Grenzen der Respektabilität. Zur Geschichte einer Unterscheidung

Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ zum Thema „Hartz IV“„So kann es mit dem Sozialstaat nicht weitergehen. Das war der Tenor eines Expertengremiums, das der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 einberufen und das in den darauf folgenden Jahren unter der Leitung des VW-Personalchefs Peter Hartz grundlegende Reformen des Arbeitsmarkts erarbeitet hatte. Die unter dem Stichwort „Hartz IV“ bekannt gewordene Umstrukturierung der sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen in Deutschland ist eine der neuesten Episoden einer langen Geschichte, die sich um die Frage dreht, wie mit Armut und materieller Bedürftigkeit gesellschaftlich umgegangen werden soll – und wer dafür in welcher Weise verantwortlich ist. Wer sich in diese Geschichte vertieft, stößt auf eine immer wiederkehrende Grenzziehung, die geradezu als Leitmotiv staatlicher Sozialpolitik, aber auch gesellschaftlicher Debatten über Armut und „Unterschicht“ seit dem 18. Jahrhundert bezeichnet werden kann: die Unterscheidung zwischen „verschuldeter“ und „unverschuldeter“ Armut und die davon abgeleitete Unterscheidung zwischen „unterstützungswürdigen“ und „unwürdigen“ Armen, den deserving poor und den undeserving poor. (…) Der historische Rückblick macht deutlich: Die Differenzierung der sozial schwachen Bevölkerung in solche, die eine Unterstützung der öffentlichen Hand verdient, und solche, die sie nicht verdient haben, hat mit sozialstrukturellen Merkmalen ebenso wenig zu tun wie mit einer Analyse der Kontextbedingungen, in denen sich die Einzelnen einrichten müssen. Sie ist im Kern eine moralische Unterscheidung. Ob man in die Armutszone abrutscht oder nicht, ist demnach eine Frage von Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit, von Fleiß oder Faulheit, von Disziplin oder Sichgehenlassen. In einem zweiten Schritt werden den undeserving poor dann bestimmte kulturelle Dispositionen unterstellt: der Hang zur Widersetzlichkeit und zur Verwahrlosung, zur Verschwendung und zum sinnlosen Konsum, zum schlechten Essen und zum schlechten Fernsehen. (…) Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Geschichte moralisierender Diskurse über die Unterklassen wäre die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein wahrhaft historischer Einschnitt. Ein solches Modell würde die alten Denkmuster von welfare und workfare überwinden und vor allem ein neues Verständnis von Eigenverantwortung etablieren helfen: Eigenverantwortung würde dann nicht mehr bedeuten, im Rahmen staatlicher Disziplinierungsmaßnahmen kooperieren und die eigene Arbeitskraft oft weit unter Wert verkaufen zu müssen, sondern sie wäre eine Chance, das Leben auch unter schwierigen Umständen mit sanktionsfrei zur Verfügung stehenden Mitteln – und damit in voller Respektabilität – in die Hand nehmen zu können.“ Beitrag von Jens Wietschorke vom 25. Oktober 2019 bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) externer Link aus der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ zum Thema „Hartz IV“ externer Link in der sich noch weitere lesenswerte Beiträge zum Thema befinden

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156516
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