Vielen weiter zu bauen, blicken wir auf vergangene Erfolge und Niederlagen, laden zum konstruktiven Austausch zwischen unterschiedlichen Akteuren ein und stärken bestehende wie entstehende Bewegungen. Zusammen lernen wir von- und miteinander und entwickeln Strategien für Vergesellschaftungen und eine demokratische Wirtschaft in einer sozial-ökologischen Transformation…“ Aus der Einladung auf der Konferenz-Seite externer Link mit Programm und Livestream, siehe nun erste Berichte:

    • Vision einer neuen linken Politik: Kapitalismus kann man nicht heilen New
      An der TU Berlin diskutierten rund 1.000 Menschen über Vergesellschaftung. Die Frage: Welche Alternativen zum Wirtschaftssystem sind denkbar?
      Vielleicht wird in den Geschichtsbüchern der Zukunft ja tatsächlich einmal stehen: Der demokratische Sozialismus begann in Berlin mit einem Volksentscheid. Nach der erfolgreichen Umsetzung von Deutsche Wohnen & Co enteignen gründeten sich zahlreiche Initiativen, die in verschiedenen Bereichen Vergesellschaftungen durchsetzten, bis zu einem Punkt, an dem der Kapitalismus Geschichte geworden war. Ausbeutung, Armut und das Privateigentum an den Produktionsmitteln gab es seitdem nicht mehr. Angesichts rechter Massenmobilisierungen, linker Grabenkämpfe und der gefühlten Übermächtigkeit global agierender Konzerne mag man das für naiv halten. Doch die Idee der Vergesellschaftung ist in der politischen Linken zurück. Davon zeugt, dass sich am Wochenende laut Ver­an­stal­te­r:in­nen 1.000 junge und studentische Zuhörer:innen in den Hörsälen der Technischen Universität einfanden, um den Vorträgen der Vergesellschaftungskonferenz zu lauschen, die dort unter dem Motto „Strategien für eine demokratische Wirtschaft“ tagte. Das erklärte Ziel: Eine „bundesweite Vergesellschaftungsbewegung“. „Für uns stellt Vergesellschaftung den Kern einer neuen linken Politik dar“, sagte ein Sprecher des Organisationsteams gleich zu Beginn. Kämpferisch erklärte Hanno Hinrichs von Hamburg enteignet: „Es reicht nicht, die Spielregeln konsequenter umzusetzen, neue Regeln einzuführen oder die Teams auszutauschen. Wir müssen das Spiel beenden. Abpfiff. Die Saison der Konzerne ist vorbei.“
      In Panels und Workshops wurde der Begriff der Vergesellschaftung auseinandergedröselt. (…)
      „Auch im Kapitalismus sind alle abhängig von allen. Der Weltmarkt vergesellschaftet, nur tut er dies durch Privatisierung“, sagte etwa die Autorin Bini Adamczak. In einer folgenden Veranstaltung pflichtete der Sozialwissenschaftler Alex Demirovic ihr bei. Der Kapitalismus basiere auf der Enteignung fremder Arbeitskraft. Vergesellschaftung von links bedeute deshalb: „Wir eignen uns etwas an, was uns eigentlich schon längst gehört.“ Vergesellschaftung – das kann also sowohl großflächige Enteignungen wie beim Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE) bedeuten, aber auch Rekommunalisierungen, also das Zurückkaufen bereits privatisierter Infrastruktur. Demnach wäre jede Zurückdrängung von kapitalistischen Strukturen Vergesellschaftung. Ob progressiv oder nicht, hängt auch davon ab, ob nach der Enteignung der Staat über das Eigentum entscheidet – oder ob es eine demokratische Selbstverwaltung gibt, wie sie etwa DWE anstrebt. Sebastian Durben vom Aktionsbündnis Uniklinik Marburg Gießen fasste zusammen: „Die Vergesellschaftung löst nicht alles, aber ohne Vergesellschaftung ist alles nichts.“ (…) Bemerkenswert immerhin, dass zu einer derart antikapitalistischen Konferenz auch viele Gewerkschafter:innen kamen. Verdi-Aktivist Knut-Sören Steinkopf sagte dennoch: „Bis die Gewerkschaften großflächige Enteignungen fordern, muss noch viel geschehen.“…“ Bericht von Timm Kühn vom 9.10.2022 in der taz online externer Link
    • Die Utopie und die steinige Praxis: Vergesellschaftungskonferenz diskutiert über demokratisches Wirtschaften New
      Am Samstag ist kaum noch ein Platz zu kriegen an der Technischen Universität (TU) Berlin. Drei Tage wird hier bei der Vergesellschaftungskonferenz diskutiert, ob Verstaatlichung die Antwort auf viele drängende Fragen ist. Und das treibt offensichtlich viele um: Rund 800 Teilnehmer*innen waren zur Konferenz gekommen, die linke Theoretiker*innen, fachpolitische Expert*innen und nicht zuletzt erfahrene Aktivist*innen zusammengebracht hat. Eine Verbindung verschiedener Kämpfe und ein neues tiefgreifendes linkes Projekt zu finden, lautete die Losung, die die Organisator*innen bereits zur Eröffnung ausgaben. Ob Vergesellschaftung eben das sein kann, lässt sich am Beispiel des Volksentscheids zur Rekommunalisierung großer privater Wohnungskonzerne gut illustrieren. (…) Oft ging es während der drei Konferenztage um den Unterschied zwischen Vergesellschaftung und Enteignung. Einig war man sich, dass staatlicher Besitz, der oft weiterhin marktwirtschaftlich organisiert ist und der Gefahr der Reprivatisierung ausgesetzt bleibt, nicht die Lösung sein könne. Vielmehr müsse es darum gehen, demokratische Gestaltungsmöglichkeiten für öffentliche Güter zu erkämpfen. Dafür gibt es ganz konkrete Ideen: Deutsche Wohnen und Co enteignen will bis Anfang des nächsten Jahres ausarbeiten, wie die Anstalt des öffentlichen Rechts auszusehen habe, die nach dem Willen der Initiative die zu vergesellschaftenden Wohnungsbestände künftig verwalten soll. Mieter*innen und Stadtgesellschaft würden dann in einer Rätestruktur mit mehreren Ebenen selbst über die Wohnungsbestände entscheiden. Schon zum Auftakt der Konferenz wurde die Frage diskutiert, wie erreicht werden kann, dass am Ende auch alle mitentscheiden angesichts unterschiedlicher Bedürfnisse, Wissensstände und zeitlicher Ressourcen. Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten gelte es, Wirtschaft vom Expertenthema zur gestaltbaren Sphäre werden zu lassen. Diese Idee hat zweifelsohne bei vielen Teilnehmer*innen verfangen…“ Bericht von Yannic Walther vom 09.10.2022 im ND online externer Link
    • Siehe #vgt2022, #Vergesellschaftung und #vergesellschaftungskonferenz
  • [Rezension] Plädoyer für umfassende Demokratisierung: Eigentum im 21. Jahrhundert – Jürgen Leibiger untersucht Metamorphosen und Transformationen
    „Öffentliche Debatten wie auch Analysen mit wissenschaftlichem Anspruch zum Thema Eigentum haben es mit einem ernsthaften Problem zu tun: Bisweilen etwas verschämt, nicht selten jedoch auch offenkundig mit denunziatorischem Ziel verbunden, wird ihnen unterstellt, von Neidgelüsten getragen und dominiert zu sein. Solch interessengesteuerte Vorwürfe haben letztlich jedoch einen substanziellen Grund: Mit dem Eigentum verbundene Strukturen und darauf beruhende Interessen wirtschaftlicher, sozialer wie auch politischer Natur sollen nach Möglichkeit intransparent, nebulös bleiben. Das Eigentum – oder genauer seine derzeitigen Formen und Strukturen – gilt als keiner Debatte würdig und mithin als sakrosant. Die auf modernster Informationstechnologie basierende fortschreitende Globalisierung der Kapital- und Finanzströme begünstigt zudem diesen Hang zur Intransparenz und bis hin zur Anonymität. So erscheint der in den USA ansässige weltgrößte private Finanzinvestor BlackRock zum Beispiel vielfach als schlichter Verwalter von Finanzanlagen, der im Interesse seiner Klientel lediglich überflüssiges Geld einsammelt und renditeträchtig anlegt. Seine nicht nur auf die globale Wirtschaft und den Finanzbereich begrenzte Machtfülle bleibt so außen vor und ist inzwischen selbst für Insider nur schwer durchschaubar. Jürgen Leibigers jüngstes, durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstütztes Buch will eine Handreichung sein, sich in den mannigfaltigen, mit dem Eigentum verbundenen Problemen orientieren zu können. Sicher ist es kein Zufall, wenn er sich dabei im Titel und auch im Anspruch an die spektakuläre Analyse von Thomas Piketty »Das Kapital im 21. Jahrhundert« von 2014 anlehnt. Indem Leibiger nicht wie Piketty eine konkret historische Eigentumsform zum Gegenstand seiner Untersuchungen macht, geht er jedoch grundsätzlicher vor und untersucht es in seinen vielfältigen historischen wie auch derzeitigen Formen. Leibiger versteht seine Arbeit als eine »politische Ökonomie des Eigentums«, die dessen juristische Form hinterfragt und das Eigentum nicht als Recht an einer Sache und auch nicht nur als das Verhältnis des oder der Eigentümer*innen zu dieser Sache, »sondern als ein gesellschaftliches Verhältnis von Individuen oder Gruppen von Individuen zueinander bezüglich dieser Sache« zum Gegenstand hat. Methodisch grenzt er sich damit vom weitestgehend geschichtslosen Eigentums- und Güterbegriff der gängigen Volkswirtschaftslehre ab und kann im Folgenden die historisch realen Formen des Eigentums, beginnend mit der Urgesellschaft über die europäische Antike und Feudalgesellschaft bis hin zur Entstehung und Entfaltung des Kapitals Revue passieren lassen. (…) Angesichts der globalen Herausforderungen, unter anderem durch den Klimawandel, aber auch die durch Unterentwicklung, Hungerkrisen und dergleichen verbreitete Perspektivlosigkeit in vielen Weltregionen, hinterfragt Leibiger schließlich die Zukunftsfähigkeit gegenwärtiger finanzmarktdominierter Eigentumsstrukturen. Sein darauf basierendes Plädoyer für die »umfassende Demokratisierung der Wirtschaft auch im Herzen der kapitalistischen Eigentumsformen und im kapitalistischen Staat« ist ein fundiertes Diskussionsangebot, dem ein breiter Interessentenkreis zu wünschen ist. Schließlich setzen Demokratisierung und Partizipation Kenntnisse und Informationen voraus.“ Rezension von Dieter Janke vom 21. September 2022 in neues Deutschland online externer Link zu Jürgen Leibiger „Eigentum im 21. Jahrhundert. Metamorphosen, Transformationen, Revolutionen“, Westfälisches Dampfboot, 381 Seiten, Preis 38 Euro
  • Weiter im Artikel von Halina Wawzyniak aus PROKLA 199 vom Juni 2020 externer Link : „… Bei einer Enteignung wird einem Eigentümer etwas gegen eine Entschädigung wegegenommen und einem neuen Eigentümer übertragen. Bedingung ist, dass dies zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben erforderlich ist. Die Enteignung sagt nun aber nichts darüber aus, wer diese öffentlichen Aufgaben übernimmt und ob es dabei auch um Profit gehen darf. Und das ist die Krux. Bei der Enteignung ist es möglich, einem Akteur in Privatrechtsform (Aktiengesellschaft, GmbH) das Eigentum zu entziehen, und dieses dann einem anderen Akteur in Privatrechtsform zu übertragen. Dieser neue Eigentümer kann aber beispielsweise weiter mit Gewinnerzielungsabsicht wirtschaften. Die demokratische Kontrolle über das Eigentum ist nicht sicher gewährleistet. (…) Wenn nun aber die Enteignung keine Alternative ist, kommt die Vergesellschaftung ins Spiel. Bedingt. Der Artikel 15 GG eröffnet die Option, Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft zu überführen. Bei Gemeinwirtschaft geht es um die Deckung eines öffentlichen oder gesellschaftlichen Bedarfes ohne Gewinnabsicht zur Verfolgung von Gemeinwohlzielen (…) Nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch aus Gründen einer gesunden Skepsis gegen den Staat, ist immer wieder zu betonen, dass Vergesellschaftung nach Art. 15 GG es zwar zulässt, dass der Staat Träger des Eigentumsrechts wird, dies aber zum Glück nicht zwingend ist. Bei Vergesellschaftungen sollte der Fokus immer auf Selbstverwaltungseinrichtungen als Trägern des Eigentumsrechts liegen, denen staatliche Akteure zur Seite gestellt werden können. Grundsätzlich gilt: »Gemeineigentum ist von der Verstaatlichung zu unterscheiden, da es nicht ausreicht, Eigentum in Händen des Staates zu begründen, sondern es muss auch die Form des Wirtschaftens geändert werden.«…“

Siehe zum Thema auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=173521
nach oben