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»Es brennt – nicht nur am Amazonas«. Ein Jahr nach Bolsonaros Wahlsieg in Brasilien

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitEin rundes Jahr nach der politischen Zäsur, die der Wahlsieg des rechten Kandidaten Jair Messias Bolsonaro für Brasilien bedeutete, kann man eine Zwischenbilanz ziehen, und dies will ich anhand dreier Ereignisse in einem ausführlicheren Kommentar versuchen. Zwei die-ser Ereignisse hatten auch erheblichen internationalen Widerhall: die Brände am Amazonas und die Freilassung des Ex-Präsidenten Lula (Arbeiterpartei PT) nach 580 Tagen Gefängnis im brasilianischen Südwesten. Das dritte Ereignis ist deutlich weniger nach außerhalb der Landesgrenzen gedrungen: die im Parlament mit deutlicher Mehrheit verabschiedete neueste Renten-Gegenreform, an der die Übergangsregierung Temer noch gescheitert war, die nach dem illegalen Sturz von Lulas Parteikollegin und Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff einge-setzt worden war. (…) Nun ist die Freilassung Lulas ein Erfolg für die demokratische Bewegung Brasiliens weit über die Parteigrenzen hinaus. Aber angesichts der massiven Bestrebungen der internationalen Sozialdemokratie, ihn zum Messias zu machen, erscheint es angebracht, nochmals eine sachliche Bilanz seines Wirkens zu versuchen…“ Artikel von Helmut Weiss, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 11/2019:

Es brennt – nicht nur am Amazonas

Ein Jahr nach Bolsonaros Wahlsieg in Brasilien – Von Helmut Weiss[*]

Ein rundes Jahr nach der politischen Zäsur, die der Wahlsieg des rechten Kandidaten Jair Messias Bolsonaro für Brasilien bedeutete, kann man eine Zwischenbilanz ziehen, und dies will ich anhand dreier Ereignisse in einem ausführlicheren Kommentar versuchen. Zwei dieser Ereignisse hatten auch erheblichen internationalen Widerhall: die Brände am Amazonas und die Freilassung des Ex-Präsidenten Lula (Arbeiterpartei PT) nach 580 Tagen Gefängnis im brasilianischen Südwesten. Das dritte Ereignis ist deutlich weniger nach außerhalb der Landesgrenzen gedrungen: die im Parlament mit deutlicher Mehrheit verabschiedete neueste Renten-Gegenreform, an der die Übergangsregierung Temer noch gescheitert war, die nach dem illegalen Sturz von Lulas Parteikollegin und Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff eingesetzt worden war.

Die »ewigen Feuer«, die indigenen Ländereien und die Ideologie des brasilianischen Bürgertums

Ein deutliches Zeichen für eine Herangehensweise, die die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse zum Maßstab der Beurteilung anderer Länder macht, scheint mir die Reaktion, gerade auch in der BRD, auf Bolsonaros wiederholte Äußerungen zu den Bränden am Amazonas zu sein. Mit seinen anfänglichen Äußerungen, die Feuer seien »nichts Besonderes«, hat er, trotz aller krimineller Aktivitäten, die dort stattfinden, insofern an die gutbürgerliche Argumentation im Lande angeknüpft, als die Geschichte der Erschließung Brasiliens oftmals eben auch eine Geschichte von Brandrodung war – und bis heute oft genug ist. So ist der Küstenwald am Atlantik faktisch verschwunden (ähnlich wie die Wälder, die einst am Mittelmeer wuchsen), ebenso Teile der Cerrado genannten Savannenlandschaft im Landesinneren – und noch heute kann es einem auch in ganz anderen Regionen passieren, dass am Ende der Trockenzeit gelegte Feuer über eine Autobahn hinweg brennen.

In diesem Zusammenhang wurden von allen Seiten immer wieder die indigenen Organisationen und ihr Anspruch auf Ländereien angesprochen, und auch Bolsonaro hat sie ganz bewusst immer wieder zum Thema gemacht. Dazu ist anzumerken: Dass die Indigenen zu viele Landrechte hätten, wie Bolsonaro behauptet, habe ich das erste Mal im Jahr 2012 gehört – auf einer Landesvorstandssitzung des Gewerkschaftsbundes CUT. Wie ohnehin die »Förderung des Extraktivismus« von den PT-Regierungen ganz massiv betrieben wurde – durchaus mehrheitlich positiv aufgenommen, weil das eine der ganz wesentlichen Grundlagen war für das brasilianische »Wirtschaftswunder 2« (das erste war die »Pump-Wirtschaft« der Militärdiktatur in den 1970er Jahren). Ebenso sind Bolsonaros Ausfälle zum Thema »Was wollen die fremden Mächte mit unserem Amazonas?!«in Brasilien keineswegs so absonderlich, wie hier manche fanden: Es gibt beispielsweise nicht wenige brasilianische Linke, die die Existenz der brasilianischen Armee unter anderem mit dem Grund rechtfertigen, der Amazonas müsse vor dem Zugriff des US-Imperialismus verteidigt werden.

Diese kurzen Anmerkungen sollen deutlich machen, dass Bolsonaros Politik weder absonderlich noch exotisch ist, sondern schlichtweg die konsequente Fortsetzung (und Radikalisierung) der traditionellen bürgerlichen Politik und Ideologie in Brasilien (etwa ähnlich, wie die deutschen Nationalsozialisten den Antisemitismus als Vehikel der nationalen Identitätskonstruktion zum industriellen Massenmord radikalisierten).

Worin besteht nun diese Radikalisierung des Traditionellen? Ich würde vor allen Dingen zwei wesentliche Schritte nennen: zum einen die viel drastischere Darstellung eines unternehmerischen Individuums, das angeblich von Gesetzen und Vorschriften eingeengt wird, wie wir sie weltweit von faschistoiden Neoliberalen kennen (um das zu sehen, muss man sich nur mal überwinden, in den Bundestag zu schauen). Bolsonaro schafft hier unter anderem Fakten durch Personalpolitik, speziell in der Besetzung zahlreicher politischer Ämter. Dass etwa für die Leitung der Umweltbehörde Ibama oder der Indigenen-Behörde Funai neue Leute nominiert werden, ist dabei erstmal üblich, da solche Posten per gesetzlicher Bestimmung »politische Ämter« sind und jede neue Regierung in der Regel neue Verantwortliche einsetzt. Entscheidend ist aber, welche Personen er nominiert und welche er »gebremst« hat. Durchgehend wird der »Bock zum Gärtner« gemacht, wenn – wiederum nur beispielsweise – eine Familienministerin berufen wird, die im Fernsehen (ernsthaft) über ihre Jesuserscheinungen im eigenen Hinterhof in der Jugendzeit erzählt, oder aber bekannte Vertreter des Agrobusiness die Umweltbehörde beherrschen.

Zum anderen schafft er, und dies erscheint mir ein ganz wesentlicher Punkt, eine Atmosphäre der »Freiheit«: Freiheit für die Unternehmer und Freiheit für diejenigen, die für die »Sicherheit« (der Geschäfte) zuständig sind. Dabei ist es gar nicht so entscheidend, welche neuen Gesetze nun erlassen werden oder auch nicht. Oft genügt der symbolische Wink, das »Etwas-zum-Thema-Machen«, das Ausstellen von Freibriefen. Mehr Freiheiten für Unternehmer – natürlich, um Jobs zu schaffen – und, ganz wichtig, mehr Freiheiten für Polizisten zu schießen. Das hat die Polizei auch vorher schon getan, jetzt aber umso mehr und mit präsidialer Rückendeckung. Wenn der Präsident – beispielsweise – sagt, dass Todesfälle nun mal eben passieren und keinesfalls automatisch »untersucht« werden müssen, muss man nicht unbedingt auf ein neues Gesetz warten. Es kann schon mal gehandelt werden, und die Beziehung zum »Führer« ist eine direkte, also durchaus faschistoide, ohne dazwischen geschaltete Institutionen. Auch wenn eine parlamentarische Vermittlung prinzipiell denkbar wäre, bedeutet dies sicher nicht mehr Entscheidungsgewalt für die Bevölkerung. Bolsonaros »Drohung« angesichts von Auseinandersetzungen in seiner Partei PSL, er werde dann eben austreten und eine neue Partei gründen, weisen in diese Richtung. Und erst Recht die Ausfälle (in erster Linie seines Vize, General Mourao) gegen die Freilassung Lulas, die in Wirklichkeit Ausfälle gegen die Ver­fassung von 1988 sind, die wiederum auch Ergebnis von 20 Jahren Kampf gegen die Diktatur war und ist. Das ist der politische Hintergrund der explodierenden gewalttätigen Attacken, sei es der Polizei in den Favelas oder »bairos pobres« (arme Stadtteile), sei es faschistischer Gruppen, wie sie in der 2015er Protestbewegung gegen Dilma Rousseff mit der »Bewegung Freies Brasilien« (MBL) erstmals seit der Diktatur wieder öffentlich aktiv wurden und seitdem leider Alltag geworden sind.

Die Freilassung Lulas und die Perspektiven des Widerstandes

Die Freilassung von Luis Inácio da Silva, von 2002 bis 2010 Brasiliens bislang populärster Präsident, war das Ergebnis verschiedener Faktoren: Zum einen der breiten demokratischen Massenbewegung, die sich in den rund anderthalb Jahren seiner illegalen, einem Komplott geschuldeten Festnahme entwickelt hat und die im Lande selbst und auch inter­national immer stärker wurde. Zum Zweiten verdankt sie sich aber auch der »schlichten« Tatsache, dass die von Rechts inszenierte Anti-Korruptionskampagne des »Lava Jato« beim wichtigsten brasilianischen Unternehmen, der Petrobras, auch verschiedene andere Sektoren des brasilianischen Kapitals ernsthaft in Probleme brachte, darunter Unternehmen der Bau- oder Fleischbranche oder auch global agierende Unternehmen wie Odebrecht. Nicht ganz außer Acht zu lassen sind auch Richterinnen und Richter, die ihre Privilegien, und damit auch ihre Unabhängigkeit, gegenüber der Regierung verteidigen wollen.

Nun ist die Freilassung Lulas ein Erfolg für die demokratische Bewegung Brasiliens weit über die Parteigrenzen hinaus. Aber angesichts der massiven Bestrebungen der internationalen Sozialdemokratie, ihn zum Messias zu machen, erscheint es angebracht, nochmals eine sachliche Bilanz seines Wirkens zu versuchen.

Mit Sicherheit gibt es linke Kritik an seiner Regierungszeit, die nicht zutrifft. Etwa und vor allem, wenn darauf abgezielt wurde, die PT und Lula hätten sozusagen sozialistische Ideale und Vorstellungen verraten (oder was auch immer). Eine Kritik, die schon deshalb nicht zutrifft, weil Lula selbst keinerlei Versprechungen in diese Richtung gemacht oder Wahlkämpfe mit dieser Orientierung geführt hat, aber auch, weil zumindest die übergroße Mehrheit jener, die ihn gewählt hatten, dies nicht gewollt hätte.

Der größte Wunsch, das wichtigste Ziel war die Verbesserung der sozialen Lage, bei vielen auch mehr Demokratie. Hier also muss eine Bilanz der Regierungszeit Lula beginnen – die ja auch Voraussetzung dafür ist, die Debatte um die zukünftige Politik der PT und ihres »Geleitzuges« ernsthaft diskutieren zu können.

Es sind im Wesentlichen vier Maßnahmen der PT-geführten (Koalitions-) Regierungen, die die sozialen und politischen Veränderungen der Jahre bis 2010 prägten. Erstmals seit Langem gab es Erhöhungen des Mindestlohns oberhalb der Inflationsrate, es gab das »Bolsa Familia«-Sozialprogramm, das eine Form des garantierten Grundeinkommens für arme Familien darstellte (unter der Voraussetzung, dass ihre Kinder die Schule besuchten), es gab (auch nach 2010) das soziale Wohnungsbauprogramm »Minha casa, minha vida« (Mein Haus, mein Leben), und es gab die Einführung diverser Quotenregelungen, die in der extrem rassistisch und männlich geprägten brasilianischen Gesellschaft einen Fortschritt darstellten. Nicht zuletzt gab es, das sollte gerade aktuell nicht vergessen werden, eine Förderungspolitik für Investitionen, die – unter anderem auch mit Großprojekten, die auf Widerstand stießen – tatsächlich für wachsende Beschäftigung sorgte.

An all diesen Vorgehensweisen gab es im Detail Kritik, die durchaus ihre Gründe hatte, aber nicht darüber hinweg gehen kann, dass dies insgesamt eine Sozial- und Wirtschaftspolitik war, die – auch für die Bevölkerung – Fortschritte bedeutete. Nicht zufällig war es eine wesentliche Aufgabe der Regierung Temer in der »Zwischenzeit« – also vom legalen Putsch gegen Dilma bis zur Neuwahl –, die Auswirkungen dieser Programme zu reduzieren. Was sie auch getan hat.

Eine genauere Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik der PT ist aber keineswegs eine Debatte, die aus »historischem« Interesse stattfinden kann, sondern weil sie wesentliche Hinweise darauf gibt, welche Politik die PT, inklusive der ihr nahestehenden Organisationen wie etwa dem Gewerkschaftsbund CUT oder der Landlosenorganisation MST, in Zukunft realisieren will.

Dass es deren Ziel ist, Lulas Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2022 zu ermöglichen, daran gibt es keinen Zweifel: Das machen er selbst und auch prominente Personen des Umfeldes, wie etwa der MST-Sprecher Stedile sehr klar. Und der dabei eingeschlagene Kurs wird auch bereits deutlich: Bolsonaro spaltet die brasilianische Gesellschaft, wir werden sie wieder einigen. Die entsprechende Botschaften Lulas von »der Liebe, die er spürt« machen das deutlich.

Um das Bild jener Regierungszeit und künftiger Absichten einigermaßen rund zu machen, muss man auch jene Bereiche ansprechen, in denen – aus durchaus verschiedenen Gründen – nichts, oder (meistens) eher marginale Veränderungen eingeleitet wurden, beziehungsweise: stattfanden. Dabei handelt es sich vor allem um Antworten auf langjährige »Grundsatzfragen« einer demokratischen Entwicklung der Gesellschaft, die von einem (je unterschiedlichen) Teil der WählerInnen, aber auch von einem bedeutenden Teil der Aktiven der eigenen Partei erwartet worden waren.

Da war zum einen die für Brasilien immer noch – und angesichts der Rolle des Agrokapitals wohl auch noch länger – zentrale Frage der Landreform, wo es höchstens quantitative Verschiebungen gab, aber keine prinzipielle Veränderung. Da war zweitens, was künftig wohl wieder wesentlicher werden wird, die Rückzahlung der Auslandsschulden. Hier war im Laufe der Regierungsjahre von immer mehr Basisaktiven der Partei zu hören, dies sei keine Frage mehr, denn inzwischen sei das Land ja einer der Geldgeber des IWF (was stimmte, aber an der Grundfrage nichts ändert). Und drittens die einst durchaus auch von der PT selbst in die gesellschaftliche Debatte gebrachte grundlegende Reform des Polizeisystems im Lande. Außer Minimalkorrekturen wie Namensschildern oder Lehrgängen zur Gewaltprävention (in einigen Länderpolizeieinheiten) ist hier nichts passiert – im Gegenteil, der Einsatz von Militärpolizei bei Pro­testen etwa gegen Großprojekte wie das Staudammprojekt Belo Monte oder die Gentrifizierung vieler Städte im Zuge der Vorbereitungen von Fußball-WM und Olympiade blieb »normal«.

Auch in anderen grundsätzlichen Aufgaben, wie der Aufarbeitung der Diktatur von 1964-1985, die heute von Bolsonaro hochgelobt wird, wurden entscheidende Versäumnisse begangen und vollkommen falsche Signale gesetzt: So wurden zwar durchaus menschenrechtliche Initiativen gegründet und finanziert, auch parlamentarische Kommissionen gab es, aber entscheidende Signale wurden etwa gesetzt, als Lula aus Anlass des Ablebens eines der Diktatoren – einen Namen, den ich hier gar nicht niederschreiben möchte – dessen »wichtiges Werk« für Brasilien würdigte… So war es auch etwa mit der wichtigen Frage der Mediendemokratie, wo sich sehr viele der gar nicht so wenigen Medienaktiven einiges erwartet hatten. Kaum gewählt, setzte Lula aber mit seinem Auftritt bei TV Globo ein Zeichen, das er angesichts der Rolle, die der mit Abstand größte Medienkonzern (ein »legitimes« Kind der Diktatur) beim Putsch gegen die PT-Regierung spielte, vielleicht bedauert haben dürfte.

Diese Art, Politik zu machen, hat sich auch in der Entwicklung der Partei selbst niedergeschlagen. War etwa der erste Wahlkampf Lulas zur Präsidentschaft 1990 noch eine regelrechte Volksbewegung – allein aus meinem Bekanntenkreis gab es Dutzende Kollegen, die sich ihren Jahresurlaub nahmen, um Wahlkampf zu machen –, so war dies schon vier Jahre später anders, mit professionellen PR-Agenturen und allem, was dazu gehört. Und so setzte sich das fort – inklusive der Begleiterscheinung, die es bei vielen etwas linkeren Regierungen gibt, dass Bewegungen und Initiativen qua Finanzierung und/oder Offizialisierung kooptiert werden. Das muss gar kein böser Wille sein, führt aber nicht nur zu Spaltungen, sondern auch zur Verwandlung von Teilen der Basis in Anhängsel der Regierungspolitik.

Insgesamt bedeutet dies, zwar mit ganzer Kraft für das Recht Lulas auf Kandidatur einzutreten, weil dies eine demokratische Grundforderung ist, und auch nicht so zu tun, als wäre »alles dasselbe« – neoliberale Parteien eben, wie es manche Linke taten (die jetzt allmählich eines Besseren belehrt werden), aber dennoch für eine linke Alternative zur PT einzutreten. Noch wichtiger ist es allerdings, für die Unabhängigkeit der sozialen Bewegungen zu kämpfen.

Renten-Gegenreform: Signal für Umsetzung des neoliberalen Kampfprogramms

Dass die Renten-Gegenreform im (deutschen) Herbst 2019 verabschiedet wurde, ist als ein politischer Erfolg für die Bolsonaro-Regierung zu werten, da eben die Vorgänger-Regierung daran (im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen) gescheitert war. Für das Scheitern der Widerstandsbestrebungen der Gewerkschaften gibt es mehrere Gründe, die hier nur skizziert werden können.

Dies ist zum einen die sich ausbreitende Haltung, Gewerkschaften seien Instrumente der jeweiligen Mutterparteien, was nach diversen Reformen der Gewerkschaftsgesetzgebung nicht völlig unbegründet ist, die Mobilisierungskraft aber erheblich beeinträchtigt. Dies ist aber auch, bei der Existenz von inzwischen neun Gewerkschaftsföderationen und der trotz aller gegenteiligen Beteuerungen keineswegs sehr starken Einheit der Gewerkschaftsbewegung, ein Ergebnis der Besonderheiten des brasilianischen Gewerkschaftssystems insgesamt. Man darf dabei nicht übersehen, dass dieses System, das von der Vargas-Diktatur (1930 bis 1945) nach Vorbild des »italienischen Modells« (Mussolinis) eingeführt wurde, es erlaubt, faktisch Gewerkschaften ohne Mitglieder zu haben. Solche Pseudo-Gewerkschaften haben trotzdem teil an staatlichen Zuwendungen aus der »Gewerkschaftssteuer«, die auch Nicht-Mitglieder zahlen müssen und die bislang automatisch bei der Lohnauszahlung von den Unternehmen eingezogen wird. Man kann für diese »Institution« einfach kandidieren, und es gibt höchstens Schätzungen darüber, wie viele »Gewerkschaften« (vor allem außerhalb der wachsenden Anzahl von Indu­striezentren) es gibt, die wenig anderes sind als ein vergrößertes Familienunternehmen zur eigenen Bereicherung, denn diese sind in der Regel keiner Föderation angeschlossen. Solche Entwicklungen führen natürlich zur Verstärkung ablehnender Stimmungen gegenüber Gewerkschaften. Vor allem bedeutet diese Art der »Institutionalisierung« aber, dass die Gewerkschaften in der Regel keine betrieblichen Organisationen sind, sondern ›von außen‹ kommen. Und die Stimmen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, dies zu ändern, sind in den letzten Jahren immer leiser geworden – ich unterstelle hier, auch aus finanziellen Gründen, da auch die größeren Gewerkschaften von der automatisch einbezogenen Gewerkschaftssteuer für Nicht-Mitglieder profitieren. Vor allem bei den Massenprotesten gegen die Kürzungen im Bildungsbereich zeigte sich aber auch, dass viele Gewerkschaften keine allzu engen Verbindungen zu anderen Bereichen der Gesellschaft haben und dass vor allem die CUT, der immer noch mit Abstand größte Verband, mit ihrer extrem intensiven Pro-Lula-Kampagne schon auch »nervte«.

Von hier aus erklären sich auch die wesentlichen Unterschiede zwischen den Erklärungen und Beschlüssen der Gewerkschaftsvorstände und der Mobilisierung zu den entsprechenden Aktionen – wenn etwa der besonders sozialpartnerschaftliche Verband ForcaSindical zu Aktionen mobilisiert, gelingt das eben in Wirklichkeit nur einzelnen seiner Mitglieds­gewerkschaften.

Bolsonaros Reformprogramm ist weitreichend, wie es ihm die Unternehmerverbände, allen voran die FIESP aus Sao Paulo diktieren: Nachdem ihre traditionellen Kandidaten bei der Wahl im ersten Wahlgang krachend gescheitert waren (auch ein Ergebnis der endlosen Korruptionsaffären der Temer-Regierung von 2016 bis 2018), hatten sie sich im zweiten Wahlgang eindeutig für Bolsonaro ausgesprochen, gegen die PT – unter anderem hatten alle Chefs großer deutscher Unternehmen, die in diesem Verband eine wichtige Rolle spielen, in Interviews für ihn plädiert. So stehen weitere Privatisierungen ebenso an wie die Gegenreform der Arbeitsgesetze. Auch der »seltsame Ausgang« des Streiks bei der Post, der sich ja gegen die weiteren Privatisierungsbestrebungen richtete, lässt nicht so viel Gutes erwarten. Er wurde nach wenigen Tagen ohne Ergebnis abgebrochen.

Artikel von Helmut Weiss, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 11/2019

* Helmut Weiss ist beim LabourNet Germany aktiv, lebte zwölf Jahre in Brasilien und ist immer noch oft dort.

P.S.: Wer nähere Sachinformation wünscht oder braucht, kann große Mengen davon unter https://www.labournet.de/category/internationales/brasilien/ finden – beginnend mit dem (gewerkschaftlichen) Widerstand gegen Lulas Rentenreform von 2002.

express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=157979
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