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Frankreich: Arbeitspolitische Konflikte im sanitären Ausnahmezustand – französischer Staatsapparat fürchtet „den Tag danach“

Ein Impfstoff, den wir selbst herstellen müssen...Arbeitspolitische Konflikte im sanitären Ausnahmezustand: Amazon wurde gerichtlich verurteilt! Ihm droht Million Euro Geldstrafe pro Tag droht… –  Streik bei Müllabfuhr im westfranzösischen Poitiers gegen Überausbeutung & Kurzarbeitergeldbetrug – Der französische Staatsapparat fürchtet „den Tag danach“, bei Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen – Erster Polizeitoter im Zusammenhang mit denselben – Mitten in der sanitären Krise wurde eine Ausschreibung für eine Großbestellung für Tränengas veröffentlicht: Die Debatte darum läuft weiter…“ Artikel von Bernard Schmid vom 15.4.2020 – wir danken!

Frankreich: Arbeitspolitische Konflikte im sanitären Ausnahmezustand –
französischer Staatsapparat fürchtet „den Tag danach“

Arbeitspolitische Konflikte im sanitären Ausnahmezustand: Amazon wurde gerichtlich verurteilt! Ihm droht Million Euro Geldstrafe pro Tag droht… – Streik bei Müllabfuhr im westfranzösischen Poitiers gegen Überausbeutung & Kurzarbeitergeldbetrug – Der französische Staatsapparat fürchtet „den Tag danach“, bei Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen – Erster Polizeitoter im Zusammenhang mit denselben – Mitten in der sanitären Krise wurde eine Ausschreibung für eine Großbestellung für Tränengas veröffentlicht: Die Debatte darum läuft weiter…

Theoretisch hatte Amazon angekündigt, sich im Zuge der Covid19-Pandemie in Frankreich und Italien auf die dringlichsten, notwendigen Lieferungen zu konzentrieren. Zuvor war der Konzern dafür kritisiert worden, dass er die Gesundheit seiner abhängig Beschäftigten in der Krise – während viele potenzielle Kundinnen oder Kunden zu Hause hocken und Bestellungen aufgeben – auf’s Spiel setze, um Profite zu steigern. (Vgl. dazu bereits: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/gewerkschaften-frankreich/frankreich-rentenreform-durch-die-corona-krise-faktisch-gekippt-kampf-gegen-gesundheitsgefaehrdung-im-vordergrund/) Gewerkschaften der Lohnabhängigen bei Amazon kritisierten, zu den angeblich dringlichen Lieferungen zählten Bestellungen von Videospielen, DVD und Sexspielzeugen.

Auf eine Einklage des Gewerkschaftszusammenschlusses Union syndicale Solidaires sowie der ökologischen Organisation Les Amis de la Terre hin hat nun am gestrigen Dienstag, den 14. April 20 am Spätnachmittag das Tribunal judiciaire (d.h. Gericht in Straf- und Zivilsachen) in Nanterre bei Paris den Amazon-Konzern verurteilt. Und zwar dazu, das zu tun, was er theoretisch bereits behauptete: Alle Lieferungen aus den tatsächlich dringlichen – Nahrungs- und Arzneimittel oder medizinische Produkte – vorläufig auf französischem Staatsgebiet einzustellen. Und für die verbleibenden abhängig Beschäftigten muss der Konzern nachweisen, welche Anstrengungen er unternimmt, um sie vor dem Risiko einer Infizierung mit dem neuen Coronavirus (SARS Cov-2) zu bewahren. Nun wird Amazon fünf von sechs Lagern auf französischem Territorium vorläufig dichtmachen müssen. Dem Konzern wird dafür ein Tag Zeit gegeben. Danach wird pro Tag und pro Verfehlung eine Million Euro Geldstrafe fällig. (Vgl. in unserem Dokument 1: das Urteil im Originaltext, bestellbar bei der LabourNet-Redaktion)

In einer Stellungnahme vom gestrigen Abend spricht die Union syndicale Solidaire von einem „ersten gewerkschaftlichen Sieg“ (vgl.: https://solidaires.org/AMAZON-Premiere-victoire-syndicale externer Link).

Am Tag danach..?

„Der Tag danach“ beunruhigt unterdessen die französischen Polizei- und Nachrichtendienste. Gemeint ist die Zeit unmittelbar nach der Aufhebung der derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen, die laut einer TV-Ansprache von Präsident Emmanual Macron am Abend des Ostermontags (13. April 20) nun bis zum 11. Mai dieses Jahres verlängert wurden.

Laut einem Strategiepapier des Inlandsgeheimdiensts, das am Osterwochenende durch die Boulevardzeitung Le Parisien ausführlich zitiert wurde (vgl. http://www.leparisien.fr/faits-divers/coronavirus-les-services-de-renseignements-craignent-l-embrasement-apres-le-confinement-11-04-2020-8298150.php externer Link) – dessen Informationen wurden durch viele andere bürgerliche andere Medien übernommen -, fürchtet dieser ein Aufflammen sozialer Unruhen. Auszüge aus dem Dokument geistern seitdem durch bürgerliche Medien ebenso wie durch linke WhatsApp-Forengruppen.

Vorläufig scheint die Faktenlage dafür allerdings noch vergleichsweise dünn zu sein. Die Zitat des Parisien basieren zunächst auf der Auswertung von Onlinemedien mit relativ geringer Reichweite in westfranzösischen Städten wie Nantes, Rennes und Rouen. Diese sind mehrheitlich an der Schnittstelle zwischen den Gelbwestenprotesten aus 2018/19 und der autonomen Szene angesiedelt und beschwören ohnehin immer die Aufstandsperspektive, nicht nur aus konkreten Anlässen. Darüber hinaus spricht das Strategiepapier allerdings (und hier wird es handfester) von der Befürchtung, der Unmut der Protestierenden seit den „Gelbwesten“ – besser noch hätte man wahrscheinlich die gegen die Rentenreform im Winter 2019/20 angeführt – könnten sich mit dem des Personals im Gesundheitswesens zusammenballen.

Letzteres streikte in mehreren Wellen ein Jahr lang, seit dem März 2019 (beginnend im Pariser Krankenhaus Hôpital Saint-Antoine) und bis zum Beginn der Corona-Pandemie – und zwar genau dagegen, dass die aufeinander folgenden Regierungen das Gesundheitswesen kaputt sparten. Frankreich wies vor dem Beginn der Coronakrise 5.000 Intensivbetten auf, die inzwischen in der akuten Krise auf das Doppelte aufgestockt werden (derzeit sind gut 7.000 belegt), in Deutschland waren es 28.000.

Zugeständnisse von Regierungsseite gab es zunächst keine, abgesehen von einer Einmalprämie für das endlose überarbeitete Personal von rund 80 Euro, die eher als Spott denn als Entgegenkommen gewertet wurde. Vor dem Ausbruch der Pandemie hatte das Krankenhauspersonal jedoch nur begrenzte Mittel zur Durchsetzung, da seinen Arbeitskämpfen aufgrund der Patientenbindung Grenzen gesetzt sind und es zur Aufrechterhaltung der Versorgung unter Strafandrohung dienstverpflichtet (réquisitionné) werden kann. Bei den Demonstrationen gegen die Rentenreform floss der Unmut im Krankenhauswesen allerdings als wichtiger Faktor mit ein.

Dieses heiße Eisen bleibt für die Regierung auch künftig schwer zu handhaben, auch wenn Emmanuel Macron seit dem Beginn der Covid19-Seuche mehrmals verbal die Bedeutung des öffentlichen Gesundheitssystems betonte und eine „Aufwertung“ der Pflege- und Gesundheitsberufe ankündigte; es bleibt abzuwarten, wie diese aussehen. Angesichts der gänzlichen Planlosigkeit, mit welcher das Regierungslager zunächst in die Seuchenproblematik hineinstolperte, und der manifesten Lügen, mit denen Unzulänglichkeiten vertuscht wurden – im Jahr 2010 war ein Vorrat von einer Milliarde Gesichtsmasken angelegt worden, dieser wurde jedoch zerstört, um Lagerkosten zu sparen und um sie bei Bedarf vermeintlich in China einzukaufen – dürfte es für Sympathien im nun von Macron wie durch die Öffentlichkeit als „Helden“ gefeierten Krankenhauspersonal kaum reichen. Auch erklärt derzeit nur noch rund ein Drittel in Umfragen, dem Krisenmanagement der Regierung zu „vertrauen“.

Am Donnerstag, den 09. April d.J. suchte Präsident Macron ein Krankenhaus in der südlichen Pariser Vorstadt Le Kremlin-Bicêtre auf, wo Covid-Patienten behandelt werden. Journalist/inn/en waren nicht zugelassen, da Emmanuel Macron sich zuvor über „Ausrutscher in der Öffentlichkeitsarbeit“ seiner Umgebung erzürnt gezeigt hatten. Erstmals wurde ein solcher Auftritt ganz ohne Presse durchgezogen, und dies nicht wegen der Sicherheitsabstandsproblematik. Stattdessen filmten Mitarbeiter des Präsidialamts selbst die Visite und teilten die Bilder im Anschluss über die sozialen Netzwerke. Dabei wurde der Eindruck erweckt, das Krankenhauspersonal applaudiere dem Präsidenten. Allerdings hatten anwesende Beschäftigte ebenfalls gefilmt, und ihre Aufnahmen wurden durch die Gewerkschaften SUD und CGT veröffentlicht. Beifall gab es, wie sich aus ihren Bild- und Tonwiedergaben ergibt, tatsächlich. Allerdings nicht für Macron, sondern für eine Krankenschwester der Narkoseabteilung, die der CGT angehört und den Präsidenten bei seinem Auftauchen harsch kritisiert hatte.

Vielleicht auch deswegen mobilisiert das Regierungslager schon vorbeugend eifrig die Polizei- und daneben auch Armeeangehörige. Bis zu 160.000 Sicherheitskräfte gleichzeitig mobilisiert, um die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen zu kontrollieren. Diese mögen aufgrund der Ansteckungsgefahr medizinisch begründbar sein, zugleich macht die Regierung jedoch auch Politik damit. Und die Diskussion auf Mailinglisten und anderswo darum, dass die französische Staatsmacht am 27. März d.J. – mitten im „sanitären Ausnahmezustand“ (état d’urgence sanitaire) – eine Ausschreibung für eine Großbestellung an Tränengas & Polizeimaterial veröffentlichte, geht ebenfalls weiter. (Vgl. in unserem Dokument n° 2: das Originaldokument zur Bestellung… bestellbar bei der LabourNet-Redaktion)

Erster Polizeitoter

Und nicht nur diese: In der rechtsextrem regierten Stadt Béziers, deren Bürgermeister Robert Ménard die städtische Polizei in sechs Jahren verdreifachte, übernimmt diese die Kontrollen. Am vorigen Mittwoch kam in einem ihrer Fahrzeuge der 33jährige Obdachlose Mohamed Gabsi – seine Herkunft respektive Abstammung dürfte seine Überlebenschancen nicht aufgebessert haben – zu Tode, mutmaßlich erstickt. Er war zuvor wegen Nichteinhaltung der Ausgangssperre, die aufgrund einer Kommunalverordnung im Stadtgebiet in den Abend- und Nachtstunden eine totale ist, von ihr aufgegriffen. (Vgl. dazu eine Reaktion von NGO-Seite, die bislang ausführlichste und beste: http://www.atmf.org/?p=7549 externer Link)

Streik in Poitiers

In den kollektiven Streik traten unterdessen seit dem Donnerstag, den 09. April fünfzig Beschäftigte der Müllentsorgung im westfranzösischen Poitiers, deren Dienst vor einem Jahr frisch geoutsourced worden war.

Die Privatfirma, bei der sie nun angestellt sind, griff auf einen Trick zurück und lässt sie seit Beginn der Coronakrise jede zweite Woche durch Kurzarbeitgeld vom Staat bezahlen. Dieses beträgt in Frankreich 84 Prozent des Nettogehalts, liegt damit höher als in Deutschland, und wird derzeit an 8,7 Millionen Beschäftigte (d.h. ein Drittel der Erwerbsbevölkerung, ohne die unmittelbar Staatsbediensteten) ausgezahlt. Voraussetzung ist die vorübergehende Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung. Im Falle von Poitiers geht es dem Arbeitgeber jedoch schlicht darum, Kosten vom Staat übernehmen zu lassen. Die Beschäftigten arbeiten zwar nur jede zweite Woche, sollen dann aber acht statt sonst üblichen drei Tonnen Abfälle entsorgen. Ferner sieht der Staat vor, dass Firmen – auf freiwilliger Basis – ihren Beschäftigten, die in der Coronakrise weiterarbeiten, bis zu 2.000 Euro Jahresprämie ausbezahlen und die dafür aufgewendeten Gelder von der Unternehmensbesteuerung ausnehmen können.

Bei der Müllabfuhr in Poitiers sollten es jedoch nur 150 Euro Jahresprämie werden. Daraufhin traten rund drei Viertel der Belegschaft (44 von 58) in den Streik. Betrug mit Kurzarbeitergeld durch die Arbeitgeber auf der Suche nach Einsparungsmöglichkeiten gibt es jedoch auch andernorts, weswegen die Regierung ihrerseits Kontrollen ankündigte – sicherlich auch, um dem Staat unnötig zu zahlende Gelder einzusparen.

Allerdings wurde der Streik am zweiten Tag aktiver Arbeitsniederlegung, also am 10. April (Karfreitag, in Frankreich kein gesetzlicher Feiertag) ausgesetzt – derzeit wird versucht, zu verhandeln -, nachdem am zweiten Tag trotz des Arbeitskampfs 85 % der Abfallentsorgung stattfinden konnte und die Streikbeteiligung wohl abbröckelte. Hauptgrund dafür: Der Arbeitgeber griff auf kurzfristig eingestellte Leiharbeitskräfte zurück. Es ist grundsätzlich total illegal, Leiharbeiter/innen einzustellen, um einem Arbeitskampf, also den Streikfolgen zu begegnen. Das dürfte es prinzipiell auch in diesem Falle sein… Allerdings beruft der Arbeitgeber sich darauf, die Leiharbeitskräfte nicht deswegen zu beschäftigen, sondern – angeblich – (nur), um die wegen der Schließung von Schulen & Kindergärten in die Kinderbetreuung beurlaubten Arbeitskräfte zu ersetzen… Fortsetzung folgt. Hoffentlich!

Vgl. zum Arbeitskampf in Poitiers u.a.:

Und demnächst weitere aktuelle Informationen aus Frankreich, unter anderem über die oft dramatische Lage in den „Überseegebieten“, wo sich zum Teil bereits „die Frage des Hungers stellt“; vgl. dazu: https://la1ere.francetvinfo.fr/coronavirus-la-question-de-la-faim-se-pose-en-outre-mer-reconnait-annick-girardin-823142.html externer Link

Artikel von Bernard Schmid vom 15.4.2020 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=170128
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