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30 Pesos, die die Welt bedeuten. In mehreren Ländern gehen die Menschen zur Zeit auf die Straße – gibt es Gemeinsamkeiten?
Dossier
„In Chile war es eine Fahrpreiserhöhung für U-Bahntickets um 30 Pesos (umgerechnet vier Cent), in Libanon die angekündigte Einführung einer Steuer auf Whatsapp-Telefonate. Vergangenes Jahr in Frankreich begann die Gelbwesten-Bewegung mit einer angekündigten Steuer auf Kraftstoffe. Man kann also sagen, dass die Auslöser der zeitgenössischen Aufstandsbewegungen relativ belanglos und willkürlich sind, vergleicht man sie mit dem, was in der Folge jeweils auf den Tisch kommt. (…) Nicht die normalen Menschen schulden dem Staat Gehorsam und den Banken Geld. Das normale Leben erhebt sich und fordert etwas ganz anderes, das niemand so wirklich kennt und das vielleicht noch nicht einmal einen Namen hat. Klar ist nur, dass es irgendwie um alles geht und dass es so wie bisher nicht weitergehen soll. Das merkt man spätestens daran, dass Whatsapp-Steuern oder Bahnpreiserhöhungen längst zurückgenommen wurden, sich die Menge aber nicht damit und nicht einmal mit zusätzlich entlassenen Ministern oder angekündigten Reformen zufrieden gibt. Es geht einfach weiter. (…) Es geht nicht um eine Führung oder Ideologie, aus der sich alles ableitet, sondern es geht um die Gemeinsamkeiten, die sich quasi automatisch ergeben. Trotz aller regionalen Unterschiede sind sie auf Erfahrungen des Lebens im globalen Kapitalismus gegründet – und auf die Suche nach Möglichkeiten von Widerstand und Alternativen. Diese Gemeinsamkeiten sind daher kein Zufall. Da ist die Einheit des sozialen und politischen Charakters. Die Proteste gegen die soziale Situation sind von jeder gewerkschaftlichen und betrieblichen Begrenzung befreit. Sie artikulieren eine unmittelbare Erfahrung, nämlich die ganzheitliche Problematik aus Schulden, Löhnen, Mieten, Gesundheit, Bildung und vielem mehr. Darin sind sie mehr als bloße Interessenpolitik. Die Proteste richten sich darauf, wie die Menschen regiert werden…“ Beitrag von Mario Neumann bei neues Deutschland vom 30. Oktober 2019 , siehe eine Antwort darauf und weitere Debattenbeiträge:
- 2020: Das Jahrzehnt der politischen Unruhen
„… Gegen Ende 2019 konnte man den Eindruck gewinnen, als würde eine Protestwelle über die Welt hinweggehen, die Regierungen und politische Systeme ins Beben oder gar zu Fall bringen könnte. In Chile ebenso wie in Bolivien, im Irak wie im Libanon, in Indien, im Sudan oder in Serbien, im Tschad oder natürlich in Hongkong waren die Menschen im Aufbruch gegen die jeweiligen Regierungen. Im Political Risk Outlook 2020 der britischen Firma Verisk Maplecroft, die politische und ökonomische Krisen analysiert, werden 47 Länder gezählt, in denen 2019 Proteste und Unruhen zugenommen. Das sei eine dramatische Zunahme gegenüber 2018. Die Unruhen in Hongkong und Chile sollen nach der Analyse die schwersten und häufigsten sein, erwartet wird, dass sie nicht so schnell enden, sondern weiter schwelen, zumindest bis 2022, da nicht erwartet wird, dass die zugrundeliegenden Probleme wirklich gelöst werden. Dazu soll 2020 die Zahl der Länder, in denen Unruhen ausbrechen oder anhalten, auf 75 anwachsen. Das wären 40 Prozent der 195 Länder auf der Erde. Die Zahl der Länder, die als extrem riskant für die Wirtschaft eingestuft werden, ist um mehr als 60 Prozent von 12 auf 20 angestiegen. Dazu gehören Äthiopien, Indien, der Libanon, Nigeria, Pakistan und Simbabwe. Der Sudan gilt nun als das riskanteste Land weltweit und löst den Jemen ab, in dem weiter Krieg herrscht. Die stärkste Zunahme soll es in der Ukraine, Guinea Bissau und Tadschikistan geben. Als extrem riskant gelten Länder, in denen es am wahrscheinlichsten zu Transportstörungen, Schäden an Firmeneigentum und körperlichen Risiken für die Angestellten durch Unruhen kommen kann. Die Schäden würden viele Milliarden US-Dollar betragen. So sollen allein im ersten Monat der Proteste in Chile Schäden an der Infrastruktur von 4,6 Milliarden US-Dollar entstanden sein, was dem Land 1,1 Prozent des BIP gekostet habe. (…) Insgesamt sehen die Analysten eine unruhige Zeit vor uns: „Wenn die frühen 2000er vom Krieg gegen den Terror gekennzeichnet waren, die 2010er Jahre von der wirtschaftlichen Erholung nach der Krise und dem Aufstieg des Populismus, sind die 2020er Jahre im Begriff, ein Jahrzehnt der Wut, der Unruhe und geopolitischer Verschiebungen.“ Unruhen seien die „neue Normalität“ auch deswegen, weil die Regierungen die Konflikte nicht auflösen, sondern nur die Proteste niederzuschlagen versuchen…“ Beitrag von Florian Rötzer vom 20. Januar 2020 bei Telepolis - [Buch] Soziale Gelbsucht. Die radikale Analyse eines radikalen Ereignisses: Sind die Gelbwesten der Beginn einer neuen Revolution?
„Einzigartig ist die Bewegung der Gilets jaunes in vielerlei Hinsicht: Einfache Menschen aus den Peripherien haben sich selbstständig vernetzt und leh- nen jede Art von Repräsentation ab. Mit ihren Aktionsmethoden sprengen sie den Rahmen des institutionalisierten Protests. Ihre Forderungen sind nicht gerade revolutionär – sie wollen einfach bessere Lebensbedingungen, mehr Gerechtigkeit, mehr Achtung. Dennoch haben sie das Land in die tiefste soziale Krise seiner jüngeren Geschichte gestürzt. Die Neuigkeit des Ereignisses, das mit Sicherheit langfristige Folgen zeitigen wird, zeigt sich auch da- durch, dass es sich mit konventionellen Referenzen nicht interpretieren lässt. Stehen die Gilets jaunes links oder rechts, sind sie progressiv oder konservativ? Findet eine Rückkehr des Klassenkampfs statt oder ein Aufstand der Peripherien gegen die globalisierten Zentren? Vor diesen Bruch mit ihren Gewissheiten gestellt, reagierten die meisten Zeitdiagnostiker mit Schweigen oder Verleumdung. Soziale Gelbsucht schaut hinter die Kulissen und zeigt, dass hinter den konfusen und widersprüchlichen Formen der Revolte sich der Versuch zeigt, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Schließlich geht es um die Frage: Wie lässt sich eine Politik durchsetzen, die von der großen Mehrheit abgelehnt wird? Diese Frage stellt sich nicht nur in Frankreich.“ Verlag Matthes & Seitz Berlin zum Buch von Guillaume Paoli (161 Seiten, ISBN: 978-3-95757-828-0, Preis: 10,99 €), dort auch Veranstaltungstermine mit dem Autor. Siehe dazu – als exklusive Leseprobe im LabourNet Germany – das (letzte) Kapitel: „Dem deutschen Leser ein Nachwort“ – wir danken! - 2019: Der Streik der Massen. Auf dass der Massenstreik, der uns bis zum Weihnachtsfest 2019 geführt hat, den Weg in ein wahrhaftig neues Jahr 2020 ebnet
„… Während die lateinamerikanischen Strömungen des Widerstand über die Telepathie von Facebook, Twitter und WhatsApp miteinander verbunden zu sein scheinen, kommunizert zugleich auch der Status Quo und ist vereint in seinen Zielen und Methoden. Demonstranten das Augenlicht zu zerstören, ist eine verbreitete Taktik, die von der israelischen Armee gegen die Palästinenser angewendet wird. Die kolumbianische Spezialeinheit der Polizei zur Aufstandsbekämpfung (Esmad) setzt sie auch seit zwölf Jahren ein, gegen 20 Indigene im Cauca, gegen einen Fischer in El Quimbo und gegen etliche Studierende. Die ecuadorianische Polizei fügt Menschen regelmäßig Augenverletzungen zu, doch den Rekord halten die chilenischen Carabineros mit mehr als 300 Personen, darunter ein Jugendlicher und eine Frau, die vollständig erblindet sind, sie überholen die Israelis. (…) Die starke Beteiligung von Frauen und jungen Menschen ist auffällig und hat sich vielfältig ausgedrückt. Die chilenische Schüler- und Studierendenbewegung führt seit mehr als zehn Jahren den Kampf für die Wiederherstellung eines öffentlichen Bildungssystem an. Die Schüler, die sogenannten Pinguine, zogen ihren Eltern mit auf die Straße, die ihre eigenen Studienkredit noch nicht ganz zurückgezahlt haben. Auch in Kolumbien ging der großen Präsenz der Jugend bei den Märschen 2019 eine wachsende Mobilisierung von Studierenden zur Verteidigung der öffentlichen Bildung voraus. Auf den Fotos von den Oktobermärschen und den Zusammenstößen mit der Polizei aus Ecuador sieht man indigene Frauen jeden Alters mit Tüchern vor dem Mund zum Schutz vor Tränengas, ebenso wie die Frauen in Bolivien in ihren langen Röcken, die zuerst von der Polizei in Cochabamba angegriffen und dann zum Ziel der verbalen Aggressionen der putschenden Rassisten wurden. (…) Alles fing in der Karibik an. Im Juli erhob sich Puerto Rico und stürzte den Gouverneur Ricky Roselló, nachdem er homophobe Beleidigungen und Spott geäußert hatte. Das puerto-ricanische Motto „Wir haben keine Angst mehr“ wurde zur Losung der lateinamerikanischen Mobilisierungen. Die Unterstützung und Teilnahme von Künstlern, angefangen bei Residente bis hin zu Ricky Martin, brachte Musik in die Straßenproteste. In Chile und Kolumbien wiederholte sich dies mit anderen Namen, es wurde an den von Pinochet ermordeten Victor Jara erinnert, die Hymne der „Übriggebliebenen“ (El baile de los que sobran) wurde wiederentdeckt, hinzu kam der entschlossene Aktivismus der jungen Künstler. In Haiti, wo die Menschen nichts mehr zu verlieren haben, ist seit Februar der jahrelange Widerstand wieder erstarkt, und das Volk setzt sich Woche für Woche den Projektilen des Regimes aus, es gibt Dutzende Tote. Ein Heldentum, das auch in Ecuador, Chile und besonders in Bolivien zu sehen ist, besonders in Chapare und in El Alto. Haiti ist Inspiration für die wachsenden Afro-Bewegungen in Honduras und Kolumbien, insbesondere seit den Streiks in Buenaventura und im Chocó. Dort wurde ein weiteres nationales Motto von 2019 geprägt: „Das Volk ergibt sich nicht, verdammt nochmal!“ Die Hinterlassenschaften der Staatsstreiche sind der Gegenstand der Proteste in Argentinien, Chile, Bolivien, Haiti und Honduras. (…) Preiserhöhungen, Verfassungen, Staatsstreiche, Steuerreformen, cacerolazos, Märsche, Arbeitsniederlegungen, Blockaden, Konzerte, Performances, Zusammenstöße, … aufeinanderfolgende ökonomische und politische Kämpfe, ethnische Kämpfe und miteinander verschränkte Klassenkämpfe, junge Menschen, Frauen, Künstler, Genderfragen, Philosophien, Überzeugungen, Glaube, Hoffnung … alles kommt getrennt zusammen. Das Nationale mit dem Lokalen und Regionalen und mit dem Lateinamerikanischen. Die Gewerkschaften und die formal etablierten zivilgesellschaftlichen Organisationen die zum Streik aufriefen, mit den Demonstrationen und selbst einberufenen Versammlungen, mit dem Informellen, der Spontaneität, der Diversität, mit dem völlig Neuen. (…) Wir befinden uns in einem Kampf um die Erde. Diese Mutter Erde, die es ermöglicht, dass indigene Völker mit 500.000 Menschen und Greta Thunberg auf den Straßen von Madrid demonstrieren. Die Menschheit entdeckt, dass die Erde weder zum Verkauf noch zum Kauf steht – und gibt damit den indigenen Völkern recht. Dies ist die Revolution von heute: Sie ist plurinational, divers, feministisch, und wenn sie bis zum Ende geführt wird, antikapitalistisch. Vorläufig geht in Chile der Kampf für die souveräne Verfassung weiter, Bolivien widersteht und Kolumbien lässt nicht locker…“ Artikel von Héctor Mondragón (Übersetzung: Constanze Gräsche) am 31.12.2019 bei amerika21 - Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft – 2019 war das Jahr eines neuen globalen Bewegungszyklus. Trotz vieler Unterschiede gibt es auch Gemeinsamkeiten
„Seit den frühen 1990er Jahren habe die Welt keinen ähnlich gleichzeitig auftretenden Ausbruch allgemeiner Wut auf den Straßen erlebt wie im Jahr 2019, stellte Anfang November ein Kommentator des Economist fest. Das war noch, bevor sich Iran und Kolumbien in den Reigen jener Länder einfügten, in denen dieses Jahr Massenproteste Regierungen in Angst und Schrecken versetzten – und nicht wenige Politiker zum Rücktritt zwangen. Zuletzt erklärte Iraks Premierminister Adel Abdul Mahdi Ende November, seinen Hut zu nehmen zu. Er folgte damit dem libanesischen Premier Saad al-Hariri (Ende Oktober), Algeriens Präsident Abd al-Aziz Bouteflika und dessen Amtskollegen Omar al-Baschir in Sudan (beide im April). In Chile ist Regierungschef Sebastián Piñera noch im Amt, musste aber schon kurze Zeit nach Beginn der Rebellionen im Oktober einen Umbau seines Kabinetts ankündigen. Ricardo Rosselló, Gouverneur von Puerto Rico, hatte bereits im August nach Massenprotesten das Amt niedergelegt. Die enorme Stärke der gegenwärtigen Protestbewegungen zeigt sich auch darin, dass Maßnahmen, an denen sich die Rebellionen entzündeten, teilweise eilig zurückgezogen wurden. (…) Trotz dieser teils extremen staatlichen Repressionen lassen sich die Menschen meist nicht von den Straßen vertreiben. Ihre Proteste produzieren, auch über Landesgrenzen und Kontinente hinweg, Hoffnungen – und bleibende, beeindruckende Bilder. Sei es die «Nubian Queen», die Frau im Sudan, die auf Autodächern stehend der Menge mit Sprechchören einheizt; seien es die Protestierenden in Beirut, die gemeinsam die «Ode an die Freude» anstimmen, das vermummte Paar in Chile, das auf der Straße zwischen brennenden Barrikaden einen Tango tanzt, die Tausenden Frauen, die in Santiago de Chile mit einer eigenen Performance gegen sexualisierte Gewalt eintreten oder der verrußte Demonstrant im Irak, der während einer Straßentheaterperformance in Basra mit Atemschutzmaske und Helm auf einem prunkvollen Sessel Platz genommen hat. All diese Bilder gingen viral und wurden weltweit millionenfach angeschaut. Die Performance der Chileninnen gegen sexualisierte Gewalt wird inzwischen sogar überall auf der Welt von Frauen kopiert. Warum eigentlich? Weil diese Bilder uns berühren und beeindrucken, weil sie zeigen, wie in einer Welt der Donald Trumps, Jair Bolsonaros und Matteo Salvinis, dem Hochmut der Mächtigen mit Mut, Solidarität und Würde begegnet wird. In Irak, Libanon und Sudan wurden in den Protestbewegungen konfessionelle und ethnische Spaltungen überwunden, auf die sich die Herrschenden in den vergangenen Jahrzehnten stützen konnten; Frauen standen und stehen in Chile, Libanon oder Sudan an der Spitze der Proteste. Und die Bilder, ebenso wie die Slogans zeigen, dass sich einerseits das Zeitalter der neoliberalen Hegemonie endgültig dem Ende zuneigt, es jedoch andererseits auch Alternativen zur rechtsextremen, protektionistischen und autoritären Füllung des entstehenden politischen Vakuums gibt. Fertig ausformuliert sind diese Alternativen freilich nicht, vorerst bleiben sie nur eine Ahnung. Dennoch: Die Suche nach der verlorenen Zukunft hat längst begonnen.“ Artikel von Nelli Tügel vom Dezember 2019 bei der Rosa Luxemburg Stiftung -
Selber zu Wort kommen lassen: Aktivistinnen und Aktivisten aus mehreren Ländern Westasiens und Nordafrikas begründen ihren Protest
- Von Chile lernen – Denn der Wandel kommt nicht von Staats wegen, sondern von der Straße
„… In der deutschen Linken gibt es mal wieder Streit. Aktuell geht es um die Lebensweise. Vor allem in der Klimabewegung wird diskutiert: Ist der Lebensstandard in Deutschland auf andere Länder übertragbar? Und wenn nicht: Brauchen wir dann nicht Verzichtsdebatten? Nein, die brauchen wir nicht. Lebensweisen ändern sich nämlich durch Phasen, in denen das Alltägliche zur Disposition steht. Sie ändern sich in Phasen gesellschaftlichen Umbruchs. Einen solchen Bruch mit dem Alltäglichen gab es im Oktober in Chile. Ein Land, das jahrelang dem Konsum frönte und in dem heute die meisten Privathaushalte hoch verschuldet sind. Doch damit ist nun Schluss. Nicht nur die U-Bahnhöfe in der Hauptstadt Santiago brannten im Oktober. Auch Supermärkte und Shoppingmalls gingen in Flammen auf. Bewusstsein ändert sich nicht allmählich – wie der italienische Kommunist Antonio Gramsci sagte -, sondern häufig in Sprüngen. Und mit einem derartigen Sprung waren plötzlich über eine Million Menschen auf den Straßen des lateinamerikanischen Landes, das kaum 18 Millionen Einwohner zählt. Dass so viele Bürger gegen den rechtskonservativen Präsidenten Sebastián Piñera auf die Straße gingen, kommt nicht aus dem Nichts. Das Land leidet unter einer ökologischen und sozialen Krise. Chile ist eines der vom Klimawandel weltweit am stärksten betroffenen Länder. Zudem sind die Kosten für Wohnen, Gesundheit und Bildung extrem hoch, Löhne und Renten aber niedrig. Seit Mitte der 2000er Jahre demonstrieren Schüler, Studierende und Rentner massenhaft auf den Straßen. Das Ausmaß der Proteste war so groß, dass der Präsident binnen weniger Stunden das Militär mit Gewehren und Panzern auf die Straße schickte. (…) Wir können von sozial-ökologischen Bewegungen wie der in Chile lernen. Nicht der Klimagipfel COP25, der dort dieses Jahr hätte stattfinden sollen, hat das südamerikanische Land mit seinen enormen Umweltzerstörungen umgekrempelt, sondern der Aufstand. Nicht von Staats wegen kam der Wandel, sondern von der Straße. Mitten in den Protesten sagte Piñera den Klimagipfel kurzerhand ab. (…) Selbst wenn wir in absehbarer Zeit nicht mit chilenischen Verhältnissen rechnen können, steht dennoch fest, dass auch hier der Weg langfristig nicht anders sein kann. Lebensweisen ändern sich im Rahmen und in Folge von Protest und nicht andersherum. Die großen Klimademonstrationen waren ein guter Anfang. Auch in Deutschland muss es auf der Straße weitergehen.“ Beitrag von Jakob Graf bei neues Deutschland vom 18. Dezember 2019 - Rückblick 2019 von ai: Das Jahr der Proteste ist eine Verpflichtung für 2020
„Der friedliche Protest von Millionen Menschen hat das Jahr 2019 geprägt. Es wird deutlich: Die zunehmenden Angriffe auf die Menschenrechte werden nicht stillschweigend hingenommen. Deutschland ist 2020 gefragt, mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft, als Mitglied des UN-Sicherheitsrats und des UN-Menschenrechtsrats die Initiative zu ergreifen und international auf eine wirksame Durchsetzung der Menschenrechte hinzuarbeiten. Repräsentative Amnesty-Umfrage unterstreicht, dass die Bundesregierung mehr tun muss, um Menschen vor rassistischer Gewalt zu schützen. Ägypten, Hongkong, Iran, Sudan oder Venezuela: Die Bilder von Millionen Menschen, die demonstriert haben, sind um die Welt gegangen. „Wir haben in den vergangenen Monaten eindrucksvoll erlebt, wie die Bevölkerung mit friedlichem Protest auf Angriffe durch Regierungen und Unternehmen auf ihre Menschenrechte reagiert hat“, sagt Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, im Rückblick anlässlich des Tags der Menschenrechte am 10. Dezember. Doch während die Menschen ihr Recht auf Versammlungsfreiheit ausübten, zeigten Regierungen auch, wie gefährlich friedlicher Protest sein kann. (…) Ein entschlossenes Vorgehen ist auch im Umgang mit den großen Digital-Konzernen notwendig. „Unternehmen wie Google oder Facebook betreiben ein Geschäftsmodell auf Kosten des Rechts auf Privatsphäre von Millionen Menschen“, sagt Beeko. „Die Teilnahme am digitalen Leben darf aber nicht davon abhängig gemacht werden, dass wir irgendjemand die umfassende Erfassung, Überwachung und individualisierte Auswertung unserer persönlichen Daten erlauben müssen. Amnesty fordert die EU und die Bundesregierung dazu auf, ihre Bürgerinnen und Bürger wirksam vor Eingriffen der Tech-Konzerne in ihre Grundrechte zu schützen.“ Deutschland ist auch gefragt, bei der problematischen EU-Migrationspolitik auf konkrete Verbesserungen beim Flüchtlingsschutz hinzuwirken. (…) Innenpolitisch fehlen sichtbare und wirkungsvolle Schritte der Bundes- und Landesregierungen, um tatsächlich konsequent gegen täglichen Rassismus und Diskriminierung sowie rassistische, antisemitische und islamophobe Gewalt in Deutschland vorzugehen. (…) Der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus muss endlich umgesetzt werden. Ebenso braucht es ein konsequentes Vorgehen gegen rassistische Netzwerke in Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden.“ Die Bundesregierung hat hier einen klaren Auftrag, das sieht auch eine Mehrheit der Bevölkerung so: 60 Prozent der Befragten finden, dass die Bundesregierung nicht genug tut, um die Menschen vor rassistischer und antisemitischer Gewalt zu schützen. 60 Prozent sind der Meinung, dass menschenrechtsfeindliche Einstellungen in der politischen Debatte eher zunehmen, 55 Prozent sagen dies über die mediale Berichterstattung…“ Pressemeldung von Amnesty International Deutschland vom 9. Dezember 2019 zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember - Oliver Nachtwey: „Was die meisten Proteste teilen, das ist die Verklammerung von Ungleichheit und Demokratie“
„Klimaschutz-Demonstrationen, Streiks in Frankreich, Anti-Regierungs-Proteste in Rumänien – Europa ist politisch in Bewegung. Dahinter stehe ein Demokratie- und Kapitalismusproblem, sagte der Soziologe“ Oliver Nachtwey im Gespräch mit Frederik Rother am 5. Dezember 2019 beim Deutschlandfunk : „Versprechen von Wohlstand und Teilhabe könnten immer weniger eingelöst werden. (…) Wir hatten ja schon 2010, 2011 einen großen Protestzyklus, mit den „Indignados“ in Spanien und der globalen „Occupy“-Bewegung, das ist etwas abgeebbt. Aber in einer neuen Form kehrt jetzt dieser Protest, der im Wesentlichen um die Frage geht, was ist ein Bürger, und der um die Frage der Gerechtigkeit geht, der kehrt jetzt wieder und weitet sich, und das ist das Besondere, auch sehr stark nach Osteuropa aus. (…) Es gibt nicht in jedem Land die gleichen Gründe, aber was die meisten Proteste teilen, das ist die Verklammerung von Ungleichheit und Demokratie. Und zwar auf die Frage hin, wie kann ich als Bürger in dieser Gesellschaft ein würdevolles und gerechtes Leben führen? Und welche Ansprüche habe ich da dran? (…) Ja, der Kapitalismus kann seine allgemeinen Versprechen, nämlich die Teilhabe am Wohlstand und die Teilhabe an der Demokratie, einer Art Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger, immer weniger einlösen. Und deshalb ist es nicht nur der westliche Kapitalismus, der dort in der Krise steckt, sondern wir erleben ja gerade eine im Grunde globale Protestwelle. Chile, Kolumbien, Indonesien, der Libanon, ganz Südamerika ist im Grunde in Aufruhr. Das heißt, alle diese Proteste vereint dieses Moment, dass der Kapitalismus tatsächlich in einer Funktionskrise ist, sowohl ökonomisch bei der Ungleichheit als auch demokratisch, das häufig die politischen Eliten sich nicht hinreichend auf die Anliegen der Demonstrierenden einlassen. (…) Es gibt es noch keine wirklichen europäischen Protestbewegungen außerhalb der Klimabewegung. Was man aber in den letzten Jahren stärker beobachten konnte, waren verschiedene Formen des Versuchs der Koordinierung. Es gab im Jahr 2011 koordinierte Generalstreiks in Spanien, Portugal und Griechenland. Es gibt jetzt Protestbewegungen zum Discounter Amazon, wo verschiedene Streikbewegungen sich zusammenschließen, es gibt aber auch politische Bewegung wie Pulse of Europe oder Diem25, die versuchen, das tatsächlich noch mal stärker zu artikulieren. Die Proteste werden europäischer, das ist aber ein langsamer Prozess. Es gibt dort Sprachbarrieren, es gibt dort Landesgrenzen, das dauert, deshalb finden die Proteste erst mal nach wie vor innerhalb der Nationalstaaten statt, weil dort eben auch die demokratische Verfassung, sagen sie, die Regeln setzt und dagegen wendet man sich erstmal.“ (Audiolänge: ca. 8 Min., hörbar bis zum 19. Januar 2038) - Der Mythos von den weltweiten Kämpfen. In vielen Ländern gehen Menschen auf die Straße. Aber es lohnt sich genauer hinzusehen, was die Ziele sind
„… Nicht nur in Hongkong gehen in diesen Wochen Menschen auf die Straße, sondern auch im Libanon, in Iran, im Irak, in Chile und in Ecuador. In vielen Ländern gibt es Massendemonstrationen, auf die die Regierungen in der Regel mit brutaler Gewalt reagieren, wie in Chile, wo zahlreiche junge Demonstranten ihr Augenlicht verloren haben . Schon schwärmen mache von der Rückkehr der globalen Aufstände, ohne Führungspersonen und Großorganisationen, die ja schon in Occupy-Zeiten mehr Wunsch als Wirklichkeit waren. Mario Neumann stellt sich in einem Kommentar in der Tageszeitung Neues Deutschland selber die Frage, ob man denn die unterschiedlichen Proteste einfach unter „globale Aufstände“ subsumieren kann. (…) Es geht nicht um eine Führung oder Ideologie, aus der sich alles ableitet, sondern es geht um die Gemeinsamkeiten, die sich quasi automatisch ergeben. Trotz aller regionalen Unterschiede sind sie auf Erfahrungen des Lebens im globalen Kapitalismus gegründet – und auf die Suche nach Möglichkeiten von Widerstand und Alternativen. Diese Gemeinsamkeiten sind daher kein Zufall. In einer Replik auf Neumann kritisiert Christopher Wimmer , dass der immer noch fragt, welche Rolle linke Parteien und Gewerkschaften in diesen Aufständen spielen könnten. Wimmer strapaziert den Mythos von Aufständen, die ohne jegliche Kooperation mit Linken und Gewerkschaften den revolutionären Weg gehen werden. Selbst, wenn man jene Proteste in den Mittelpunkt stellt, in denen eben nicht – wie in Hongkong – die Abstiegsangst einer vom Kolonialismus geförderten Schicht der Antrieb ist, wird dieses Diktum doch durch die Realität stark infrage gestellt. Im Irak, wo in den letzten Wochen die Aufstände blutig niedergeschlagen wurden, tritt die Regierung zurück, weil ein Großayatollah sie dazu aufgefordert hat. Das ist nur ein Beispiel dafür, was passiert, wenn sich aus Protesten keine stabile linke, emanzipatorische Hegemonie herausbildet. Dann bemächtigen sich Reaktionäre aller Art dieser Proteste und dann spricht eben nicht die Bevölkerung, sondern der Ayatollah. Das führt nicht zu einem kritischen linken Bewusstsein, sondern zur Verstetigung reaktionärer Ideologie. Das Beispiel Brasilien, wo die Proteste in der Endphase der Regierung der Arbeiterpartei von Rechten gekapert wurden und sie Bolsanaro den Weg bereiteten, hat unter den Unterstützern des „Aufstands ohne Führung und Großorganisationen“ kaum zum Nachdenken geführt. Auch für die Gelbwestenbewegung in Frankreich taugt Wimmers Einschätzung nicht. Tatsächlich haben die Proteste aus verständlichen Gründen ohne Gewerkschaften begonnen. Die Protagonisten sind in der Regel keine Gewerkschaftsmitglieder und die Gewerkschaften haben auch an Einfluss durch den Umbau der Arbeitsverhältnisse verloren…“ Artikel von Peter Nowak vom 02. Dezember 2019 bei telepolis
- Ende der rechten Einheitsfront ‒ Wie die aktuellen Aufstände Lateinamerika verändern
„Der Neoliberalismus ist in Lateinamerika nicht oder nur mit enormer Gewalt durchzusetzen. Das ist ein Schuss vor den Bug der Eliten (…) Die Linke in Deutschland reagiert unterschiedlich. Manche sehen den Sozialismus auf dem Vormarsch. Die meisten wiegeln ab: Die neue Regierung Argentiniens ist nicht links; Morales in Bolivien verfolgt nur ein Modernisierungsprojekt; Venezuela unter Maduro ist autoritär, korrupt und abgewirtschaftet. Nirgendwo bestehe ein linkes, sozialistisches Projekt, die meisten Proteste seien strategielos. Von einem Land an der Peripherie oder Semiperipherie des neokolonialen kapitalistischen Weltsystems ein sozialistisches Projekt zu erwarten, geht an den Machtverhältnissen vorbei. Dennoch sollten die Ereignisse nicht unterschätzt werden. Die geopolitischen Verhältnisse verändern sich. Das Wegbrechen der extrem rechten Einheitsfront in Lateinamerika erschwert die aggressive US-Politik deutlich. Es entspannt die Situation für Venezuela und Kuba. Sicher ist die katastrophale Situation in Venezuela nicht nur den USA anzulasten und die Maduro-Regierung nicht sozialistisch. Doch eine Militärintervention und die rechte Opposition eröffnen sicher keine bessere Perspektive. Zugleich gibt es an der Basis starke linke Bewegungen. (…) Der Neoliberalismus ist in Lateinamerika nicht oder nur mit enormer Gewalt durchzusetzen. Das ist ein Schuss vor den Bug der Eliten. Und es strahlt auf andere Länder aus. Alternative Projekte von unten gewinnen mehr Raum, die geopolitischen Verhältnisse werden durchgeschüttelt. Das ist alles nicht die sozialistische Revolution, die muss weiterhin von unten entwickelt werden. Aber die politischen Entwicklungen in Europa, die von hiesigen Kritikern der lateinamerikanischen Linken gefeiert werden (eine sozialdemokratische Regierung in Portugal, ein politischer Rückschlag für einen rechtsextremen Innenminister in Italien …), bleiben weit dahinter zurück.“ Artikel von Dario Azzellini vom 19.11.2019 bei amerika21 , erschien zuerst in der Printausgabe von „Analyse&Kritik ‒ Zeitung für linke Debatte und Praxis“ Nr. 654 vom 12. November 2019
- Beziehungsweise Aufstand. Um die Subjektivität der globalen Revolten zu begreifen, hilft linke Klassenkampfnostalgie nicht weiter
„Sieht man einmal von Haiti ab, wäre es falsch zu behaupten, dass die globalen Aufstände des Jahres 2019 von der deutschen Öffentlichkeit verschwiegen worden wären. Hongkong, Sudan, Ecuador, Irak, Libanon, Chile, Ägypten, Algerien, aber auch Frankreich: Man erfährt zuverlässig, dass eine weit geteilte Unzufriedenheit sich in Massenbewegungen übersetzt. Fragezeichen gibt es jedoch wenige. Der Aufstand: ein letztlich ganz normaler Vorgang, der keiner weiteren Erklärung bedarf – außer vielleicht einer näheren Betrachtung der zugrunde liegenden Missstände? Braucht es keine theoretische Diskussion, warum fast zeitgleich neue Aufstandsbewegungen die Bühne der Politik betreten? Und ist es selbsterklärend, dass viele die Form der führungslosen Demokratiebewegungen annehmen – und dass die Bilder, die sie erzeugen, an die Revolten von 2011 erinnern? Und zu guter Letzt: Haben die Ereignisse eigentlich eine Bedeutung für die Diskussionen hierzulande, oder sind sie nur Geschichten aus einer anderen politischen Welt? Diese Fragen müsste sich zumindest die Debatte der Linken stellen, die seit Jahren um die Frage kreist, welche Politik im Angesicht der multiplen Krise und ihrer autoritären, rechten Beantwortung erforderlich ist. Es gab bereits viele Vorschläge: Von einem »neuen Linkspopulismus« war die Rede, häufiger noch von einer »neuen Klassenpolitik«. Stets ging es um die Frage, wie eine Linke beschaffen sein müsste, damit die Menschen (wieder) links statt rechts werden – oder zumindest wählen. Die deutsche Diskussion hat ein ernüchterndes Ergebnis: Letztlich müsse linke Politik die materielle Lage und die daraus resultierenden Interessen der unteren Klassen wieder zu ihrem zentralen Bezugspunkt machen. Die Rückbesinnung auf Tugenden, die in Wahrheit seit Jahrzehnten im Zentrum linker Partei- und Gewerkschaftspolitik stehen, soll die Antwort auf die Schwäche linker Politik sein. Hier treffen sich linksradikale und gewerkschaftliche Positionen in einem oft ökonomistischen Menschenbild und in einer viel zu simplen Analyse, die letztlich versucht, Politik zu suspendieren. (…) Sind wir nicht fast alle Mieter*innen, Lohnabhängige, Prekarisierte? Das muss nicht immer falsch sein, wie die wichtigen Erfolge der Mieterbewegung zeigen. Trotzdem liegen die Formen, in denen sich die Massenbewegungen der letzten Jahrzehnte artikulierten, quer dazu. Die neuen Aufstände haben nicht viel zu tun mit den antiquierten Bildern von Klasse und Interesse, sie überschreiten sie von Anfang an. Das zeigt sich einerseits in der Zentralität der Demokratiefrage, andererseits in der Art und Weise, wie sich das Gemeinsame bildet. Die Aufstände haben zum Teil fast abwegige Auslöser, die die Härte des täglichen Überlebens symbolisieren und doch von jeder gewerkschaftlichen oder betrieblichen Begrenzung befreit sind. Sie artikulieren, zum Beispiel in Chile, eine ganzheitliche Erfahrung eines enteigneten Lebens, den Zusammenhang aus Schulden, Löhnen, Mieten, Gesundheit, Bildung und vielem mehr. Es geht nicht bloß um Ausbeutung und Umverteilung, es geht um Herrschaft und Emanzipation. Es geht um das politische Kommando über das Leben, um die moralische Ökonomie der Schulden, um patriarchale Gewalt und Arbeitsteilung, um Staatsbürgerschaft und autoritäre Politik. Darin öffnen sie sich ganz unterschiedlichen Realitäten und den mit ihnen verbundenen Subjekten: Frauen, Migrant*innen, Indigenen, jungen Menschen, Arbeiter*innen, Prekären. Die Regierungspolitiken und die Rolle des Staates im Neoliberalismus stehen im Zentrum der Aufstände: Der Staat hat sich nicht aus den politischen und ökonomischen Prozessen zurückgezogen und die Menschen dem Marktgeschehen überlassen. Er ist zentraler Akteur einer ökonomischen und politischen Macht, die sich auf die immer schamlosere Ausbeutung, Enteignung und Disziplinierung der Bevölkerungen richtet. Deswegen ist eine Forderung überall zentral: Es geht um Demokratie. (…) Die Menge muss nicht durch bewusstseinsbildende Maßnahmen von ihren gemeinsamen Interessen überzeugt, auf diese reduziert und in eine Klasse umgewandelt werden, um dann wiederum von linken Organisationen angeführt zu werden. Die Menge betritt unmittelbar die Bühne der Politik: In ihrer Unterschiedlichkeit sucht sie das Gemeinsame, das kollektive Potenzial – nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner…“ Artikel von Mario Neumann in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 654 / 12.11.2019
- Wacht auf, Verdammte dieser Erde
„Die Verteidiger der „wirtschaftlichen Freiheit“ kümmern sich wenig um Demokratie. Dem Neoliberalismus geht es einzig und allein um die Sicherung wirtschaftlicher Macht. Zwei der „freiesten Volkswirtschaften“ der Welt stehen in Flammen. Nach Indizes der „wirtschaftlichen Freiheit“, die jährlich unabhängig von zwei konservativen Denkfabriken veröffentlicht werden – der Heritage Foundation und dem Fraser Institute – steht Hongkong in den Rankings seit über 20 Jahren an erster Stelle. Chile belegt in beiden Indizes den ersten Platz in Lateinamerika und steht im weltweiten Ranking bei beiden auch vor Deutschland und Schweden. (…) Die Wut lässt sich vielleicht besser durch andere Rankings erklären: Chile steht zwar in Sachen wirtschaftlicher Freiheit unter den ersten 25 – tut dies aber auch bei der Einkommensungleichheit. Wäre Hongkong ein eigener Staat, würde er zu den zehn mit der weltweit größten Ungleichheit gehören. Beobachter verwenden häufig den Begriff Neoliberalismus, um die Politik hinter dieser Ungleichheit zu beschreiben. Der Begriff mag einem vage erscheinen, aber die Vorstellungen hinter dem Index für wirtschaftliche Freiheit helfen, ihn scharf zu stellen. (…) Pinochet, Thatcher und Reagan mögen tot sein. Doch die Kennzahlen für wirtschaftliche Freiheit halten das neoliberale Banner weiter in die Höhe, indem sie die Ziele sozialer Gerechtigkeit in alle Ewigkeit als unrechtmäßig verschreien und die Nationalstaaten dazu drängen, sich einzig als Wächter der wirtschaftlichen Macht zu betrachten…“ Artikel von Quinn Slobodian in der Übersetzung von Holger Hutt am 13.11.2019 beim Freitag online
- Ende des Neoliberalismus? – Nicht in EUropa
„Weltweit erheben sich Menschen gegen korrupte Regimes, Armut und Unterdrückung. Manch einer sieht darin schon das Ende des Neoliberalismus. Doch Brüssel will davon nichts wissen. Chile, Libanon, Bolivien, Kuweit, Irak: Eine so große und die Kontinente übergreifende Protestwelle hat es vielleicht noch nie gegeben. Dabei war sie schon lange vorausgesagt worden. Schon 2008 prägte der US-polnische Politikwissenschafter Zbigniew Brzezinski, Berater von Lyndon B. Johnson und Jimmy Carter, den Begriff eines “globalen politischen Erweckungsmoments”. Derzeit erlebte die Welt eine neue Ausformung, beschreibt es Samuel Brannen, Senior Fellow am Center for Strategic and International Studies, in einem aktuellen Beitrag (zitiert nach “Der Standard”). Doch die EU schaut mal wieder weg. Offizielle Statements oder gar Solidaritäts-Bekundungen mit den Demonstranten sucht man in Brüssel vergeblich. Die Außenminister blenden die Krisen aus. Das ist nicht erstaunlich. Seit dem “Arabischen Frühling” fürchtet man in der EU vor allem eins: Unruhe. Und seit den Protesten der Gelbwesten in Frankreich gilt Ruhe als erste Bürgerpflicht. Erstaunlich ist hingegen, dass die EU unbeirrt an jenem neoliberalen Wirtschaftssystem festhält, das die Proteste und Aufstände in aller Welt provoziert hat. Hier ein paar Beispiele…“ Beitrag von Eric Bonse vom 13. November 2019 auf seinem Blog LostinEU
- Dies ist die Rechnung: Eine Protestwelle rollt über den Globus, denn eine Generation fürchtet um ihre blanke Existenz
„Ich bin 22 Jahre alt und das ist mein Abschiedsbrief“, sind die ersten Worte des jungen Mannes. Der Großteil seines Gesichts ist mit einem schwarzen Tuch verhüllt; nur die Augen sind zu sehen mit ihrem müden und harten Blick unter dem ungeordneten Pony. „Ich habe Angst, dass ich sterben und euch nie wiedersehen werde“, fährt er mit zitternden Händen fort. „Aber ich habe keine Wahl, als auf die Straße zu gehen.“ Der namenlose Demonstrant, einer von vielen in Hongkong, die ihren Familien und Freunden schreiben, bevor sie sich wachsender Polizeigewalt in der Stadt entgegenstellen, ist von der New York Times in einem anonymen Treppenhaus mit der Kamera aufgenommen worden. Aber er hätte überall sein können, und das nicht nur, weil die Wände hinter dem 22-Jährigen weiß und nichtssagend sind, um seine Identität zu schützen. Von Ostasien bis Lateinamerika, von Nordeuropa bis Nahost versammeln sich gerade junge Leute in Hauseingängen und Hinterhöfen, Gassen und Kellern, deren Gesichter eine ähnliche Mischung aus Hochgefühl und Erschöpfung zeigen. (…) Eine offensichtliche Erklärung für das Phänomen des Aufruhrs ist auch die oberflächlichste: die Rolle der sozialen Medien. Sicher haben die digitalen Technologien flexiblere und horizontalere Organisationsmöglichkeiten geschaffen. Aber die Allgegenwärtigkeit dieser Werkzeuge im Jahr 2019 sagt nichts über die Motive, die die Menschen auf die Straßen treiben. Tatsächlich sind die sozialen Medien in vielen Staaten heute sowohl Instrument der staatlichen Repression wie der Revolte. Die wichtigste Gemeinsamkeit des Aufruhrs resultiert aus der Generation, die sich zeigt. Die Mehrheit derjenigen, die heute demonstrieren, sind Kinder der Finanzkrise von 2008/09. Eine Generation, die in den seltsamen und fiebrigen Jahren nach dem Kollaps einer kaputten ökonomischen und politischen Orthodoxie groß wurde, für die bisher kein Ersatz in Sicht ist. (…) Angesichts ihres ökonomischen und sozialen Scheiterns ist es nun für die Eliten schwieriger geworden, ihren Machtanspruch zu rechtfertigen. Sie werden von einer Generation herausgefordert, die von Hoffnungslosigkeit und Hoffnung zugleich befallen ist. Dies führt zu einer „Verzweiflungsmüdigkeit“, wie das der Anthropologe David Graeber nennt. Wenn es die gibt, setzen die Aufbegehrenden umso mehr ihre Körper aufs Spiel. Sie tun das, weil sie meinen, keine Wahl zu haben, und weil jene, die über sie herrschen, selten weniger angreifbar wirkten als jetzt. Die meisten der Demonstranten haben ihr Leben lang unter dem Druck der Maxime „Es gibt keine Alternative“ gelebt. Jetzt aber zwingen die Umstände dazu, die eigene politische Vorstellungskraft für die Suche nach etwas Neuem zu gebrauchen. Wie es ein Protestplakat in Chile formuliert: „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre.“…“ Beitrag von Jack Shenker vom 11. November 2019 aus ‚der Freitag‘ 45/2019 (Übersetzung: Carola Torti)
- Organisierung, nicht Organisation – Die Proteste in unterschiedlichen Teilen der Welt bringen die Frage nach gesellschaftlichen Alternativen aufs Tableau
„… Das Politische hat wieder verstärkt die Bühne betreten. Ein weltweiter Klassenkampf tobt. (…) Mario Neumann hat sich in seinem Beitrag auf der Suche nach den Gemeinsamkeiten der aktuellen Aufstände gemacht und dabei viel richtiges aufgeschrieben. Am Ende verrennt er sich jedoch in der Frage, welche »politische Kraft (…) die Macht der Menge, die sich in den Aufständen Bahn bricht, wirklich in eine politische Veränderung umsetzen« kann. Die Frage ist insofern falsch, da die Gemeinsamkeit der Bewegungen doch genau darin besteht, dass die bestehenden Apparate der Parteien und Gewerkschaften ihnen zumeist hinterherhinken oder komplett überflüssig gemacht wurden. (…) Die Protestierenden kommen aus diversen (sub)proletarischen Milieus, widerständigen Subkulturen und den Resten der alten Arbeiter*innenbewegung. Somit bilden sie keine Einheitlichkeit und Eindeutigkeit im Sinne einer Organisation, sondern sind ein vielfältiges Mosaik. Dessen Unklarheit gilt es auszuhalten, seine produktive Seite zu verstehen. (…) Ihr Kern besteht darin, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen den Weg des kollektiven Widerstands wählen und die herrschende Ordnung radikal herausfordern. Eine politische Organisation kann da nur »eine Ordnung im Dienste der Unordnung« sein, wie der französische Philosoph Alain Badiou meint. Für den Kapitalismus ist diese Unordnung der Klassenkampf von unten, indem sich die Beteiligten selbst verbünden.“ Eine Antwort auf Mario Neumann von Christopher Wimmer bei neues Deutschland vom 10. November 2019
- Weltweite Proteste – Hintergründe und Fakten
„Von Hongkong bis La Paz, von Port-au-Prince bis Quito, von Barcelona bis Beirut und Santiago de Chile – mit einer riesigen Protestwelle fordert die Zivilgesellschaft von den Verantwortlichen Veränderung. Die Anzahl derer, die weltweit auf die Straßen gehen, scheint in den letzten Monaten stetig zuzunehmen. Leider ist der Umgang mit diesen Protesten überall ähnlich: Der Staat reagiert mit äußerster Härte, immer wieder werden schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet. Bis Oktober 2019 hat Amnesty International bei Protesten in Bolivien, Libanon, Chile, Spanien, Irak, Guinea, Hongkong, Großbritannien, Ecuador, Kamerun und Ägypten Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. In Hongkong dauern die Proteste trotz des harten Vorgehens der Polizei noch immer an. In anderen Ländern wurden Proteste durch Maßnahmen wie Massenfestnahmen schnell unterbunden. So wurden in Ägypten im September mehr als 2.300 Menschen bei Demonstrationen festgenommen. Falls es zum Prozess kommt, wäre das das größte Strafverfahren im Zusammenhang mit Protesten in der Geschichte Ägyptens. Amnesty International betont immer wieder, dass friedlicher Protest kein Verbrechen ist, sondern ein Menschenrecht. Doch die Reaktionen der Regierungen auf die Proteste waren größtenteils völlig unverhältnismäßig und ungerechtfertigt – und damit rechtswidrig. Die Demonstrierenden üben ein Menschenrecht aus. Das sollte ihnen erlaubt werden. Und was genauso wichtig ist: Auch die Gründe, warum die Menschen auf die Straße gehen, haben oft mit Menschenrechten zu tun…“ Analyse vom 1. November 2019 von und bei Amnesty International Deutschland