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Was die Türkei kann, kann Österreich schon lange: Einen Angriff zusammen basteln – auf Max Zirngast…
Dossier
„… Wohlgemerkt: Hier saß ein österreichischer Staatsbürger unter offensichtlich abstrusen Vorwürfen in der Türkei im Gefängnis. Wir gingen davon aus, dass schlicht Desinteresse vorherrschte und konnten über die Gründe dessen nur spekulieren. Eventuell war Max einfach „zu unbekannt“, „zu aktivistisch“, „zu links“. Die ehemalige Außenministerin Karin Kneissl mahnte vor einem „mediale[n] Hochspielen“, das sei kontraproduktiv, man müsse die Methode einer ominösen „stillen Diplomatie“ verfolgen. So weit bekannt. Aber es kommt schlimmer, als wir damals ahnen konnten. Die österreichischen Behörden setzten sich nicht nur nicht konsequent genug im Sinne Max Zirngasts ein – im Gegenteil: Sie gingen regelrecht gegen Max Zirngast vor! Es folgt die Geschichte eines handfesten Skandals. Anfang November 2019 erhält Max Zirngast einen überraschenden Brief von der Staatsanwaltschaft Graz, datiert auf den 29. Oktober 2019. In ihm wird er darüber benachrichtigt, dass ein gegen ihn von der Staatsanwaltschaft Graz geführtes Verfahren mit dem Aktenzeichen 25 St 33/18p eingestellt wurde – „WEGEN: § 278 (b) StGB“, also ein Verfahren wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Gemeinsam mit Max lachen wir darüber, versuchen, aus Spaß heraus zu raten, welcher Troll aus Wien, der der türkischen Regierung nahesteht, mal wieder zu übereifrig war. Wir sehen das eingestellte Verfahren als eine weitere Anekdote eines ganzen Jahres der Unwägbarkeiten. Doch wir täuschen uns gewaltig. Als Max am 14. November Akteneinsicht bekommt, läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken: Es ist nicht ein AKP-Troll, der ein unsinniges Verfahren gegen ihn angeleiert hat. Es ist die Staatsanwaltschaft Graz selbst, die eigeninitiativ ein Verfahren gegen Max Zirngast eingeleitet und über Monate hinweg gegen ihn „ermittelt“ hat...“ – aus dem Bericht „Ein handfester Skandal. Die österreichischen Behörden und der Fall Max Zirngast“ am 10. Dezember 2019 bei der Kampagne Free Max Zirngast über den Parforce-Ritt der Staatsanwaltschaft der Stadt Graz, die bisher nicht in der Türkei lag. Siehe dazu einen weiteren Beitrag zu den erklärten Motiven der Staatsanwaltschaft und einen Beitrag mit Schlussfolgerungen einer Magazin-Redaktion aus ihrer Bewertung durch den Verfassungsschutz (samt Kritik an deren Lesekompetenz) und das weitere Vorgehen:
- Das Ende einer Schützenhilfe [Österreichs für die Türkei]
„Wie bekannt war Max Zirngast nicht nur in der Türkei wegen „Terrors“ angeklagt und im Gefängnis. Die Oberstaatsanwaltschaft Graz fühlte sich ebenfalls bemüßigt, ganz nach der Devise „doppelt hält besser“ parallel zum Verfahren in der Türkei auch in Österreich ein Terrorverfahren gegen Max Zirngast zu eröffnen. Im Zuge dieses Verfahrens, das auf den absurden Beschuldigungen der türkischen Willkürjustiz und einem nichtssagenden BVT-Bericht basierte, wurden zwei Rechtshilfeersuchen an das zuständige Gericht in der Türkei gestellt, in denen nahegelegt wurde, dass auch in Österreich Erkenntnisse gegen Max Zirngast vorlägen. Eingestellt wurde das Verfahren erst, nachdem Max und die anderen Mitangeklagten in der Türkei von allen Beschuldigungen freigesprochen worden waren. Die österreichischen Behörden sahen weiters keine Notwendigkeit Max über das Verfahren zu informieren: Er erhielt erst nach der Einstellung des österreichischen Verfahrens Kenntnis darüber, dass es überhaupt eines gegeben hatte. Gegen dieses Vorgehen hatte Max mit seinem Anwalt Clemens Lahner Ende letzten Jahres Einspruch erhoben. (…) Nachdem das Landesgericht Graz in einem Beschluss vom 31. März 2020 den Einspruch abgelehnt hatte, legten Max und sein Rechtsanwalt Lahner eine Beschwerde gegen diesen Beschluss ein. Mit 17. August hat nun das Oberlandesgericht Graz dieser Beschwerde recht gegeben und festgehalten, dass Max durch das Verfahren in Graz in seinen subjektiven Rechten verletzt wurde. (…) Zum Abschluss der Causa Max Zirngast und dieses kleinen Justizskandals möchten wir als Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast nur mehr hervorheben: Die politisierte Justiz in der Türkei wird als Waffe seitens des Regimes von Erdoğan genutzt, um Oppositionelle mundtot zu machen oder sie einzusperren. Diese macht auch keinen Halt vor ausländischen Staatsbürger*innen. Trotzdem zögern europäischen Staaten immer noch oft genug, sich klar für ihre betroffenen Staatsbürger*innen einzusetzen. Viel zu oft wird Appeasement betrieben, teils sogar der Willkürjustiz in der Türkei zugearbeitet. Auch seitens Österreichs. Die europäische Justiz und die europäischen Regierungen sollten nicht mehr mit der türkischen Justiz kooperieren, wo es um die Unterdrückung von Oppositionellen und abweichenden Meinungen geht. Sondern sie sollten klar machen, dass sie dieses Spiel nicht mehr mitmachen und sich für die Rechte ihrer Staatsbürger*innen einsetzen. Wir hoffen, die Causa Max Zirngast und der jetzt erfolgte Beschluss des OLG haben einen kleinen, bescheidenen Beitrag hierzu geliefert.“ Meldung vom 28. August 2020 von und bei FreeMaxZirngast.org , siehe auch unser Dossier: Türkei: Akte unter Verschluss. Auch nach drei Monaten keine Anklage gegen Journalist Max Zirngast – nun im April 2019 schon - Grazer Staatsanwaltschaft weiter im Sinne des Erdogan-Regimes aktiv – Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast kritisiert Schützenhilfe aus Graz
„… Auf die Kritik an diesem Vorgehen und an ihren Quellen geht die Staatsanwaltschaft kaum ein. Der erfolgte Freispruch nach einem Jahr wird sogar als Indiz für die Unabhängigkeit der türkischen Justizbehörden gesehen. So heißt es, ihnen »kann im übrigen nicht von vornherein jegliche Unabhängigkeit abgesprochen werden, was sich letztlich auch an dem vom türkischen Staatsanwalt beantragten und vom türkischen Gericht gefällten – von österreichischen Medien als ›überraschend‹ bezeichneten (…) – freisprechenden Urteil zeigt«. Die Stellungnahme enthält zudem weiterhin Verweise auf die Organisationen »TKP/ML« und »TIKKO«, als deren Abspaltung die »TKP/K« gelten soll. Beide tauchten im türkischen Verfahren nicht auf, Zirngast wurde dort angeklagt wegen Mitgliedschaft in der »TKP/K«. Die Verbindung zu oben genannten Organisationen entsprang nachweislich einer weiter nicht begründeten Spekulation des österreichischen Geheimdienstes. In einer ausführlichen ersten Analyse bescheinigte die Solidaritätskampagne Free Max Zirngast der Grazer Staatsanwaltschaft, »Schützenhilfe für die türkische Willkürjustiz« zu leisten. Dass bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens in Österreich nicht einmal der Versuch unternommen wurde, Zirngast über das laufende Verfahren zu informieren, zeuge von der Gleichgültigkeit gegenüber seinen Rechten und Interessen. Die Rede von der »Unabhängigkeit der Justiz« in der Türkei setze dem aber die Krone auf…“ – aus dem Beitrag „»Schützenhilfe für Willkürjustiz«“ von Alp Kayserilioglu am 17. Januar 2020 in der jungen welt worin auch der offiziell eingelegte Einspruch gegen dieses Vorgehen Thema ist – und dessen grundsätzliche Bedeutung. Siehe dazu die ausführliche Analyse der Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast vom 16. Januar 2020 - Nach der massiven Kritik an ihrem Vorgehen gegen Max Zirngast versucht die Staatsanwaltschaft Graz, sich zu verteidigen: Erfolglos
„… Nachdem am Dienstag die österreichische Wochenzeitung Falter und die Solidaritätskampagne »#FreeMaxZirngast« über Terrorermittlungen gegen den jW-Autoren Max Zirngast in Österreich berichtet hatten, meldete sich auch die ermittelnde Staatsanwaltschaft Graz zu Wort. Die Vorwürfe eines »skandalösen Vorgehens« seien »an den Haaren herbeigezogen«, so der Sprecher der Staatsanwaltschaft Hansjörg Bacher gegenüber der Nachrichtenagentur APA. Das österreichische Gesetz schreibe vor, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden muss, wenn ein Österreicher im Ausland unter Verdacht stehe, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Übermittlung eines Verdachtes auf Mitgliedschaft in der TKP/ML an die türkischen Behörden sei nicht erfolgt, man habe alles im Konjunktiv formuliert und nur um die Übermittlung von Aktenteilen gebeten. Ganz normales Vorgehen also. Die Solidaritätskampagne »#FreeMaxZirngast« reagierte empört. Über den Kurznachrichtendienst Twitter teilte sie mit, dass sie unter Bezugnahme auf die Ermittlungsakten daran festhalte, dass die Staatsanwaltschaft Graz den Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation an die türkischen Behörden weitergeleitet und dabei unter anderem die TIKKO erwähnt habe. TIKKO ist die angebliche Guerillaarmee der TKP/ML. Beide Organisationen tauchen in der türkischen Anklage nicht auf…“ – aus dem Beitrag „Ganz normale Willfährigkeit“ von Alp Kayserilioglu am 14. Dezember 2019 in der jungen welt über diese bereits jetzt gescheiterten Versuche der staatsanwaltschaftlichen Selbstverteidigung - „Blindes Vertrauen in die türkische Justiz“ von Svenja Huck am 10. Dezember 2019 in neues deutschland online fügt noch folgende bezeichnende Information über die Vorgehensweise dieser nicht nur seltsamen Staatsanwälte hinzu: „… Die Ermittlungen in Österreich basierten somit auf haltlosen Spekulationen. Dennoch beauftragte die Oberstaatsanwaltschaft Graz am 26. November 2018 die Staatsanwaltschaft mit der Einleitung eines Verfahrens wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Der entscheidende Anlass hierfür waren offenbar nicht die Recherchen der Botschaft oder des Verfassungsschutzes, sondern die Entscheidung des 4. Amtsgerichts für Strafsachen in Ankara, wonach Zirngast wegen »starken Verdachts« der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation am 20. September 2018 in Untersuchungshaft kam. Die Oberstaatsanwaltschaft Graz schrieb, dass selbst »der Umstand nichts zu ändern vermag, dass sich die Vereinigung, an der sich Max Zirngast beteiligt haben soll, weder auf einer österreichischen noch einer internationalen Terrorliste findet«. Im Folgenden wand sich die Grazer Staatsanwaltschaft dreimal an das Amtsgericht in Ankara und bat mit einem Rechtshilfeersuchen um die Übermittlung der Akten. Während Zirngast noch im Gefängnis saß, informierte der österreichische Staatsanwalt das türkische Gericht darüber, dass auch in Österreich ein Verfahren laufe, basierend auf dem »Vernehmungsprotokoll der türkischen Strafverfolgungsbehörden und auch der bisherigen Ermittlungen der österreichischen Kriminalpolizei«…“
- „„wenig verbreitet oder bekannt, pro-kurdisch““ am 10. Dezember 2019 beim re:volt Magazin zum Vorgehen österreichischer Behörden, das als eine Art Lob bewertet wird: „… Welche Umstände fanden wir nun vor? Ein kleines Nikolausgeschenk an uns, versteckt in den Akten des österreichischen Verfahrens gegen Max! Darin wurde uns der Ruhm und die Ehre zuteil, von einem angesichts seiner Leistungen offensichtlich extrem überbezahlten österreichischen Inlandsgeheimdienst mit folgenden Worten gewürdigt zu werden: „… dass das Magazin Re:volt linksorientiert ist. Ihre Slogans lauten unter anderem Rebellion! Widerstand! Freiheit! Ihre Ideologie ist Internationalismus, Sozialismus und Marxismus. Prokurdisch. Die Artikel bzw. das Medium ist wenig verbreitet oder bekannt.“ In einer Sondersitzung, die wir als Redaktion nach Kenntnisnahme dieser Zuschreibungen einberiefen, versuchten wir herauszufinden, woher zur Hölle das BVT eigentlich auf die Idee kam, dass wir einen Slogan hätten und dass der dann auch noch wie eine Kampfparole einer Mitgliedspartei der 4. Internationale klingt (hey Genosskis, nehmt’s nicht persönlich!). Letztlich einigten wir uns auf eine postmoderne Lösung und sagten uns: Wo nichts ist, da kann ja noch was werden! Und hiermit erklären wir öffentlich und in Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung: Ab jetzt soll unser Kampfslogan „Rebellion! Widerstand! Freiheit!“ heißen, er soll unsere wehenden gelb-rot-grünen Fahnen des Internationalismus, Sozialismus und Marxismus schmücken und einst auch auf unseren Gräbern geschrieben stehen. Ansonsten verweisen wir auch noch gerne auf die Leistungen von Menschen, die viel schlechter bezahlt werden als das BVT, dabei aber viel profunderes Wissen zur türkischen Linken besitzen: Ein Blick in das von Nick Brauns und Murat Çakır herausgegebene Buch Partisanen einer neuen Welt. Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung in der Türkei vom letzten Jahr lohnt sich. Darin wird in allen Details die Geschichte der mehreren (!) TKPs, der TKP/ML, der TIKKO, und der vieler, vieler anderer linker Strömungen und Organisationen in der Geschichte der modernen Türkei erzählt (hey BVT, einfach das nächste Mal die paar Euro investieren und mal was wirklich lernen!). Wir haben Auszüge aus dem Buch zu „Doktor“ Hikmet Kıvılcımlı, seinen Nachfolgern und den wenigen Informationen, die die Herausgeber zur TKP/K finden konnten, zusammengetragen und mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber ebenfalls letztes Jahr als Artikel unter dem Titel „Diagnosen eines Doktors – Zur Geschichte einer kommunistischen Tradition in der Türkei“ veröffentlicht. Es wäre so einfach gewesen…“
- Siehe auch unser Dossier: Türkei: Akte unter Verschluss. Auch nach drei Monaten keine Anklage gegen Journalist Max Zirngast – nun im April 2019 schon