[Buch] Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland
„Seit geraumer Zeit ist das Problem wachsender Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit. Während daraus im globalen Maßstab ökonomische Krisen, Kriege und Bürgerkriege resultieren, die wiederum größere Migrationsbewegungen nach sich ziehen, sind in Deutschland der soziale Zusammenhalt und die repräsentative Demokratie bedroht. Daher wird nicht bloß thematisiert, wie soziale Ungleichheit entsteht und warum sie zugenommen hat, sondern auch, weshalb die politisch Verantwortlichen darauf kaum reagieren und was getan werden muss, um sie einzudämmen.“ Info des Verlags Beltz Juventa zum Buch vom Christoph Butterwegge (414 Seiten, 24,95 Euro, ISBN: 978-3-7799-6114-7), das am 20. November erscheint. Siehe weitere Infos zum Buch und – als exklusive Leseprobe im LabourNet Germany – das Kapitel 6.6.1.: „Abschottung gegen Armut: Entwicklung des Mindestlohns zu einem Lebenslohn“:
- Inhaltsverzeichnis beim Verlag
- Kap. 1 Definitionen, Dimensionen und Diskussionen über Grundlagen der gesellschaftlichen Ungleichheit als Leseprobe beim Verlag
- Leseprobe im LabourNet Germany : Einleitung und redaktionell bearbeiteter Vorabdruck des Kapitels 6.6.1.: „Abschottung gegen Armut: Entwicklung des Mindestlohns zu einem Lebenslohn“ – wir danken!
- Eine soziale Wende ist überfällig
„Der Markt richtet es nicht. Schon gar nicht, wenn es um Wohnen und vernünftige Mieten geht, sagt unser Autor. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hat sich in seinem demnächst erscheinenden Buch „Die zerrissene Republik“ mit der wachsenden Ungleichheit in Deutschland beschäftigt.
Durch die Bundesrepublik verläuft ein Riss, der sie in Arm und Reich, aber auch sozialräumlich in wohlhabende und abgehängte Regionen, Kommunen und Stadtviertel teilt. Während die Einkommensschwachen, GeringverdienerInnen und Transferleistungsbezieher in die Hochhausviertel am Rand der Großstädte abgedrängt werden, ziehen die materiell Bessergestellten in gute oder in geschlossene Wohnviertel (gated communities). Hier entsteht eine Parallelwelt der Privilegierten und dort eine Parallelwelt der Unterprivilegierten, worunter der gesellschaftliche Zusammenhalt stark leidet. Die sozioökonomische Ungleichheit spiegelt sich nicht bloß in der Klassen- und Schichtstruktur wider, sondern schlägt sich auch in der Stadt-, Regional- und Raumstruktur unserer Gesellschaft nieder, wiewohl von lokalen Traditionen und manchen Besonderheiten gebrochen und durch andere Einflussfaktoren modifiziert. Denn die sozioökomische beziehungsweise Klassenlage eines Menschen manifestiert sich auch in der Art seines Wohnens wie seines Wohnumfeldes. Sie entscheidet nicht bloß über seinen Lebensstandard, seine Konsummöglichkeiten sowie seine geografische Mobilität und berufliche Flexibilität, weil Einkommen und Vermögen dafür ausschlaggebend sind, was er sich leisten kann; das Quartier, in dem er wohnt, determiniert umgekehrt vielmehr auch seine Aufstiegschancen. Eine neoliberale Standortpolitik, die der Kapitallogik folgt, schafft auf der einen Seite glamouröse Schaufenster des Konsums („Räume der Sieger“) und auf der anderen Seite vernachlässigte Wohnquartiere („Räume der Verlierer“), die kaum noch etwas miteinander zu tun haben…“ Ein Auszug vorab von Christoph Butterwegge am 13.11.2019 in der Kontext-Wochenzeitung aus dem Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“
- Verharmlost und verdrängt. Die Klassenstruktur des Finanzmarktkapitalismus im Zerrspiegel der »postmodernen« Soziologie
„Zu keinem Zeitpunkt haben sich die Sozialwissenschaften in (West-)Deutschland ernsthaft mit dem Problem der Ungleichheit auseinandergesetzt und nach Möglichkeiten zu seiner Lösung gesucht, das besagte Phänomen vielmehr zum Teil sogar einfach geleugnet. Die Geschichte der bundesrepublikanischen Nachkriegssoziologie war nicht zuletzt die Geschichte zahlloser Versuche, die als marxistische Signalbegriffe verpönten Termini »Klasse« bzw. »Klassengesellschaft« durch weniger brisante Kategorien zu ersetzen, ihren Wortsinn zu entschärfen oder sie auf andere Weise ideologisch zu entsorgen. (…) Dass der Klassenbegriff bei »spät-« oder »postmodernen« Sozialstrukturanalytikern trotz ihrer geringen Sensibilität für Prekarisierungstendenzen, Ausbeutungspraktiken und Unterdrückungsmechanismen fröhliche Urständ feierte, lag einerseits an der kaum mehr zu übersehenden Polarisierung von Einkommen und Vermögen, die nach begrifflicher Klarheit verlangte. Andererseits wirken mögliche Alternativkategorien, etwa Schicht, Milieu oder Lebensstil, gegenüber dem Klassenbegriff eher bieder, blass und blutleer, weil mit diesem nicht wie bei jenen von Macht und Herrschaft abstrahiert, sondern die Verwurzelung der Gesellschaftsstruktur in den Produktions- und Eigentumsverhältnissen zum Ausdruck gebracht wird. Reckwitz greift den Klassenbegriff zwar auf, kulturalisiert ihn aber und benutzt ihn auf eine Weise, die an Beliebigkeit kaum noch zu überbieten ist: Da gibt es die »alte Mittelklasse« ebenso wie die »neue Unterklasse«, die »neue Akademikerklasse« und die »Dienstleistungsklasse«, während Arbeiter und Kapitalisten offenbar gar nicht mehr existieren oder unbemerkt in einem der »neuen« Klassentypen aufgegangen sind. (…) In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nehmen die systemapologetischen Tendenzen gegenwärtig eher zu. Wenn sich ökonomische, soziale, ökologische und/oder politische Probleme mehren, wächst in jeder Gesellschaft das Verlangen, die Augen davor zu verschließen, die mit ihnen verbundenen Gefahren zu verdrängen und sich das Debakel schönzureden. Ausgerechnet im Vorfeld schwerer ökonomischer oder ökologischer Krisen und in gesellschaftlichen Umbruchsituationen hat eine Beschönigungs- und Beschwichtigungsliteratur regelrecht Hochkonjunktur. Momentan greift sie den Klimawandel genauso wie den Themenkreis »Rechtsextremismus und Gewalt« oder das Problemfeld »Armut und sozioökonomische Ungleichheit« auf. Der Marburger Soziologe Martin Schröder etwa behauptet in einem kürzlich erschienenen Aufsatz, »fast ausnahmslos« werde die Ungleichheit in Deutschland »weitaus höher eingeschätzt, als sie tatsächlich ist«. Die sozioökonomische Ungleichheit an den unterschiedlich hohen Einkommen von Armen und Reichen festzumachen, wie das Schröder tut, basiert jedoch auf einem Trugschluss und gleicht einem statistischen Taschenspielertrick. Denn man kann zwar Armut mit einem geringen Einkommen gleichsetzen, darf Reichtum aber nicht auf ein hohes Einkommen reduzieren. Vielmehr gehört zum Reichtum immer auch und sogar in allererster Linie ein großes (Kapital-)Vermögen. (…) Wissenschaftler, die sich einen skeptischen Blick auf die Gesellschaftsentwicklung bewahrt haben, kritisieren häufig ihr Fach, weil es ratlos und davon abgekommen sei, politische Einstellungen vor dem Hintergrund von Klasseninteressen zu deuten. Je konformistischer die Soziologie und je marktfixierter die Ökonomie in Deutschland wird, um so weniger sind diese beiden für das Problem der Ungleichheit »zuständigen« Wissenschaften fähig, die Gesellschaft und deren Klassenstruktur zu entschlüsseln. Ihre genuine Funktion als nur der Wahrheit verpflichtete Fachdisziplinen ist aber nicht die Ideologieproduktion, sondern die Entmystifizierung der bestehenden Verteilungs-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse…“ Redaktionell bearbeiteter Auszug von Christoph Butterwegge in der jungen welt vom 19.11.2019 (im Abo) aus dem Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“