Systemrelevanz ja, Arbeitsrechte nein? Das Corona-Krisenmanagement in der Landwirtschaft findet auf dem Rücken der Beschäftigten statt

Dossier

Coronavirus, die Hetze und der Ausnahmezustand: China im Shitstorm“Wie unter einem Brennglas macht die Coronakrise deutlich, welche Arbeiten für unsere Gesellschaft essentiell sind. Nicht nur muss alles getan werden, um die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten und auszubauen. Auch die stabile Versorgung mit Lebensmitteln wird in den nächsten Monaten entscheidend sein. Das betrifft die Landwirtschaft genauso wie die Verarbeitung, die Logistik und den Einzelhandel. Die Bundesregierung hat dies in ihrer Kabinettssitzung am Montag bestätigt. Sie hat die Land- und Ernährungswirtschaft grundsätzlich als «systemrelevante Infrastruktur» externer Link anerkannt. Damit macht sie deutlich, dass diese Wirtschaftsbereiche prioritär aufrechterhalten werden sollen. Die Einschätzung der Bundesregierung ist vor allem deshalb spannend, weil Tätigkeiten in Land- und Ernährungswirtschaft in prä-Corona-Zeiten gesellschaftlich nicht besonders stark honoriert wurden (…) Für Klöckner und den Bauernverband bedeutet die Systemrelevanz der Landwirtschaft also keineswegs, dass die Arbeit der Beschäftigten aufgewertet wird. Im Gegenteil: Im Kern geht es darum, in der gegenwärtigen Situation unter Aushebelung von Rechten und Standards auf billige Arbeit – primär von Migrant*innen zuzugreifen…“ Artikel von Benjamin Luig vom 24.03.2020 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung externer Link und dazu:

  • No 462 („Die Last einer Behandlung wird auf das rumänische Gesundheitssystem abgewälzt…) New
    Es stellt sich heraus, dass die Rumänen und Bulgaren neben einem stählernen Rücken auch so verzweifelt nach Arbeit sein müssen, dass sie es nicht wagen, eine Pandemie-Lohnprämie zu verlangen, selbst wenn der Arbeitgeber von ihnen verlangt, 12 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zu arbeiten, da ein Wechsel der Bauernhöfe keine Option ist. Für die Dauer des Vertrages bleiben sie dem Arbeitgeber ausgeliefert, der allein die Befugnis hat, die Rückreise zu organisieren. Die deutschen Gewerkschaften haben den Pakt gekündigt und fordern angemessene Löhne, Arbeitsbedingungen und Maßnahmen zum Schutz vor Coronaviren. Aber wenn die rumänischen Arbeiter das Virus mit nach Hause nehmen oder wenn ihnen der Rücken bricht, muss sich das deutsche Gesundheitswesen nicht um sie kümmern. Deutsche Arbeitgeber werden sie vor Ablauf der 115-tägigen Befreiung von den Sozialversicherungsbeiträgen nach Hause schicken. Die Last einer Behandlung wird auf das rumänische Gesundheitssystem abgewälzt, das Ärzte und Krankenschwestern an Deutschland verloren hat und das wahrscheinlich nie einen Cent der Einnahmen sehen wird, die aus dem Verkauf der Ernte erzielt werden. Unter dem gleichen Radar der medialen und politischen Aufmerksamkeit sind Tausende rumänischer und bulgarischer Frauen in die betreuten Wohnheime Österreichs gegangen, weil sich herausstellt, dass Österreich es vorzieht, den Job an billigere Ostländer zu vergeben, anstatt die soziale Versorgung angemessen zu gestalten. In vielerlei Hinsicht stellen die Spargelstecher, Salatpflücker und Pflegekräfte die effizienteste Arbeitsform in Europa dar: billig, hochproduktiv, unversteuert, auch wenn sie gedemütigt werden und ein potenzielles Risiko für die öffentliche Gesundheit darstellen. Die politische Ökonomie Europas hat den postkommunistischen Universalsoldaten geschaffen, der im Laufe der Saison vom Landarbeiter über den Betreuer bis zum Bauarbeiter werden kann. Die Bewegungsfreiheit hat sich in eine Migration zum Überleben verwandelt, und selbst dieses Privileg ist den körperlich Gesunden vorbehalten. Letztendlich können sich die gedrängten Massen aus den Flugzeugen, die sich auf die Felder Deutschlands oder Italiens bewegen, weder auf ihr eigenes Land noch auf die Europäische Union verlassen. Dies wirft schwierige Fragen darüber auf, was Osteuropäer sich rechtmäßigerweise nach Jahren der EU-Mitgliedschaft erwarten dürfen: Ist es das?Artikel von Jascha Jaworski 3. Mai 2020 beim Maskenfall externer Link
  • Corona-Infektionen, weil die Rumänen „ein geselliges Volk“ sind? Über ein Geschäftsmodell mit osteuropäischen Billigarbeitern und ein Staatsversagen beim Arbeitsschutz (nicht nur) in viralen Zeiten 
    „… Die Register, die hier von Seiten des Staates zugunsten der Spargel- und sonstigen Bauern gezogen werden unter Inkaufnahme nicht nur logischer, sondern auch Menschenleben gefährdender Widersprüche zu den ansonsten geltenden Restriktionen für den Gesundheitsschutz aller Menschen, zeigen eindrücklich, welche „systemrelevante“ Bedeutung die Arbeitskräfte aus Osteuropa hier in Deutschland haben. Das kann man mit vielen guten Argumenten kritisieren und mit Blick auf die Zukunft und das dann sicher abnehmende Potenzial an ausbeutbaren Menschen (zumindest aus Osteuropa) zu einem Auslaufmodell erklären, wie das beispielsweise Vladimir Bogoeski in seinem Beitrag Die Teufelsmühle macht: »Eine menschliche Lieferkette aus Osteuropa sorgt für Spargel auf den Tellern und Pflege für die Alten. Eine Zukunft hat das jedoch nicht.« Das mag (hoffentlich) so sein, aber derzeit sieht es noch anders aus (was aber nur deshalb für einen Moment an die Aufmerksamkeitsoberfläche gespült wird, weil der Nachschub an billigen Osteuropäern durch die Corona-bedingten Unterbrechungen innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft stockt bzw. blockiert ist – wie der Fluss von Rohstoffen und Vorprodukten in anderen Branchen durch gestörte bzw. brachliegende Lieferketten): Denn es sind ja nicht nur die Erntehelfer aus den Armenhäusern der EU, die hier den Laden am Laufen halten und die Spargel- und später die nachfolgenden Ernten sichern. Man denke an die vielen Frauen, die als Betreuungskräfte in deutsche Privathaushalte kommen und monatelang bleiben, um etwas zu tun, was es eigentlich nicht geben darf: Eine „Rund-um-die-Uhr“-Versorgung älterer, pflegebedürftiger Menschen. Oder wie wäre es mit den vielen osteuropäischen Lkw-Fahrern, die den Fluss der Waren im Wirtschaftskreislauf des Landes aufrechterhalten? Oder schauen wir auf die zahlreichen Baustellen des Landes und hören uns einfach die Sprachen an, mit denen die Bauarbeiter dort untereinander sprechen. Und die vielen Discounter-Kunden unter uns, also wir alle (von den vegan bzw. vegetarischen ausgerichteten Exemplaren abgesehen), kaufen selbstverständlich überaus günstige, man muss gerade im europäischen Vergleich sagen: billige Fleischprodukte ein – und die kommen aus den großen Schlachthöfen und Fleischfabriken der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, in denen überwiegend osteuropäische Werkvertragsarbeitnehmer schuften. Und die deshalb so kostengünstig schlachten und weiterverarbeiten können, dass die Nachbarstaaten Deutschland schon vor geraumer Zeit eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt haben, weil sie mit den bei ihnen fälligen Löhnen keine Chance haben gegen die Dumping-Anbieter aus Deutschland. Das Coronavirus wütet auch unter den Unsichtbaren in den für die meisten Menschen unsichtbaren Fleischfabriken…“ Beitrag von Stefan Sell vom 2. Mai 2020 auf seiner Homepage externer Link, siehe dazu auch unser Dossier: Erntehelfer: “Wenn man die Leute anständig behandelt, kommen sie auch”
  • Positionspapier der IG BAU: Die Agrarwirtschaft in der Corona-Pandemie
    Aktuell überschlagen sich die Regierungsmeldungen in der Corona-Krise: Zuerst Lockerungen der Regelungen für Saisonarbeitnehmer*innen, Anerkennung der Landwirtschaft als systemrelevante Infrastruktur, dann Einreisestopp für Saisonarbeitnehmer*innen, Asylbewerber*innen und Studierende sollen als Erntehelfer*innen beschäftigt werden. Unstreitig ist: die Lebensmittelversorgung muss trotz Corona-Pandemie sichergestellt sein. Knapp 300 000 Saisonarbeiter*innen aus Osteuropa werden jedes Jahr eingesetzt, davon in der bevorstehenden Spargel- und Erdbeerzeit mindestens 150 000. Mehr als 200 000 Menschen sind zudem festangestellte Beschäftigte in der Agrarwirtschaft. Das bedeutet: Die Hälfte der „Bauern“ in Deutschland sind Arbeitnehmer*innen. Deshalb muss sich die gesellschaftliche Wertschätzung der Landwirtschaft, auch in einer Wertschätzung aller Arbeitnehmer*innen widerspiegeln: der Abbau von Arbeitsrechten im Zuge der Corona-Pandemie ist damit unvereinbar. Die IG BAU fordert Maßnahmen und Mindeststandards, um der systemrelevanten Beschäftigung in der Landwirtschaft gerecht zu werden…“ Positionspapier der IG BAU vom 31.3.2020 externer Link
  • Wertschätzung der Landwirtschaft bewahren – Arbeitsrechte, etwa von Saison- oder migrantischen Arbeitskräften, nicht aushebeln 
    „Die Arbeit in der Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung genießt zu Recht eine hohe Wertschätzung in der Gesellschaft. Diese Wertschätzung wollen wir erhalten. Wir dürfen sie auch und gerade in Zeiten der Coronakrise nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, indem jetzt wichtige Arbeitsrechte, etwa von Saison- oder migrantischen Arbeitskräften, ausgehebelt werden“, so Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) e.V. in einer Stellungnahme. Janßen reagiert damit auf einen Vorstoß einiger Agrarverbände wie dem Deutschen Bauernverband und auch von Bundesagrarministerin Julia Klöckner, die in Briefen an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil u.a. die Ausweitung der Höchstarbeitszeiten und Absenkung von Mindestruhezeiten fordern. (…) Bäuerinnen und Bauern tun alles, um mit ihrer Arbeit die Lebensmittelerzeugung sicher zu stellen. Wir wissen es sehr zu schätzen und es ist eine große Ermutigung, dass sich in vielen Regionen Menschen aus den Städten und Dörfern angeboten haben, uns bei der Arbeit zu helfen. Wir finden auch die bisherigen Beschlüsse der Bundesregierung für Hilfen in der Landwirtschaft und für mittelständische Handwerks-betriebe richtig. Diese Unterstützungen aus der Gesellschaft und von der Politik stärken uns. Wir haben jetzt alle eine große Verantwortung. Wir sollten deshalb alles tun, den helfenden Menschen durch eine faire Bezahlung, bestmöglichen Gesundheitsschutz, vernünftige und menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten sowie Transporte von Feld zu Feld unseren Dank auszudrücken, statt laut über die Aushebelung von Arbeitsrechten nachzudenken.“ Stellungnahme der AbL – Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V. vom 25. März 2020 bei life PR online externer Link
  • siehe auch die aktuellen Meldungen im Dossier: Erntehelfer: “Wenn man die Leute anständig behandelt, kommen sie auch”
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=167281
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