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Revolutionäres Terrain. Bewegungen und Besetzungen für eine säkulare Demokratie im Irak – ein Gespräch

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitIm Oktober 2019 brachen im gesamten Irak Aufstände aus, die bis heute ohne Unterbrechung andauern und in denen Säkularisierung und bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse gefordert werden. Bisher reagierte die Regierung mit gewaltsamer Repression, der bereits mehr als 600 Menschen zum Opfer gefallen sind. Derzeit spitzt sich die Lage angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie und der durch die Regierung zum 18. März verordneten Ausgangssperre zu. Wir sprachen mit dem irakischen Aktivisten und Journalisten Sami Adnan von der Gruppe »Workers Against Sectarianism« über die Besetzung selbst, ihren politischen Hintergrund, das konfessionalistische System im Irak und die Perspektive der Proteste unter der sich nun anbahnenden Gesundheits- und gesellschaftlichen Krise. Sami Adnan befand sich bis zum Verhängen der Ausgangssperre auf dem besetzten al-Tahrir-Platz in Bagdad und versucht nach wie vor, von dort die internationale Aufmerksamkeit für die Perspektive des Platzes zu gewinnen. Eine gekürzte und geänderte Version dieses Interviews erschien in Analyse&Kritik 657 im Februar 2020...“ Interview von Lilli Helmbold, Hans Stephan und Thomas Waimer, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 03/2020:

Revolutionäres Terrain

Bewegungen und Besetzungen für eine säkulare Demokratie im Irak – ein Gespräch

Im Oktober 2019 brachen im gesamten Irak Aufstände aus, die bis heute ohne Unterbrechung andauern und in denen Säkularisierung und bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse gefordert werden. Bisher reagierte die Regierung mit gewaltsamer Repression, der bereits mehr als 600 Menschen zum Opfer gefallen sind. Derzeit spitzt sich die Lage angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie und der durch die Regierung zum 18. März verordneten Ausgangssperre zu. Wir sprachen mit dem irakischen Aktivisten und Journalisten Sami Adnan von der Gruppe »Workers Against Sectarianism« über die Besetzung selbst, ihren politischen Hintergrund, das konfessionalistische System im Irak und die Perspektive der Proteste unter der sich nun anbahnenden Gesundheits- und gesellschaftlichen Krise. Sami Adnan befand sich bis zum Verhängen der Ausgangssperre auf dem besetzten al-Tahrir-Platz in Bagdad und versucht nach wie vor, von dort die internationale Aufmerksamkeit für die Perspektive des Platzes zu gewinnen. Eine gekürzte und geänderte Version dieses Interviews erschien in Analyse&Kritik 657 im Februar 2020.

Sami, du bist Teil der Gruppe »Workers against Sectarianism«: Was ist eure politische Agenda und der Charakter eurer Gruppe? Warum ist der Fokus auf diesen Antagonismus von ArbeiterInnen und Konfessionalismus eurer Auffassung nach wichtig?

»Workers against Sectarianism« organisiert sich erst seit einem Jahr und wir sind ungefähr 25 Leute – alle jung und meist arbeitslos. Wir wollen die Aktivitäten und Perspektiven der ArbeiterInnenklasse im Irak hervorheben und engagieren uns auch schon seit einer Weile in Protesten gegen den irakischen Staat. Bevor wir hier auf dem al Tahrir-Platz unser Zelt aufgeschlagen haben – insbesondere für die Arbeitslosen unter den Protestierenden –, haben wir uns über die ArbeiterInnenklasse, ihre Geschichte und den Kapitalismus versucht selbst zu bilden und hierzu Veranstaltungen organisiert oder uns mit anderen linken Organisationen und Parteien vernetzt. Unser Ziel ist es, mit anderen ArbeiterInnen weltweit in Verbindung zu treten.

Die hohe Arbeitslosigkeit ist das Hauptproblem des Irak und auch der Grund für die Proteste. Die meisten von uns haben, wie gesagt, keinen Job, einige wenige sind prekäre ArbeiterInnen oder auch staatlich beschäftigt. Wir betrachten uns trotzdem als Teil der ArbeiterInnenklasse, da wir immer auch als Reservearmee fungieren sollen, vor allem für die sektiererischen Milizen. Deshalb ist es eines unserer Hauptinteressen, das sektiererische System zu beenden, denn unsere Klasse wird davon am meisten geschädigt. Wir wurden in Kriegen und unter den Milizen benutzt, um zu kämpfen. Die meisten Toten stammen aus unserer Klasse und deshalb wollen wir nicht, dass sich Teile unserer Klasse den Milizen anschließen, nur weil ihnen Gehälter und Geld fehlen.

Wir würden gern die Hintergründe der Entstehung der Bewegung noch ein bisschen besser verstehen. Von welchen ökonomischen Veränderungen war der Irak seit der US-amerikanischen Invasion 2003 betroffen? Welche Rolle spielte das Land und seine Erdölindustrie um die 2000er und welche spielen sie heute? Und wie haben sich Armut, Arbeitslosigkeit und  die Zusammensetzung der irakischen ArbeiterInnenklasse unter diesen Entwicklungen verändert?

Vor 2003 und nach den Sanktionen konnte der Irak nicht mehr so viel Öl produzieren wie nötig, auch wenn das Land Mitglied der OPEC ist. Nach 2003 haben US-Unternehmen die Kontrolle über unsere Ölfelder und die Ölproduktion übernommen, woraufhin der Irak wieder begann, mehr Öl zu fördern. Doch jedes Mal, wenn die US-amerikanischen Ölfirmen Öl verkaufen, gehen die Einnahmen zunächst an die US-Bundesbank und von dort weiter an die irakische Zentralbank. Wir haben also weder die Kontrolle über das Geld, das die Ölindustrie abwirft, noch über das Öl selbst. Die Felder und die Gebiete um die Felder herum werden durch spezielle, ausländische Sicherheitsfirmen geschützt, sodass selbst die irakische Armee an diese Felder nicht herankommt.

Nach 2003 haben die USA alle ArbeiterInnen von den Ölfeldern entlassen. Das ist im Ölsektor geschehen, aber auch in anderen Branchen: im ursprünglich großen landwirtschaftlichen Sektor; im öffentlichen Sektor, der nach 2003 zusammenbrach. Es gab vor 2003 eine irakische Produktion und Industrie – für die Glasherstellung, es gab Zement- und Textilfabriken und sogar eine Automobilproduktion; der Gesundheitssektor war öffentlich, in einem guten Zustand und für jedermann zugänglich. Da gab es eine große ArbeiterInnenklasse, die unter relativ guten Arbeitsbedingungen arbeitete.

Jetzt verkaufen wir nur noch irakisches Öl und kaufen mit den Einnahmen aus dem Öl alles von außerhalb. Aber was ist, wenn unser Öl zu Ende geht? Wir haben weder die Landwirtschaft noch einen anderen Sektor, um uns zu ernähren. Auch private Sektoren sind nicht stark genug aufgestellt, dass sie in der Lage wären, genügend Menschen zu beschäftigen. Früher war es die Regel, dass ein Familienmitglied beim Staat beschäftigt und die ganze Familie von diesem Mitglied abhängig war. Wenn man keinen solchen Job im öffentlichen Sektor bekommt, besteht überhaupt kaum Aussicht auf irgendeinen Arbeitsplatz.

Der Protest geht also zurück auf diese Art von Problemen: Wir haben eine große Zahl von Arbeitslosen, und die Menschen haben allgemein nicht genug Einkommen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 40 Prozent – und sie steigt jährlich. Was werden die Menschen also tun? Seit 2011 gibt es fast jedes Jahr große Proteste gegen den Konfessionalismus, für Beschäftigung und Arbeitsplätze, für soziale und politische Rechte, für das Ende der Herrschaft der Milizen. Gleichzeitig muss man verstehen, dass viele Arbeitslose zu Milizen gehen, da diese ihnen Gehälter zahlen – sie können diese bezahlen, weil sie mit den Parteien im Staat verbunden sind, die ihnen entsprechendes Geld weiterleiten. Deshalb haben wir so viele Milizen und eine große Armee. Was sollten die Arbeitslosen sonst noch tun?

Wann und warum haben die Besetzungen begonnen und was sind die Forderungen der BesetzerInnen? Wie ist die Besetzung des al-Tahrir-Platzes in Bagdad mit anderen Bewegungen im Irak verknüpft?

Die Proteste dauern seit dem 1. Oktober 2019 an und haben sich wenige Wochen später, Ende Oktober zu Sit-Ins und Besetzungen ausgeweitet, wobei nicht nur Plätze, sondern auch Brücken und verschiedene Gebäude besetzt gehalten werden. Seitdem finden täglich Kämpfe zwischen der staatlichen Bereitschaftspolizei und den DemonstrantInnen statt. Dabei wird auf den Plätzen in Bagdad schon seit mehreren Jahren demons­triert, zuletzt 2011 und 2015. Die Verbindungen unter den protestierenden Menschen bestehen teilweise also schon seit langer Zeit; es entstehen in der Besetzungssituation auch ständig neue: in den Zelten auf den Plätzen und bei regelmäßigen Koordinationstreffen. Viele DemonstrantInnen besuchen sich auch gegenseitig oder schicken Delegationen in andere Landesteile. Vielleicht sind wir keine Freunde, aber wir kennen uns und die Namen der AktivistInnen.

Der Slogan »lets finish what we started« (»bringen wir zu Ende, was wir begonnen haben«), der vor ein paar Wochen prominent kursierte, drückt am besten aus, was für uns und wohl auch die ganze Welt mittlerweile klar geworden sein sollte: Wir haben eine Regierung, die uns getötet hat, als wir friedlich protestierten. Sie ist sektiererisch, unser Reichtum wurde uns genommen, unser Bildungssystem, unsere Landwirtschaft und alles andere zerstört. Lasst uns die Revolution erfolgreich beenden, die wir am 1. Oktober 2019 begonnen haben. Die Bevölkerung fordert die Beendigung der Korruption, des konfessionalistischen Systems und der Herrschaft der Miliz. Wir wollen grundlegende Dienstleistungen, Strom, Wasser und Beschäftigung. Wir wollen unsere eigenen lokalen Produkte, eine gute Landwirtschaft. Wir wollen ein säkulares System, um politische Islamisten loszuwerden, vor allem Leute wie Muqtada al-Sadr, Hadi el-Ameri, Khazali usw. Wir wollen einen souveränen Staat, von dem wir uns mit einem neuen System vertreten fühlen können. Wir wollen, dass diese kriminellen und korrupten Leute vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Wir wollen ein Ende der Umweltverschmutzung, besonders in Basra.[1] Wir wollen ein Heimatland.

Die Platzbesetzungen im Irak scheinen zu ­einem großen Teil von Frauen auf der einen Seite, von Tuk-Tuk-Fahrern als oft informell und prekär Beschäftigte auf der anderen Seite getragen zu werden. Wer sind die BesetzerInnen und DemonstrantInnen überall in den irakischen Straßen? Gibt es eine Tendenz in der Klassenzusammensetzung?

Das ist ganz richtig: Die Tuk-Tuk-Fahrer, die für ein extrem geringes Einkommen oft zehn Stunden am Tag arbeiten müssen, nehmen viel an den Demonstrationen teil. Sie fahren nun die Krankenwagen für die Revolution. Zwei Lieder wurden ihnen bereits gewidmet. Auch die Beteiligung der Frauen ist sehr groß, sei es in der medizinischen Versorgung an der Front, beim Anführen von Protesten oder Schreiben von Manifesten und Erklärungen – im Grunde bei allem. Diese Frauen haben unterschiedliche religiöse Hintergründe: Christliche, sunnitische, schiitische, säkulare und kommunistische Frauen versammeln sich hier. Es herrscht also eine Atmosphäre der Gleichberechtigung auf den Plätzen und die Menschen bauen wirklich gemeinsam einen zivilen und säkularen Staat auf.

Die Revolution wird nicht von politischen Parteien angeführt, weil die meisten Parteien an der Regierung beteiligt sind und das Volk nun gegen das System und seine Parteien revoltiert. Damit sind in der Regel die islamischen Parteien in der Regierung gemeint. Die meisten Menschen auf den besetzten Plätzen sind parteipolitisch unabhängig, gehören Gewerkschaften an, sind parteipolitisch ungebundene AktivistInnen, LehrerInnnen oder Studierende usf. Auch zwei linke Parteien sind recht stark: die Irakische Kommunistische Partei, die auch in der Regierung vertreten ist, und die Irakische kommunistische Arbeiterpartei. Darüber hinaus gibt es verschiedene intellektuelle Gruppen. 80 Prozent sind arbeitslos, und insgesamt kommen die meisten aus der ArbeiterInnenklasse. Gleichzeitig gibt es keine ausgeprägte Erwerbslosen-Identität. Vielmehr sprechen die meisten Leute von sich als Intellektuelle und prekäre ArbeiterInnen, Jugendliche, die das System verändern wollen, oder sie beziehen sich auf ihre ethnische Herkunft. Zudem sind zwar alle Altersgruppen vertreten, aber die Jugend zwischen 16 und 27 Jahren führt den Protest an.

Was bedeuten Platzbesetzungen, die immerhin schon mehrere Monate andauern, für Euren Alltag: Wie organisiert ihr eure Reproduktion, eure Infrastruktur? Erfahrt ihr dabei auch Unterstützung von anderen? Und wie organisiert ihr eure politischen Aktionen? Welche politischen Gegenperspektiven zu dem herrschenden System werden in der Bewegung diskutiert?

Bei unserem Platz handelt es sich um ein revolutionäres Terrain. Es gibt hier alles, was man zum täglichen Leben braucht, und die Menschen haben das wirklich selbst organisiert. Unter den 1.500 Zelten sind ungefähr 200 von Säkularen und Linken bewohnt; AnhängerInnen von Muqtada Al-Sadr gibt es auch, Zelte aus der Nachbarschaft und von Stämmen. Wir haben Orte zum Duschen, Essen, zum Waschen von Kleidung, Schlafzelte für jeweils vier bis fünf Personen, ein Fundbüro und Internet. Oft kommen sich die Menschen beim gemeinsamen Essen näher, das sie untereinander teilen, und bauen neue Verbindungen auf. Schulen wurden eingerichtet, in denen LehrerInnen SchülerInnen unterrichten. Auch ein Krankenhaus mit zehn Betten haben wir, in dem KrankenpflegerInnen und ÄrztInnen den BesetzerInnen helfen, sie mit Medizin versorgen und Erste-Hilfe-Kurse geben. Wichtig ist schließlich die Radio-Station, bei der täglich von anderen Plätzen berichtet wird, sodass die Leute über die laufenden Ereignisse andernorts informiert bleiben.

Finanzielle Unterstützung  gibt es von den Stämmen, von wohlhabenden FreundInnen oder der Nachbarschaft. Die zivilgesellschaftlichen Initiativen kommen meist aus der Mittelklasse und sind demnach finanziell nicht schlecht aufgestellt; manchmal erhalten sie auch Unterstützung von kleineren NGOs oder aus der irakischen Diaspora. Muqtada Al-Sadr hat auch seine Mäzene, die versucht haben, sich Einfluss auf die Proteste zu verschaffen, indem sie solche Abhängigkeiten herstellen – gefruchtet hat es nicht, diese Zeiten sind vorbei.

Über die infrastrukturelle Grundversorgung hinaus sind allerdings noch andere solidarische, soziale und kulturelle Strukturen und Momente herangewachsen – und auch deshalb ist der al-Tahrir-Platz ein revolutionäres Terrain: Die Leute drücken sich selbst aus. Sie malen Graffitis, spielen miteinander, hören Musik und tanzen, auch um sich zu motivieren. Es wurde ein neuer Strand eröffnet: Der Strand von Tahrir, wo die BesetzerInnen Volleyball spielen. Intellektuelle ­Veranstaltungen finden in den zahlreichen Bibliotheken statt, die die Leute aufgebaut haben. Bücher werden dort zur freien Verfügung, zum Lesen und Mitnehmen bereitgestellt. Es wird überhaupt viel gelesen und in spontan entstandenen Lesekreisen diskutiert.

Unsere Gruppe »Workers against Sectarianism« hat ebenfalls ein Zelt aufgebaut, in dem wir das politische System und die Wirtschaft erklären und verschiedene Fragen diskutieren: Warum sind wir erwerbslos? Was ist die Weltbank? Was bedeutet Privatisierung? Wie funktioniert Korruption? Wie funktioniert die Herrschaft des Irans, wie der  Konfessionalismus? Wir lernen dabei viel, in erster Linie, dass wir uns als ArbeiterInnen näher sind, anstatt als SunnitInnen oder SchiitInnen – und täglich kommen mehr Leute zu uns. Wir beschäftigen uns aber auch mit der Kluft zwischen KurdInnen und AraberInnen, die wir einander näherbringen wollen, indem wir beispielsweise auf die ebenfalls korrupte Regierung der KurdInnen verweisen. Eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte ist schließlich sehr wichtig: Wir schauen uns andere historische Zeitspannen und Phasen an, um Veränderungsprozesse nachvollziehen zu können, die unsere Gegenwart zu der gemacht haben, die sie nun ist. Und natürlich gibt es auch viele Diskussionen um Alternativen zum herrschenden System, Ideen für ein neues Wahlrecht oder auch ein Rätesystem. Allerdings brauchen wir mehr Unterstützung dabei, dieses alternative System denken und diskutieren zu können. Die Leute müssen mehr kennenlernen und müssen einen Zugang zu Wissen erhalten. Das ist auch nicht ungefährlich, da die Regierung oft sehr brutal dagegen vorgeht.

Offensichtlich ist der Irak eine gespaltene Gesellschaft. Gibt es auch Widerstand gegen die Bewegung aus anderen Gruppen der Zivilgesellschaft? Und wenn ja: Warum sind sie gegen die Bewegung? Welche Spaltungen macht ihr unter der Bevölkerung des Landes aus?

Weder die Zivilgesellschaft noch die Clans sind Unterstützer des konfessionalistischen Systems. Die Clans spielen innerhalb der Protestbewegung keine große Rolle, sie gehören dazu, stehen aber nicht im Mittelpunkt. Es sind AktivistInnen der Zivilgesellschaft, Intellektuelle, NachbarInnen, säkulare Gruppen – die größte Gruppe sind Unabhängige, wie zum Beispiel die Tuk-Tuk-Fahrer. Viele Menschen sind irgendwie Teil von Stämmen, aber sie treten nicht als Repräsentanten ihrer Stämme auf. Die meisten Menschen, die als Stämme betrachtet werden, wollen auch, dass die Bürgerrechte für die Menschen im Irak bestimmend sind, aber da diese sehr schwach ausgeprägt sind, ist es weitgehend das Stammesrecht, das uns kontrolliert oder uns schützt, wenn es soziale Probleme gibt. Die Menschen würden jedoch Zivilgerichte und das Zivilrecht bevorzugen.

Die wichtigsten Spaltungen sind konfes­sioneller Natur und gehen direkt auf die Installation des politischen Systems zurück, das die USA dem Irak nach der Besetzung im Jahr 2003 auferlegt hat. Das hat uns als SunnitInnen, SchiitInnen und KurdInnen gespalten. Die islamistischen politischen Parteien entstanden auch um sunnitische und schiitische Identitäten oder die kurdischen Parteien. Es gibt einen großen Widerstand von linken Parteien, der Zivilgesellschaft und säkularen Gruppen gegen dieses konfessionalistische System. Wir haben nicht das Gefühl, als Menschen sektiererisch zu sein. Die Politik des Systems ist das, was uns trennt. Diese Spaltung ist auch nicht sehr tief. Zum Beispiel werden wir in meiner Familie als Sunniten betrachtet, aber zugleich sind viele von uns mit Schiiten verheiratet. Vor dem konfessionalistischen System wussten die Menschen nicht einmal, was »sunnitisch« und »schiitisch« überhaupt bedeuten soll. Außerdem haben KurdInnen SunnitInnen und SchiitInnen geheiratet und umgekehrt. Das Bewusstsein gegen den Konfessionalismus ist seit 2009 wieder größer geworden, als die Leute sagten: ›Wir sind nicht sektiererisch, wir lassen uns nicht entlang dieser Linien spalten. Wir sind vereint – gegen das System.‹

Vor allem politische Religionsführer versuchten, den konfessionalistischen Diskurs zu stärken, die Kultur und die Art, miteinander zu sprechen, zu verändern. Sie versuchten, die Menschen zum Konfessionalismus zu erziehen. Mittlerweile ist der Widerstand der Menschen gegen den Konfessionalismus nicht einmal mehr wichtig, weil es so oft wiederholt wurde, dass wir nicht nur Schiiten und Sunniten sind. Wir sind über diesen Punkt bereits hinaus. Wir sehen uns gegenseitig bereits als BürgerInnen. Politisch islamistische Parteien machen sich lächerlich, wenn sie immer noch versuchen, sektiererische Reden zu schwingen oder auch, wenn sie versuchen, plötzlich säkular zu sein. Die Menschen kaufen es ihnen nicht mehr ab, weil sie die Geschichte dieser Parteien kennen.

Spätestens seit Januar spielt Muqtada al-Sadr eine wichtige Rolle für die Besetzungen, da er immer wieder versucht, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Durchsetzen konnte er sich bisher nicht. Er scheint uns ein gutes Beispiel für einen populären religiösen Führer und das konfessionalistische System, wie ihr es kritisiert und angreift, zu sein. Woher kommen al-Sadr und die Bewegung um ihn? Lässt sich nicht bei ihm auch ein Strategiewechsel von militanten zu parlamentarischen Kämpfen ­beobachten?

Während der US-Invasion 2003 nutzte ­Muqtada al-Sadr seine Beziehungen und die Popularität seines Vaters, Mohammed al-Sadr, der wiederum zu Zeiten Saddam Husseins vor allem unter der armen Bevölkerung beliebt war. Er forderte während der US-Besatzung hauptsächlich arme Leute dazu auf, sich seinem Widerstand gegen die USA anzuschließen, und baute so auch seine Miliz auf. Zugleich hat Muqtada al-Sadr die USA nie ernsthaft bekämpft, sondern lediglich propagandistische, massiv aufgeblasene Kleinkämpfe führte. Das zeigt sich nicht zuletzt an einem Deal mit den USA, der ihm Sitze im Parlament und enorme finanzielle Mittel einbrachte, um seine Miliz – die Mehdi-Armee [heute: Sarai al-Salam-Armee, A.d.Ü.] – weiter auf- und auszurüsten. Mit der Mehdi-Armee begann er eine Art sektiererische Säuberung, deren Ziel es ursprünglich war, das Baathistische Regime unter Saddam Hussein loszuwerden, die sich aber zunehmend gegen SunnitInnen richtete. Er ließ viele SunnitInnen samt ihren Familien umbringen. Und das war der Ausgangspunkt des konfessionalistischen Regimes. Es waren also die USA, die die Mehdi-Armee wachsen ließen, aus der Dutzende andere Milizen hervorgegangen sind: So entstammen beispielsweise Hadi Al Ameri und dessen Miliz oder die Hash al-Sha‘bi‘ (Popular Mobilization Front) al-Sadrs Armee.

Ich muss aber sagen, dass al-Sadr niemals seine Taktik verändert hat – auch nicht, als er ins Parlament einzog –, sondern immer sektiererisch geblieben ist. In jeder Wahl konnte sich al-Sadr mindestens fünf zentrale Ministerien wie Gesundheit, Industrie oder Kommunikation sichern… – wobei wir auch niemals richtige Wahlen im Irak hatten. In was für einer Demokratie leben wir hier? Es kam immer zu Betrug, die Milizen kontrollieren beinahe alles und natürlich gewinnt al-Sadr so auch alle Wahlen. Das müsst ihr verstehen: Er ist zugleich Teil der Regierung und Teil der Milizen. Er kämpft zugleich im Parlament wie auch auf der Straße, wo er Menschen tötet.

Und wie gehen al-Sadr und seine Anhänger auf den Platzbesetzungen vor, was wollen sie? Aus welchen Klassensegmenten setzt sich seine Bewegung zusammen?

Seit Qasem Soleimanis Tod [der für Außenoperationen zuständige iranische Offizier war durch eine Drohne des US-Militärs am 3. Januar 2020 ermordet worden, d. Red.] sucht Muqtada al-Sadr im Prinzip einen Weg, das System zu schützen und am Laufen zu halten. Er will der neue Soleimani werden und unterstützt die iranische Strategie in der Region; zu Khamenei unterhält er gute Beziehungen. Zuerst versuchte er Ende Januar mit einer Demonstration gegen die USA Sympathien unter den Protestierenden zu erlangen, forderte aber danach dazu auf, dass sich alle Menschen von den Protestplätzen im Irak zurückziehen sollten. Viele der Protestierenden reagierten wütend und riefen die Menschen dazu auf, auf den Plätzen zu bleiben und die Revolution weiterzuführen. Ein Teil war von Anfang an gegen al-Sadr, da sie wussten, dass auch er zur korrupten Führung gehört. Mit dem pro-iranischen Kurswechsel al-Sadrs fielen auch einige seiner ­AnhängerInnen von ihm ab, und die Protestierenden machten sich überhaupt viel über seinen Aufruf zum Widerstand gegen die USA lustig. Sie verwiesen darauf, dass ja seit 2003 der Irak von den USA, dem Iran, der Türkei usw. besetzt ist und die politische Führungsriege sich seitdem nie dagegen gewehrt hatte. Es war offensichtlich, dass es um die Beendigung der Proteste ging in dem Moment, wo sich die Menschen eben zusammentaten. Diese Verschwörung al-Sadrs scheiterte; die Demonstrationen und Platzbesetzungen liefen weiter. Nachdem al-Sadr seine Zelte von den Plätzen zurückzog, bauten die Menschen auf dem Platz mehr neue Zelte auf, die von den Regierungstruppen schließlich angegriffen und zur Hälfte abgebrannt wurden. Das war am 25. Januar. Auch in al Nasiriyah wurden Zelte von Regierungstruppen abgebrannt, während Leute darin schliefen, wobei es Verletzte gab. Aber sie konnten die Besetzungen nicht beenden, weil die Unterstützung für den al Tahrir-Platz zu groß war: Einen Tag nach dem Rückzug und den Angriffen al-Sadrs veranstalteten die Studierenden von Bagdad eine große Demonstration für die Platzbesetzungen, weil al-Sadr der Regierung nach seiner Niederlage grünes Licht für den Angriff auf die Plätze gegeben hatte. Die Studierenden kamen an diesem Morgen in großer Zahl und sangen gegen al-Sadr, die USA, den Iran und alle Milizen und das konfessionalistische System. Statt der Zelte bauten die BesetzerInnen dann z.B. in al Nasiriyah kleine, gemauerte Häuser.

Es kommt seitdem auf dem al-Tahrir-Platz immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit al-Sadrs Truppen. Anfang Februar zum Beispiel kamen AnhängerInnen von ihm zu unserer Besetzung und brachten Waffen mit, die sie heimlich versteckten. Sie schlugen Menschen zusammen und folterten sie auch. Er versucht nach wie vor, in die Proteste zu intervenieren und diese zu kontrollieren, im Namen der Pro­testierenden zu sprechen. Er versucht auch, ­AktivistInnen zu kidnappen, und seine AnhängerInnen bedrohen, belästigen und drangsalieren die protestierenden Frauen mit sexueller Gewalt. Er versucht auch regelmäßig, Märsche über den al-Tahrir-Platz zu veranstalten, bei denen seine AnhängerInnen die anderen Protestierenden bedrohen und verschrecken wollen. Besonders in der Zeit des Premierministers Mohammed Tawfiq Allawi brannten al-Sadrs Anhänger gemeinsam mit iranischen Milizen Zelte der PlatzbesetzerInnen nieder, gingen gewaltsam gegen AktivistInnen und Frauen. Erst kurz nach der Ernennung Allawis zum Premier twitterte Al-Sadr, er wolle mit der Polizei zusammen arbeiten, um die Straßen zu reinigen. Es kam zu mehreren Toten unter den al-Tahrir-BesetzerInnen, als er mit der Ankündigung dann ernstmachte. Auf diese Weise herrscht al-Sadr.

Ich meine aber: So ein Protest ist auch ein Prozess – manchmal kontrolliert al-Sadr die Proteste, manchmal die Protestierenden, manchmal muss er sich zurückziehen. Die Menschen wollen eine friedliche Lösung. Obwohl sie Waffen haben und in der Lage sind zu kämpfen,  nehmen sie niemals ihre Waffen, sondern wollen friedlich bleiben – auch in Anbetracht der Taten der Milizen.

Es gibt dabei aber noch eine Frage, die wir uns selbst stellen: Die Protestierenden kämpften gegen die Regierung, die Riot Police und die Armee –  warum konnten sie niemals etwas gegen die AnhängerInnen al-Sadrs tun? Die Antwort ist: Seine AnhängerInnen gehören größtenteils auch zur ArbeiterInnenklasse und zu den Armen und auch sie haben das Recht, gegen das System zu protestieren. Deswegen hätten die anderen BesetzerInnen sie nicht einmal dann vom Platz schmeißen können, wenn sie gewollt hätten. Weiterhin ist auch nicht klar, wer genau seine AnhängerInnen sind, ob die Menschen als Anhänger al-Sadrs kommen oder als jemand, der seine Rechte einfordert. Außerdem wollen die BesetzerInnen auch gar nicht, dass es zu einem Konflikt mit denen kommt. Das wäre schlecht für die Bewegung, weil es zu einem Bürgerkrieg führen könnte. Wir wollen nicht, dass sich die Armen untereinander bekämpfen. Wir wollen, dass die Armen gemeinsam gegen die Bourgeoisie kämpfen.

Wie ist aktuell die Situation auf dem al-Tahrir-Platz und was ist die Perspektive eurer Proteste angesichts der Corona-Pandemie? Was erwartet ihr von der irakischen Regierung?

Die Stimmung auf dem al-Tahrir-Platz ist sehr gemischt. Einige Leute haben große Angst vor der Pandemie, sie haben ihre Zelte und die Besetzung verlassen. Viele weigern sich jedoch, sich nun von den Plätzen zurückzuziehen, denn ihre Anliegen und ihr Protest sind natürlich nach wie vor wichtig und nicht erledigt. Immerhin: Wir haben uns nicht vor den Angriffen von al-Sadr, der Milizen und des Staates zurückgezogen. 669 Tote, 25.000 Verletzte und 2.800 Inhaftierte haben wir Protestierenden mittlerweile zu beklagen, und trotzdem sind wir noch hier. Viele Protestierende sagen: ›Wir haben so viel für unsere Revolution gegeben und sind nun bereit zu sterben, falls das Corona-Virus kommt. Es macht uns nichts aus, deswegen zu sterben.‹ Für sie ist es ein Kampf, eine Frage von Heimatland oder Tod. So ist hier gerade die Atmosphäre auf dem al-Tahrir-Platz. Wir desinfizieren jeden Tag die Zelte. Unser Krankenhaus auf dem Platz liefert die medizinische Versorgung und gibt jeden Tag Kurse, um die Protestierenden über das Virus und die nötigen Hygienemaßnahmen aufzuklären. Ich weiß nicht, ob das genug ist. Ich hoffe es. Aber wir weigern uns, uns nun zurückzuziehen. Von der Regierung erwarten wir gar nichts, da sie sich ja nicht einmal selbst beschützen kann. Wir haben im Irak eines der inkompetentesten Gesundheitsministerien und mittlerweile auch eines der schlechtesten Gesundheitssysteme, weshalb nun alles von selbstständigen bzw. ehrenamtlichen Kampagnen abhängt. Der Gesundheitsminister gab bekannt, dass wir inklusive Kurdistan 143 Infektionsfälle haben, zehn Tote und 43 Personen, die bereits wieder gesundet sind. Ob das so stimmt, wissen wir nicht. Letzte Nacht kündigte die Regierung nun eine Ausgangssperre an – neben der Schließung von staatlichen Stellen, Schulen, Universitäten und auch Läden. Bagdad ist leergefegt, aber wir versuchen die Platzbesetzung fortzuführen. Wie sinnvoll die Regierungsmaßnahmen sind, ist nicht ganz klar, denn die politische Führung weigert sich, den Grenzübergang zum Iran zu schließen, sodass noch viele Leute von dort zu Besuch kommen.

Ein Problem, dass uns von »Workers against Sectarianism« nun viel beschäftigt, ist, dass ArbeiterInnenfamilien und angestellte LandarbeiterInnen es sich nicht erlauben können, Gemüse zu kaufen und Vorräte anzulegen. Für andere Klassen ist die Situation nicht so schlimm, da sie ein ausreichendes Monatseinkommen haben, mit dem sie nun die Supermärkte leerkaufen – tatsächlich sind auch hier die Regale leer, sodass für die ärmere Bevölkerung nichts mehr zu holen ist. Für die ArbeiterInnenklasse ist es fatal: Sie haben gar nicht das Geld, um Vorräte für einen Monat zu kaufen, da sie von Tag zu Tag leben. Wir haben Forderungen formuliert, die diese Probleme versuchen aufzu­greifen, die sich unter der Corona-Pandemie zuspitzen. Darin fordern wir auch den irakischen Staat dazu auf, gegen die nun einsetzende Teuerung von Händlern vorzugehen, in den Markt einzugreifen, damit sich Leute noch das Notwendigste leisten können. Überhaupt sollte der irakische Staat nun die Arbeitslosenversicherungen zahlen und Lebensmittelkarten insbesondere für arbeitslose Familien und prekäre ArbeiterInnen verbreiten, um die drohende Hungerkrise abzuwenden. Eigentümer sollten nun auch keine Miete mehr nehmen – woher soll das Geld der ArbeiterInnen dafür jetzt mit dem Shutdown noch kommen? Wichtig wäre auch, dass ehrenamtliche Teams, die weniger von dem Corona-Virus gefährdet sind, in die armen Viertel der Stadt gehen und dort über die Pandemie und erforderlichen Hygienemaßnahmen aufklären, im besten Falle Masken und Desinfektionsmittel kostenlos verteilen. In dieser Krisensituation müssen wir unfaire Vorgehensweisen der Privatunternehmen erwarten, die sicherlich Arbeitsrechte aushebeln wollen, indem sie beispielsweise die Gehälter von jenen ArbeiterInnen streichen, die aufgrund der Ausgangssperre nicht zur Arbeit gehen können. Sie können sicher sein: Wenn der Staat sie heute nicht dafür zur Verantwortung zieht, werden es morgen die ArbeiterInnen sein.

Das Interview führten Lilli Helmbold, Hans Stephan und Thomas Waimer. Die Interviewer sind auf verschiedene Weise mit dem Communistischen Labor Translib in Leipzig assoziiert, wo sich mit der gegenwärtigen globalen Revolte intensiv beschäftigt wird. Interview erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 03/2020

Anmerkung:

1        Gerade in der Stadt Basra sind die ökologischen Folgen der Erdölindustrie besonders spürbar.  Siehe: https://www.deutschlandfunk.de/umweltkrise-im-irakischen-basra-giftiges-wasser-giftiger.799.de.html?dram:article_id=455982 externer Link

express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=167174
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