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Der Versuch der Herrschenden im Libanon, einen gerade zurück getretenen Premierminister wieder ins Amt zu bringen, zeigt Wirkung: Erneut verstärkte Proteste gegen das reaktionäre Proporz-System

Auch bei den Protesten im Libanon spielen die Frauen eine zentrale Rolle, hier im November 2019 in BeirutIm Libanon sind seit dem Wochenende die Massenproteste erneut massiv verstärkt auf der Straße sichtbar geworden – und dieses von Beginn an in heftiger Konfrontation mit den Repressionsversuchen des Regimes, die bisher erfolglos blieben. Anlass dieser neuerlichen Welle war es, dass die Kräfte des Systems ganz offensichtlich von der Einschätzung ausgingen, der Rückgang der sichtbaren Proteste in den Tagen zuvor erlaube es ihnen, eine der bisherigen Konzessionen an die Protestbewegung rückgängig zu machen und den Großunternehmer Hariri, der ja eigentlich zurück getreten war, wieder zum Regierungschef zu machen. Diese plumpe Machtdemonstration hat weitere Proteste regelrecht provoziert – und die ließen sich von der Repression nicht einschüchtern, die uniformierte Kräfte und Milizen organisierten. Die „internationale Unterstützungsgruppe“ diktiert der geschäftsführenden Regierung des Libanon – ohne darauf zu achten, dass sie offiziell eben nichts mehr ist als „geschäftsführend“ – derweil ihre Bedingungen für Finanzhilfen. Siehe dazu unsere aktuelle Materialsammlung „Versuchtes Comeback von Hariri feuert Proteste im Libanon erneut an“ vom 18. Dezember 2019 – worin auch die internationalen Unterstützer des reaktionären Proporz-Systems Thema sind – und den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zum Libanon:

„Versuchtes Comeback von Hariri feuert Proteste im Libanon erneut an“

18. Dezember 2019

„Erneute Proteste im Libanon“ am 16. Dezember 2019 bei der Deutschen Welle externer Link meldet unter anderem: „… Schon am Vorabend waren bei den Konfrontationen dutzende Menschen verletzt worden. Der libanesische Zivilschutz brachte nach eigenen Angaben 36 Menschen ins Krankenhaus und behandelte 54 weitere vor Ort. Das libanesische Rote Kreuz sprach davon, dass 15 Verletzte ins Krankenhaus gebracht worden seien. Auch die Sicherheitskräfte berichteten über Verletzte in ihren Reihen. Am Sonntagabend versammelten sich dann erneut tausende Demonstranten im Stadtzentrum. Die Proteste fanden im Vorfeld von Parlamentsberatungen über die Neubesetzung des Postens des Ministerpräsidenten statt. Ursprünglich sollten diese am Montag beginnen, Präsident Michel Aoun verschob sie jedoch nach den Unruhen auf Donnerstag. Die Demonstranten lehnen eine mögliche erneute Ernennung des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Saad al-Hariri ab. Aus dem Umfeld von Hariri, der noch geschäftsführend im Amt ist, verlautete bereits, dass dieser eine Regierung aus Technokraten anstrebe. Die Bemühungen zur Bildung eines neuen Kabinetts stecken seit Hariris Entscheidung Ende Oktober in einer Sackgasse. Auslöser für die anhaltenden Proteste sind unter anderem steigende Lebenshaltungskosten. „Es gibt keine Arbeit, keine Löhne, kein Geld – nichts“, sagte einer der Demonstranten…“.

„Die Party-Phase ist vorbei“ von Julia Neumann am 16. Dezember 2019 in der taz online externer Link zum Schwenk der Herrschenden Richtung Repression: „… Im Libanon zeigt die politische Führung nun ihr wahres Gesicht. Sicherheitskräfte haben in der Nacht auf Sonntag und Montag Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke gegen Protestierende eingesetzt. Damit wurde deutlich: Die Party-Phase der Revolution ist vorbei. Nach zwei Monaten der Massenproteste gegen die korrupten Politiker möchte der Staat offenbar den Ruf der friedlich Protestierenden ruinieren. Gleichzeitig schürt er Wut und reizt die Geduld der Unzufriedenen aus: Nachdem Ministerpräsident Saad Hariri und seine Regierung bereits am 29. Oktober zurückgetreten waren, wurde die Nominierung eines neuen Regierungschefs immer wieder verschoben. Zunächst hatte man versucht, die Massen mit alternativen Namen ruhig zu stellen – zwei reiche, Hariri-nahe Businessmänner wurden vorgeschlagen. Während Hariri zunächst verkündete, nicht mehr zu kandidieren, steht er nun wieder auf dem Zettel. Auslöser der Gewalt waren die Versuche einiger Protestierender, in das Parlamentsgebäude vorzudringen. Seit dem Morgen des ersten Massenaufstandes am 17. Oktober trennen Soldaten und aufgewickelter Stacheldrahtzaun das Gebäude von dem zentralen Protestplatz in Beirut…“

„Von der Satire  geht es Richtung Tragödie“ von Moritz Baumstieger am 16. Dezember 2019 in der SZ online externer Link zur selben aktuellen Entwicklung unter anderem: „… Was klingt wie der Plot einer Politsatire, ist Realität in Libanon. Saad al-Hariri, als Ministerpräsident abgewählt oder zurückgetreten in den Jahren 2011, 2016, 2017 und zuletzt am 29. Oktober dieses Jahres, sollte am Montag im Beiruter Parlament ein weiteres Mal inthronisiert werden. Dass es dazu dann aber doch nicht kam, lag nicht etwa an einem Einsehen der Führer von Libanons Machtblöcken – sie benötigten schlicht mehr Zeit, um in den Hinterzimmern die Fußnoten ihres neuen Arrangements auszuhandeln. Präsident Michel Aoun verschob die Parlamentssitzung ein weiteres Mal, nun wollen die Abgeordneten am Donnerstag den vierten Versuch unternehmen, über die neue Regierung unter Hariris Führung zu beraten. Mit ihrem Verhalten der vergangenen Tage lieferten die Politiker in Beirut den Demonstranten eine punktgenaue Zusammenfassung, warum sie eigentlich auf die Straße gehen: Viele Bürger fordern ein Ende des Proporzsystems, das die wichtigsten Staatsposten zwischen den verschiedenen Glaubensgruppen verteilt und so seit Ende des Bürgerkriegs einen Macht- und Interessenausgleich im Land bewirken soll. Dadurch, dass ein Sunnit Premier, ein Christ Präsident und ein Schiit Parlamentschef werden muss und sich als Schutzmächte der jeweiligen Gruppen aufspielende Staaten wie Saudi-Arabien und Iran auch bei der Postenvergabe noch mitmischen, ist die politische Willensbildung in Libanon ohnehin erschwert. Dazu kommt, dass sich die Parteienlandschaft nach konfessionellen Linien ausgerichtet hat und die Anführer der jeweiligen Blöcke großteils Klientelpolitik betreiben...“

„Zwei Monate Proteste – Ein Überblick“ von Ginan Osman Mitte Dezember 2019 bei dis:orient externer Link tut ziemlich genau, was der Titel andeutet, einen Überblick über die Entwicklung – und die bisherigen Ergebnisse – der Protestbewegung bieten: „… Die großen und kleinen Erfolge, die enormen Zahlen engagierter Menschen im ganzen Land und der persönliche Austausch auf der Straße führten zu einer kollektiven Euphorie und dem Gefühl, dass Veränderung wirklich möglich sein könnte. Doch diese Euphorie wurde besonders in den vergangenen zwei Wochen des Öfteren getrübt. Immer wieder gab es gewalttätige Angriffe auf die Protestierenden durch Anhänger der etablierten Parteien, die so versuchen, die Proteste zu konfessionalisieren. Diese Auseinandersetzungen häufen sich und werden von Mal zu Mal gewalttätiger. Dazu erfolgen immer wieder und häufig als ungerechtfertigt wahrgenommene Festnahmen Protestierender. Auch die andauernde Wirtschaftskrise hält das Land in Atem. Die libanesische Lira verliert gegenüber dem Dollar immer mehr an Wert, worunter die stark dollarisierte Wirtschaft massiv leidet und zu deutlich spürbaren Preissteigerungen führt. Dies äußerte sich zuletzt auch mit einem erneuten Streik der Tankstellenbetreiber, die seit Beginn der Krise mit dem in Dollar importierten und in Lira verkauften Benzin schwere Verluste verbuchen...“

„Wirtschaftskrise in Libanon: «Die Menschen haben kein Geld, um ihre Familien zu ernähren»“ von Christian Weisflog am 15. Dezember 2019 in der NZZ online externer Link über die wirtschaftliche Entwicklung: „… Womöglich steht das Schwerste noch bevor. Denn momentan hält die Zentralbank die alte wirtschaftliche Realität zumindest noch teilweise künstlich am Leben. Sie versorgt die Importeure von wichtigen Produkten wie Benzin, Medikamenten und Weizen mit billigen Dollar zum offiziellen Wechselkurs. Aber wie lange kann sie dies noch durchhalten? Den billigen Dollar konnte sich Libanon bisher nur leisten, weil die einheimischen Banken mit horrend hohen Zinsen von bis zu 20% die grosse Diaspora dazu verleiteten, ihre im Ausland erarbeiteten Devisen in der Heimat anzulegen. Die Finanzinstitute investierten das Geld jedoch nicht in rentable Wirtschaftszweige, sondern zu einem grossen Teil in hoch verzinste Staatsanleihen. Folglich muss Libanon heute fast die Hälfte seiner öffentlichen Einnahmen für den Schuldendienst aufwenden. Angesichts der strikten Kapitalkontrollen der Banken, für die es keine gesetzliche Grundlage gibt, wird kaum ein vernünftiger Sparer in naher Zukunft mehr frisches Geld in Libanon anlegen. Zu gross ist der Vertrauensverlust. Für den nächsten Frühsommer sei die Hochzeit ihrer in Dubai lebenden Tochter mit 600 Gästen geplant gewesen, erzählt eine Nachbarin. Der in Saudiarabien arbeitende Vater ihres künftigen Schwiegersohnes habe dafür kürzlich 100 000 $ auf ein libanesisches Konto überwiesen. Doch dieses Geld ist nun blockiert, es können keine Anzahlungen für die Räumlichkeiten oder die Event-Planer getätigt werden. «Das Fest wird nun wohl in Zypern stattfinden.»…“

„Libanon: Kurz vor dem System-Kollaps“ von Thomas Pany am 16. Dezember 2019 bei telepolis externer Link hält zur aktuellen Entwicklung fest: „… Im Libanon steht ein System kurz vor dem Zusammenbruch, das hat Auswirkungen auf die Region. Während es hierzulande zwar Meldungen über die Proteste gibt wie am vergangenen Wochenende wird nur spärlich über die Banken- und Finanzkrise berichtet, die das Land an den Rand des Staatsbankrotts gebracht hat. Nicht nur Libanesen, in und außerhalb des Landes, dürfen, um einen desaströsen Bankrun zu vermeiden, nur mehr eine begrenzte Summe vom Geldautomaten ziehen – nach Maßgabe der meisten Banken 200 US-Dollar in der Woche -, abheben oder transferieren (Schecks wurden eingefroren), sondern auch Kunden aus dem Nachbarland Syrien, die ihr Geld im vermeintlich sicheren Nachbarland auf der Bank deponiert haben. Dies betrifft auch eine Vielzahl „normaler Kunden“, nicht etwa nur die Oberschicht, Kriegsgewinnler und Großanleger, die noch darauf hoffen können, dass ihre Anlagen „prioritär“ behandelt werden, weil sie als systemrelevant eingestuft werden. Die anderen müssen um ihre Ersparnisse bangen. Angesichts der ohnehin schon harten US-Sanktionen gegen Syrien, die demnächst, wie aus Washington angekündigt, seitens der USA noch deutlich verschärft werden sollen, steht den Syrern wahrscheinlich ein bitterer Winter bevor. Auch dem Libanon stehen harten Zeiten bevor. Schon jetzt trifft die Krise die Ärmeren hart…“

„Lebanon: Hospital Crisis Endangering Health“ am 10. Dezember 2019 bei Al Jazeera externer Link ist eine Reportage über einen Aspekt der Auswirkungen der Krise auf das Alltagsleben der breitesten Teile der Bevölkerung – anhand des Gesundheitswesen, das nahezu nicht mehr existiert…

„Rückkehr der alten Eliten durch die Hintertür“ am 09. Dezember 2019 bei Qatara.de externer Link ist ein Interview von Julia Neumann mit Nizzar Hasan von der Gruppe LiHaggi, in dessen Verlauf er unter anderem zur Reaktion der Regierung ausführt: „… Sie nutzt konterrevolutionäre Strategien: Politiker veröffentlichen zum Beispiel Propaganda gegen Straßensperren, indem Sie Straßensperren mit Grenzübergängen vergleichen. Das bringt das Trauma des Bürgerkriegs zurück, zumal damals Gebiete durch Checkpoints getrennt wurden und Menschen mit einem anderen konfessionellen Hintergrund nicht auf die andere Seite durften. Außerdem gibt es gewalttätige Angriffe auf Protestierende, zum Beispiel kamen Unterstützer der schiitischen Amal und Hisbollah Parteien auf die Straße, um Demonstrantinnen und Demonstranten zu verprügeln oder ihre Zelte anzuzünden. Die Angriffe haben nicht nur den Zweck, Protestierende abzuschrecken, sondern auch Anhänger dieser Parteien, damit sie sich den Aufständischen nicht anschließen. Gleichzeitig versuchen die politischen Kontrahenten dieser beiden Parteien, die Bewegung zu kooptieren, indem sie sich den Protesten anschließen. Das schafft die Idee von Rivalitäten auf den Straßen und zerstört den Eindruck eines geeinten Aufstands gegen das Establishment...“

„Réunion internationale à Paris pour aider le Liban à sortir de la crise“ am 11. Dezember 2019 bei Radio France Internationale externer Link berichtet vom Pariser Treffen jener Regierungen mit der des Libanon, die Finanzhilfen geben sollen, um die Krise zu überwinden. Wer die Freunde der Regierung sind wird dann schon anhand der Aufzählung der Mitglieder dieser Unterstützungsgrippe deutlich: Neben Frankreich selbst, das die Gruppe nicht zufällig koordiniert, sind dies die VR China, die BR Deutschland, Ägypten, VAE, USA, Italien, Vereinigtes Königreich, Russische Föderation, die EU, der IWF, die Europäische Investitionsbank und ähnlich volksfreundliche Organisationen…

„Líbano. Fracasa el plan estadounidense“ von einem Herrn Elijah J. Magnier am 11. Dezember 2019 bei Resumen Latinoamericano externer Link weiß zu berichten, dass alle Proteste – bei ihm: „Angriffe auf die traditionellen Führer“ (mit Sieg Heil?) – ein Plan der USA waren. Ein typischer „Querfront-Artikel“, wie es ihn ja international des öfteren gibt, auch in durchaus näher gelegenen Gegenden dieser Welt… Und leider nicht nur extrem peinlich.  Sondern, in seiner Verteidigung ausgerechnet der Hisbollah, offen reaktionär.

 „La movilización popular en Líbano, al igual que la de Argelia, se acrecienta ante las maniobras de continuidad del poder“ am 16. Dezember 2019 bei Clajadep-LaHaine externer Link ist ein Beitrag, der die aktuellen Protestbewegung früher in Argentinien und heute in Chile mit jener im Libanon vergleicht und dabei darauf hinweist, dass der Bewegung im Libanon bisher jene Basis fehle, die die beiden anderen sich geschaffen hatten – nämlich die selbstorganisierten Stadteilversammlungen als Kern der jeweiligen Bewegung.

„Depuis Beyrouth, comprendre le mouvement Libanais“ am 09. Dezember 2019 bei lundi matin externer Link (Ausgabe 220) ist ebenfalls ein Gespräch – mit Besuchern des Libanon über ihre Eindrücke, wobei sie etwa zur Entwicklung von der ursprünglichen Hauptform des Protestes, den Straßenblockaden (eigentlich eine Aktionsform jener Milizen, die das System verteidigen) hin zur Besetzung und Blockade von Gebäuden und Behörden ausführen, dies sei weniger aus Angst vor den Angriffen der Milizionäre geschehen und mehr aufgrund der Debatten mit der allgemeinen Bevölkerung, die ohnehin schon unter dem „nichts geht mehr“ zu leiden habe. Die Bewegung lege zentralen Wert darauf, dass niemand, schon gar keine politische Partei in ihrem Namen sprechen könne – und von den traditionellen Parteien befolgten dies nur die traditionelle, eigentlich fast schon verschwundene Nationale Partei – eine bürgerliche Partei, die stets gegen das religiös-politische Proporz-System war und die KP Libanon.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=159562
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