»Wer reproduziert die Logistik?« – Arbeitsteilung auf der »letzten Meile«

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitWas für die industrielle Revolution galt, gilt auch für die logistische: keine Produktion ohne Reproduktion. Logistik, so schreibt auch Anne Engelhardt, ist »immer auch ein Scharnier zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen privatem und öffentlichem Leben« (2018: 3). So richtig das ist, so unübersehbar ist auch, dass erstere Perspektive – die der Produktion – in bisherigen Debatten über die Logistik meist vorherrscht. Nicht umsonst ist es die fordistische Fabrik und ihre sinnbildliche Ausweitung über den gesamten Erdball, vor deren Hintergrund die Entstehung der Logistik meist erzählt wird (Cowen 2014; Namberger 2018). Diese »globale Fabrik« spannt ein weit gefächertes und kaum zu überblickendes Netzwerk an menschlicher und maschineller Arbeit auf, das von Extraktionsstätten im globalen Süden über transkontinentale Transportwege zu Land, Wasser und Luft, Häfen und Containerhubs, Distributionszentren und Endfertigungshallen bis in die urbanen Konsumzentren des globalen Nordens führt. (…) Auffällig ist, dass in bisherigen Debatten über »die« Logistik jener Teilbereich kapitalistischer Gesellschaften, in dem die wohl speziellste aller kapitalistischer Waren – menschliche Arbeitskraft – sowohl »hergestellt« als auch mit Zuneigung, Liebe und Fürsorge tagtäglich wieder fit gemacht wird, nur äußerst selten auftaucht: die Sphäre der Reproduktion. (…) Die Wette, die Unternehmen der Logistik und Gig Economy eingehen und deren Ausgang keineswegs entschieden ist (siehe etwa die anhalten Milliardenverluste von Uber oder den kompletten Rückzug des Essenslieferanten Deliveroo aus dem deutschen Markt), besteht darin, die letzte Meile trotz aller Unwägbarkeiten zu einem Profitgeschäft machen zu können. Ob das gelingt, wird nicht zuletzt davon abhängen, konkrete Kämpfe nicht auf einen der beiden Pole von Produktion und Reproduktion zu beschränken, sondern – ganz im Gegenteil – diese Kämpfe so weit wie möglich zusammen zu denken und zu -führen…“ Artikel von Fabian Namberger, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 12/2019

Wer reproduziert die Logistik?

Arbeitsteilung auf der »letzten Meile« – Von Fabian Namberger*

Was für die industrielle Revolution galt, gilt auch für die logistische: keine Produktion ohne Reproduktion. Logistik, so schreibt auch Anne Engelhardt, ist »immer auch ein Scharnier zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen privatem und öffentlichem Leben« (2018: 3). So richtig das ist, so unübersehbar ist auch, dass erstere Perspektive – die der Produktion – in bisherigen Debatten über die Logistik meist vorherrscht. Nicht umsonst ist es die fordistische Fabrik und ihre sinnbildliche Ausweitung über den gesamten Erdball, vor deren Hintergrund die Entstehung der Logistik meist erzählt wird (Cowen 2014; Namberger 2018). Diese »globale Fabrik« spannt ein weit gefächertes und kaum zu überblickendes Netzwerk an menschlicher und maschineller Arbeit auf, das von Extraktionsstätten im globalen Süden über transkontinentale Transportwege zu Land, Wasser und Luft, Häfen und Containerhubs, Distributionszentren und Endfertigungshallen bis in die urbanen Konsumzentren des globalen Nordens führt. Analytisch wurden diese globalen Vernetzungen etwa als »supply chain capitalism« (Tsing 2009) gefasst, der eine allzu scharfe Abgrenzung (in empirischer, aber auch analytischer Hinsicht) zwischen den Sphären der Produktion, Distribution und Zirkulation zunehmend in Frage stellt (Bernes 2013; Cowen 2014; Toscano 2014).

Zugleich ist die Logistik von tiefen Differenzen, Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten durchzogen. Logistische Netzwerke verbinden Industriezweige und -sektoren, die zum Teil von ganz eigenen Widersprüchen geprägt sind und deren lokale Eigendynamiken (rassialisierte und vergeschlechtlichte Arbeitsteilungen, nationale und regionale Gesetzgebungen, Engpässe an Arbeitskräften und Rohmaterialien, Automatisierungsprozesse, Arbeitskämpfe etc.) eigene Aufmerksamkeit verdienen. Der logistische Teilbereich, der mich im Folgenden hauptsächlich beschäftigen wird, ist die Wegstrecke der »letzten Meile« und, eng mit ihr verbunden, die sogenannte »Gig Economy«. Unabhängig davon, ob nun globale logistische »Fluidität« oder sektor-spezifische »Eigendynamik« im Vordergrund stehen: Auffällig ist, dass in bisherigen Debatten über »die« Logistik jener Teilbereich kapitalistischer Gesellschaften, in dem die wohl speziellste aller kapitalistischer Waren – menschliche Arbeitskraft – sowohl »hergestellt« als auch mit Zuneigung, Liebe und Fürsorge tagtäglich wieder fit gemacht wird, nur äußerst selten auftaucht: die Sphäre der Reproduktion.

Diese Leerstelle irritiert. Ist es doch gerade die Schnittstelle zwischen Produktion und Reproduktion, an der Nancy Fraser einen der grundlegenden Widersprüche des gegenwärtigen Kapitalismus findet: Einerseits, so die Sozialphilosophin, »stellt die soziale Reproduktion eine Möglichkeitsbedingung anhaltender Kapitalakkumulation dar; andererseits tendiert die Ausrichtung des Kapitalismus auf ungezügelte Akkumulation dazu, genau diesen Prozess der sozialen Reproduktion, auf den er angewiesen ist, zu destabilisieren« (2017: 22; Übers. FN). Wie, so meine Frage in diesem  Beitrag, gestaltet sich dieser Widerspruch im Rahmen der Logistik und insbesondere auf der »letzten Meile«? Wo finden wir jene Berührungs- und Kreuzungspunkte, die auf ein (aller Voraussicht nach zutiefst konfliktreiches und widersprüchliches) Zusammenspiel von logistischer Produktion und (zunehmend professionalisierter) Reproduktion hindeuten? Lässt sich unter Einbeziehung der Sphäre der Reproduktion vielleicht sogar eine umfassendere Kartierung der logistischen Revolution erstellen, als es die vieldiskutierte Begriffskette von Produktion-Distribution-Zirkulation zulässt? Eine Landkarte, die dem – letztlich nicht einzulösenden, aber dennoch unumgänglichen – Anspruch auf eine »Totalisierung« der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse möglicherweise weitaus gerechter wird (Bhattacharya 2017; Weeks 2018: 97-98)?

Wo beginnt die Logistik?

So präsent die Wirtschaftslogistik in unserem Alltag heute ist, so ambivalent, fragmentiert und vielschichtig gestaltet sich ihre historische Entstehung (Altenried et al. 2017: 21; Cowen 2014: 25-30; Harney/Moten 2012). Deborah Cowen, die eine der umfassendsten Genealogien der Logistik liefert, sieht ihre Ursprünge im Bereich der militärischen Strategieführung und Nachschuborganisation. Von den griechischen und römischen Weltreichen, Chinas Kaiserreich, über Napoleons Feldzüge bis hin zur industriellen Kriegsführung des 20. Jahrhunderts: Die tagtägliche Versorgung von Truppen und ihrer Lastentiere mit Essen und anderen überlebenswichtigen Artikeln war seit jeher eine logistische Herausforderung, die über Sieg und Niederlage entscheiden konnte und dies auch oft tat. Eine Armee, wie Napoleon wusste, »marschiert auf ihrem Magen« (zitiert in Cowen 2014: 27). Kein Zufall also, dass es auch Napoleon war, der eine Belohnung für die Entwicklung eines zuverlässigen Konservierungsverfahrens für Truppenrationen aussetzte und damit zu Nicolas François Apperts Erfindung der Metallkonserve beitrug. Auch während des ersten Weltkriegs und dem tiefgreifenden Wandel hin zu industrieller Kriegsführung blieb die Versorgungsfrage zentral, was Cowen wiederum mit einem Zahlenbeispiel unterstreicht. So war die »größte Menge an Material, die während des ersten Weltkriegs vom Vereinigten Königreich nach Frankreich verschifft wurde, nicht Munition (5.253.538 Tonnen), sondern Haferflocken und Heu für Pferde (5.438.602 Tonnen)« (Cowen 2014: 29). Spätestens zum Zeitpunkt des ersten Weltkriegs, so Cowens Fazit, war die Logistik zu dem aufgestiegen, was sie bis heute ist: der Königsdisziplin militärischer Strategieführung.

Was Cowen als militärische Ursprungsform der Logistik beschreibt – die sorgsam koordinierte Versorgung von Soldaten mit Essen, Kleidern und anderen überlebenswichtigen Artikeln – ließe sich etwas allgemeiner auch als reproduktiver Ausgangspunkt der Logistik verstehen. Ein Ausgangspunkt, der sich – ähnlich wie die Logistik als Ganzes – nach und nach von seinen militärischen Ursprüngen löst und sich zunehmend in den Bereich der zivilen Logistik ausweitet. Dorothy E. Smith liefert, wenn auch in anderem Kontext und sicherlich unfreiwillig, einen weiteren Hinweis. Mit Blick auf den westlichen Nachkriegskapitalismus und sein männliches Ernährer-Modell schreibt sie: »Unter dem traditionellen Gender-Regime (…) ist es eine Frau, die den Haushalt für ihn führt, sich um seine Kinder kümmert, seine Kleider wäscht, sich um ihn kümmert, wenn er krank ist und allgemein Vorsorge für die Logistik seiner körperlichen Existenz trifft« (Smith 1990: 18; Übers. FN). Könnte es sein, dass die Sphäre der Reproduktion – und, in ihrer spezifisch fordistischen Verdichtung, der »private« Haushalt – schon immer Teil der Logistik waren?

Zwischen »commodity chains« und »global care chains«

Ein möglicher, wenn auch sicherlich nicht der einzige, Ansatzpunkt für eine Antwort auf diese Frage könnte im Begriff der sogenannten »global care chain« liegen. Denn mit der Krise des fordistischen Nachkriegsregimes kam es nicht nur zu einer Ausweitung und Beschleunigung globaler Lieferketten (Danyluk 2017), sondern auch zu einer zunehmenden Globalisierung vormals national organisierter Reproduktionsregime. Frauen in westlichen Industrienationen, die zunehmend, und keineswegs immer freiwillig, ihre Arbeitskraft in schlecht bezahlten Dienstleistungs- und Sorgeberufen gegen Lohn eintauschten, hatten keine Zeit mehr, sich nebenher noch um die Bedürfnisse von Mann, Eltern, Kindern und – wer wage es, daran zu denken – sich selbst zu kümmern. Vielmehr riss der massenhafte weibliche Einstieg in die Lohnarbeit ein »care gap« in das bröckelnde Gerüst des fordistischen Nachkriegskapitalismus. Eine Lücke, die wohl oder übel gefüllt werden musste.

Der Knackpunkt dabei: Eine nennenswerte Unterstützung von männlicher Seite blieb aus, so dass die Aussicht auf eine gendergerechte Arbeitsteilung im Haushalt in weiter Ferne verblieb: »Nahezu alle Studien«, so Brigitte Young Anfang der Jahrtausendwende, »zeigen, dass trotz der zunehmenden Integration von Frauen in die ArbeiterInnenschaft Männer keineswegs zu gleichen Teilen die Lasten der Hausarbeit übernommen haben – insbesondere in Deutschland, wo Ehemänner und Väter, im Vergleich zum Rest Europas, beinahe am wenigsten dazu bereit sind, Haushaltspflichten zu übernehmen« (Young 2001: 319).

Statt Männern füllten weibliche MigrantInnen die klaffende Versorgungslücke. Auch wenn die weibliche »Doppelschicht« in Beruf und zu Hause damit keine Seltenheit blieb: Wer es sich leisten konnte, reichte die familiäre Sorgearbeit, oder zumindest einen Teil davon, an MigrantInnen aus dem globalen Süden oder der ehemaligen Sowjetunion weiter (Young 2001: 319ff.). Auf der Suche nach einem steten Einkommen für ihre eigenen Familien und Kinder sowie einem gewissen Grad an Unabhängigkeit versprach die Emigration in reiche Industriestaaten diesen Frauen eine Perspektive, die ihre Heimatländer oftmals nicht bieten konnten. Für diese transnational vergeschlechtlichte und rassialisierte Arbeitsteilung prägte Arlie Russel Hochschild (2000) den Begriff der »global care chain« (globale Sorge-Kette). Die sprachliche Nähe zum lo­gistischen Paradigma der »global supply chain« (globale Lieferkette) kommt nicht von unge­fähr, sondern verweist auf eine, auch in ihrer historischen Entstehung enge Verwo­ben­heit von logistischer Produktion und teils profes­sionalisierter Reproduktion.

In diesem Sinne bleibt Wilma A. Dunaways Plädoyer für ein konsequentes Zusammendenken von Waren-Ketten einerseits und Sorge-Ketten andererseits auch für heutige Debatten aktuell: »Wir müssen jeden Knotenpunkt der Warenkette im Alltagsleben der ArbeiterInnenhaushalte verankern. Dazu müssen wir Warenketten zuallererst als ein Netzwerk an Knotenpunkten verstehen, an denen menschliche ArbeiterInnen und natürliche Ressourcen (a) direkt ausgebeutet werden und/oder (b) indirekt ausgebeutet werden, um (c) die Mehrwertextraktion für einige Wenige zu ermöglichen« (Dunaway 2001: 11; Übers. FN).

Dunaway schrieb diese Zeilen nicht mit Blick auf das heute tonangebende Stichwort der logistischen Revolution, sondern in Bezug auf die  Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins. An ihr, ebenso wie an Analysen zu globalen Warenketten (Gereffi/Korzeniewicz 1994), entzündete sich eine Vielzahl an feministischen Interventionen und Kritikperspek­tiven, die zwar schon etwas älter, aber keineswegs veraltet sind (Hochschild 2002; Yeates 2004).

Kapitalistische Landnahme 4.0? Die letzte Meile

Ein Knotenpunkt im Sinne Dunaways findet sich auf der Wegstrecke der sogenannten letzten Meile. Diese beläuft sich, wie der Name schon sagt, zwar meist nur auf wenige Kilometer (und damit nur auf einen Bruchteil der gesamten Lieferkette). Dennoch ist die letzte Meile für einen überproportional hohen Teil der Gesamtkosten logistischer Lieferketten verantwortlich. Das hat mehrere Gründe (Lopez 2017): Zum einen forciert der Boom des Internethandels einen Trend zu kleinteiligen Individualbestellungen (inklusive häufiger Retouren-Sendungen), die in immer kürzeren Taktungen erwartet werden: Während drei Tage bis vor einigen Jahren noch als akzeptabler Industriestandard galten, verspricht Amazon an ausgewählten Standorten bereits Lieferzeiten von unter zwei Stunden (Abrams Kaplan 2017). Hinzu kommt, zweitens, und im Gegensatz zu den meist festgelegten Standardrouten im Flug-, Schiffs-, LKW- und Bahnverkehr, die enorme Routenflexibilität auf der letzten Meile. Der optimale Verlauf einer Auslieferungstour will hier jedes Mal aufs Neue möglichst zeit- und kostensparend koordiniert werden. Drittens sind es die nahezu unendlichen Unwägbarkeiten des urban verdichteten Alltagslebens – notorischer Platzmangel, Stau in Ballungszentren, Umwelt- und Lärmauflagen – die eine zuverlässige Zeit- und Kostenkalkulation zusätzlich erschweren. Die letzte Meile gilt nicht umsonst als urbanes Nadelöhr der Logistik, das Lieferdienste aller Art – von logistischen Drittanbietern wie DHL, UPS oder FedEX bis hin zu innerstädtischen Lieferangeboten wie Lieferando, Bringmeister oder Uber(Eats) – vor erhebliche Schwierigkeiten stellt (Altenried 2019; Cowen 2014: Kap. 5). Es ist die sogenannte Gig Economy, die auf der letzten Meile besonders tiefgreifend in die herrschende Ordnung zwischen Produktion und Reproduktion eingreift.

Fahr- und Lieferdienste wie Uber knüpfen einerseits an etablierte und zutiefst vergeschlechtlichte Grenzen zwischen direkt produktiver Lohnarbeit und indirekt produktiver Reproduktionsarbeit an. Zugleich verschieben und verwischen sie diese Grenzen jedoch auch.[1] Zwei Tendenzen fallen besonders auf.

Erstens lässt sich mit Blick auf Personentransport festhalten, dass App-basierte Fahrdienste wie Uber in überwältigendem Maß mit männlichen Arbeitskräften – sprich: Fahrern – besetzt sind. Hier setzt sich fort, was im Taxigewerbe schon lange zu beobachten war: die Ausbeutung meist männlicher und oft migrantischer Arbeitskräfte, die enorm prekäre, direkt produktive Lohnarbeit leisten. Auch wenn detaillierte empirische Studien hier leider noch Mangelware sind, stellt sich die Frage, wer diese Fahrer nach getaner Arbeit sowohl in physischer als auch psychischer Hinsicht wieder aufrichtet und ob unter dem Geschäftsmodell »Uber« nicht ein weitgehend verborgener Eisberg an feminisierter, indirekt produktiver Reproduktionsarbeit liegt, von dem in Diskussionen über die Gig-Economy meist nur die Spitze – nämlich: männlich-prekäre Lohnarbeit – sichtbar wird. So fortschrittlich, gender-gerecht und weltoffen sich Silicon-Valley-Firmen wie Uber auch geben, die zutiefst vergeschlechtlichte und rassialisierte Arbeitsteilung, die diesem und ähnlichen Unternehmen zugrunde liegt, sollte mehr als skeptisch machen.

Zweitens greifen Uber und Konsorten auch mit Blick auf Güter- und Warentransport in die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung der letzten Meile ein. So war es im massenmotorisierten fordistischen Nachkriegsregime oft die Aufgabe von Hausfrauen, mit dem Privatauto ins nächstgelegene Einkaufszentrum zu fahren, um Essen, Kleidung und all das zu kaufen, was für die Versorgung der Familie nötig war. Transportarbeit auf der letzten Meile war im Fordismus fester, wenn auch nicht ausschließlicher Bestandteil der feminisierten und weitgehend unbezahlten Sphäre der Reproduktion (Schwartz Cowan 1983: 79-85). Wenn Lieferdienste wie UberEats oder Bringmeister heute versprechen, Lebensmittel und Restaurantbestellungen direkt an unsere Haustüren zu liefern, dann lässt sich die Gig Economy auch als avisierte industrielle Einverleibung vormals unbezahlter, weiblicher Reproduktionsarbeit verstehen. Rosa Luxemburg wies schon vor mehr als hundert Jahren darauf hin, dass der Kapitalismus auf die diversen Gebiete eines »nichtkapitalistischen Außen« (in diesem Fall: unbezahlte Reproduktionsarbeit) angewiesen ist: »Die Akkumulation«, so Luxemburg, »ist nicht bloß ein inneres Verhältnis zwischen den Zweigen der kapitalistischen Wirtschaft, sondern vor allem ein Verhältnis zwischen Kapital und dem nichtkapitalistischen Milieu« (1990: 364; Soiland 2018). Die Gig Economy lässt sich mit Luxemburg als kapitalistische Landnahme 4.0 verstehen, die die Grenzen zwischen Produktion und Reproduktion, bezahlter und unbezahlter, maskulinisierter und feminisierter Arbeit neu aushandelt.

Sicherlich: Noch immer sind es KundInnen, die (unbezahlte) Arbeitszeit darauf verwenden, Bestellungen bei der nächsten Poststelle oder Packstation abzuholen und Unternehmen so einen Teil ihrer Kosten abnehmen. Genauso sind die Geschäftsmodelle von Lieferdiensten wie Lieferando geradezu darauf ausgelegt, die Kosten der letzten Meile anihre schlecht bezahlten (schein-)selbstständigen »MitarbeiterInnen« weiterzureichen, die ihr Arbeitsgerät (sei es Fahrrad oder Privatauto) in aller Regel selbst stellen und zugleich für Instandhaltungs- und Versicherungskosten aufkommen müssen. Im breiteren historischen Längsschnitt lässt sich dennoch ein Wandel erkennen. Sein Ausgangspunkt liegt weder in der Fabrik noch im »privaten« Haushalt alleine, sondern vielmehr im gegenseitigen Zusammen- und Widerspiel von produktivem »Innen« und reproduktivem »Außen«, von direkt produktiver Lohnarbeit einerseits und indirekt produktiver, unbezahlter Reproduk­tionsarbeit andererseits (Soiland 2018).

Konsequenzen für die Praxis

Was lässt sich aus diesem Blickwinkel auf die letzte Meile lernen? Vielleicht zunächst nur so viel: Der heutige Versuch verschiedener Tech- und Logistikunternehmen, die letzte Meile (oder zumindest Teile davon) zum Ort direkter Wertschöpfung zu machen, erscheint aus dieser Perspektive als ein potenzieller Umschlagpunkt in der Geschichte der letzten Meile: einer, der die etablierten Grenzen zwischen Produktion und Reproduktion und der damit einhergehenden vergeschlechtlichten Arbeitsteilung in Frage stellt. Die Wette, die Unternehmen der Logistik und Gig Economy eingehen und deren Ausgang keineswegs entschieden ist (siehe etwa die anhalten Milliardenverluste von Uber oder den kompletten Rückzug des Essenslieferanten Deliveroo aus dem deutschen Markt), besteht darin, die letzte Meile trotz aller Unwägbarkeiten zu einem Profitgeschäft machen zu können. Ob das gelingt, wird nicht zuletzt davon abhängen, konkrete Kämpfe nicht auf einen der beiden Pole von Produktion und Reproduktion zu beschränken, sondern – ganz im Gegenteil – diese Kämpfe so weit wie möglich zusammen zu denken und zu -führen. Logistik, um zu Engelhardts einleitenden Worten zurückzukehren, »verbindet nicht nur unterschiedliche Punkte der Produktion und Reproduktion des Kapitals miteinander, sondern damit auch gleichzeitig die Kämpfe um diese Bereiche« (2018: 3).

Artikel von Fabian Namberger, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 12/2019

*  Fabian Namberger setzt sich in seiner sozialwissenschaftlichen Forschung mit Uber & Co. auseinander.

Die ausführliche Literaturliste kann über die Redaktion bezogen werden.

Anmerkung:

  • Diese – zugegebenermaßen etwas holzschnittartige – Gegenüberstellung von direkt produktiver und indirekt produktiver Arbeit ließe sich noch vielfach genauer ausdifferenzieren. Ursula Huws (2014: Kap. 7; 2019: Kap. 2) etwa unterscheidet bis zu sechs Unterkatego­rien gegenwärtiger Arbeitstypen.

express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=159510
nach oben