- Automobilindustrie
- Bauindustrie und Handwerk
- Chemische Industrie
- Dienstleistungen, privat und Öffentlicher Dienst
- Elektro- und Metall(-Zulieferer)
- Elektrotechnik
- Energiewirtschaft (und -politik)
- Fahrzeugbau (Vom Fahrrad, über Trecker bis zum Flugzeug)
- Gewerkschaften als Arbeitgeber
- Holz, Papier, Glas und Kunststoffe
- Landwirtschaft und Gartenbau
- Lebens- und Genussmittelindustrie
- Maschinen- und Anlagenbau
- Rüstungsindustrie und -exporte
- Sonstige Branchen
- Stahl-Industrie
- Stoffe und Bekleidung
- Automobilindustrie
- Bauindustrie und Handwerk
- Chemische Industrie
- Elektro- und Metall(-Zulieferer)
- Elektrotechnik
- Energiewirtschaft (und -politik)
- Fahrzeugbau (Vom Fahrrad, über Trecker bis zum Flugzeug)
- Gewerkschaften als Arbeitgeber
- Holz, Papier, Glas und Kunststoffe
- Landwirtschaft und Gartenbau
- Lebens- und Genussmittelindustrie
- Maschinen- und Anlagenbau
- Medien und Informationstechnik
- Rüstungsindustrie und -exporte
- Sonstige Branchen
- Stahl-Industrie
- Stoffe und Bekleidung
- Abfall/Umwelt/Ver-/Entsorgung
- Banken und Versicherungen
- Bildungs- und Erziehungseinrichtungen
- Call-Center
- Dienstleistungen allgemein/diverse
- Gastronomie und Hotelgewerbe
- Gesundheitswesen
- Groß- und Einzelhandel
- Kultur und/vs Freizeitwirtschaft
- Öffentlicher Dienst und Behörden
- Reinigungsgewerbe und Haushalt
- Sex-Arbeit
- Soziale Arbeit, Kirche und Wohlfahrts-/Sozialverbände
- Sportwirtschaft
- Transportwesen: (Öffentlicher) Personen (Nah)Verkehr
- Transportwesen: Bahn
- Transportwesen: Hafen, Schiffe und Werften
- Transportwesen: Luftverkehr
- Transportwesen: Post- und Paketdienste
- Wachdienste und Sicherheitsgewerbe
Arbeiten und Organisieren in der Plattformökonomie. Über digitale Tagelöhner, algorithmisches Management und die Folgen für die Arbeitswelt
Dossier
“Lieferdienste als Modell: Zu neuen Beschäftigungsformen auf digitalen Plattformen wie Uber, Deliveroo oder Amazon Mechanical Turk gibt es eine breite öffentliche Diskussion. Manche sehen darin eine Form des »digitalen Tagelöhnertums«. (…) Crowdsourcing-Plattformen bieten ihre Dienstleistungen inzwischen auch für internes Crowdsourcing innerhalb von Unternehmen an. Management per Algorithmus gibt es nicht nur im Bereich der Plattformarbeit, auch wenn es dort am deutlichsten in Erscheinung tritt und am besten erforscht ist. Deshalb befasst sich dieser Report nicht nur mit der Plattformarbeit im engeren Sinne, sondern auch mit dem Arbeiten auf digitalen Plattformen im Allgemeinen…“ Studie von Stefan Lücking als Report 5 vom September 2019 bei der Hans Böckler Stiftung. Siehe zum komplexen Thema hier unter dem Aspekt der Arbeitsbedingungen (siehe die (unvollständige) Liste weiterer Dossiers ganz unten):
- EU-Richtlinie für Plattformarbeit: Was bei der Umsetzung in Deutschland nicht fehlen darf
„Eine neue EU-Richtlinie soll die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitenden verbessern. Die Mitgliedstaaten haben in der Umsetzung allerdings große Freiräume. Gewerkschaften, Forschende und Plattformarbeitende fordern deshalb eine klare und starke Umsetzung in deutsche Gesetze. (…)
Die finale Fassung soll noch im Oktober als offizieller Gesetzestext im Amtsblatt der EU erscheinen. Dann werden die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit haben, die Richtlinie in nationale Gesetze umzusetzen.
In Deutschland arbeitet das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) schon seit über vier Jahren daran, Plattformarbeit fairer zu gestalten – bisher ohne konkrete Ergebnisse. Im November 2020 veröffentlichte das BMAS ein Eckpunktepapier . Da zeichnete sich auf der höheren EU-Ebene aber schon Bewegung ab, das Vorhaben wurde beiseitegelegt. (…)
Als Arbeiter:in gerichtlich gegen Scheinselbständigkeit vorzugehen kostet in der Regel viel Zeit und Geld – Ressourcen, die viele Plattformarbeitende nicht haben. Mit der Richtlinie will die EU den Prozess zugunsten der Arbeiter:innen umdrehen: Dann müssen die Unternehmen beweisen, dass sie ihre Arbeiter:innen richtig behandeln. Dafür hatte die EU-Kommission ursprünglich klare Kriterien geplant. Diese Kriterien konnten die EU-Mitgliedstaaten dann aber aus dem fertigen Gesetz herauskürzen. Sie dürfen nun selbst bestimmen, welche Kriterien sie sich in ihre nationalen Gesetze schreiben wollen. Das wird aber vor allem dazu führen, dass es in jedem EU-Staat weiter leicht unterschiedliche Regeln geben wird und sich Arbeitende weiter im Unklaren sind, was genau jetzt für sie gilt. Das sehen auch einige der Mitgliedstaaten so, etwa Bulgarien.
Es braucht eine starke Umsetzung
Gewerkschaften fürchten, dass die Richtlinie ihre Wirkung verlieren könnte, sollten diese Kriterien zu ungenau definiert werden. „Wir streben eine starke Umsetzung an“, sagte Mark Baumeister von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die unter anderem die Interessen von Kurierdienstfahrer:innen vertritt. Auch die Referentin für Selbständige bei ver.di, Veronika Mirschel, sieht eine klare Regelung als notwendig. Sie will nicht, „dass jeder jetzt plötzlich als Angestellter bei Plattformen gilt, nur weil er über eine Plattform arbeitet.“ Die Gefahr einer „De-Facto-Abschaffung der Selbständigkeit“, wie die Richtlinie in FDP-Kreisen gefürchtet wurde, besteht laut Mirschel aber nicht. (…)
Subunternehmen bieten ein Schlupfloch
Doch selbst wenn die deutsche Regierung die Richtlinie mit klaren Kategorien umsetzt, bleiben den Plattformen Möglichkeiten, ihre Pflichten zu umgehen. Zum Beispiel, indem sie die Verantwortung auf andere Firmen schieben, erklären Patrick Feuerstein und Tobias Kuttler vom Forschungsprojekt „Fairwork“. „Das Subunternehmertum birgt hier Probleme, da es oft als Schlupfloch genutzt wird, um Arbeitsstandards zu unterlaufen. Ohne strikte Kontrolle könnte die Richtlinie ihre Wirkung verfehlen“, prognostiziert Feuerstein. Plattformen wie Uber oder Bolt beschäftigen ihre Fahrer:innen oft nicht selbst, sondern regeln das über kleinere Subunternehmen. Für die gelten nicht die selben Regeln wie für die großen Plattformen. Hier müssten für Subunternehmen die gleichen Bedingungen gelten wie für die direkt angestellten Beschäftigten, sagt Tobias Kuttler von Fairwork. Das Problem des Subunternehmertums geht die EU-Richtlinie nicht direkt an. Die beiden Forschenden von Fairwork erhoffen sich deshalb, dass das BMAS es bei der deutschen Umsetzung auf die Agenda setzt…“ Beitrag von Ben Bergleiter vom 29.10.2024 in Netzpolitik - [Richtlinie zur Verwendung von Algorithmen am Arbeitsplatz] Plattformarbeit – EU-Recht verbessert Arbeitsbedingungen deutlich „Menschen, die ihre Dienste über Digitalplattformen anbieten, werden künftig besser geschützt. Die Minister im Europäischen Rat haben am 14. Oktober 2024 der neuen EU-Richtlinie über Plattformarbeit zugestimmt. Diese müssen nun die EU-Mitgliedsstaaten binnen zwei Jahren in nationales Recht umsetzen. (…) Aufgrund ihrer Einstufung als „Selbständige“ fehlt den Plattformbeschäftigten meist jegliche soziale Absicherung. (…) Plattformbeschäftigte sollen besser geschützt werden. Dafür wird ein Arbeitsverhältnis zwischen der Plattform und der Person, die über diese Plattform arbeitet, angenommen, wenn es „Tatsachen gibt, die auf eine Kontrolle und Steuerung der arbeitenden Person durch die Plattform hinweisen.“. Entscheidend sind also konkrete Anhaltspunkte, die belegen, dass die Plattform die Arbeitskraft kontrolliert und steuert. Kern der Richtlinie ist nun die „Beweislastumkehr“. Der Plattformanbieter muss nachweisen, dass kein vollwertiges Arbeitsverhältnis zwischen der Plattform und dem Arbeitenden entstanden ist, also eben keine Kontrolle oder Steuerung der arbeitenden Person vorliegt. (…) Digitale Arbeitsplattformen nutzen Algorithmen zur Personalverwaltung, um Plattformbeschäftigte zu organisieren. Diese müssen künftig umfassend informiert werden. Bestimmte personenbezogene Daten dürfen nicht verarbeitet werden, darunter Informationen über den emotionalen Zustand, private Gespräche, gewerkschaftliche Aktivitäten, ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse Überzeugungen oder den Gesundheitsstatus. Biometrische Daten sind nur zur Authentifizierung erlaubt. Außerdem müssen die Systeme von qualifiziertem Personal überwacht werden…“ Meldung für Betriebsräte vom 21. Oktober 2024 beim Bund-Verlag
- Laut Artikel 20 der Richtlinie sollen Plattformarbeiter*innen privat und sicher miteinander kommunizieren (und sich organisieren) können – es gibt Ausgestaltungsbedarf
„Ein neues EU-Gesetz schreibt vor, dass Unternehmen Kommunikationskanäle anbieten müssen, und ein Diskussionspapier bietet dafür erste Ansätze
„Lieferdienst-Rider, Clickworker, Texter*innen, Reinigungs- und Pflegekräfte: Immer mehr Werktätige bekommen ihre Aufträge über Websites oder Apps direkt von den Kund*innen. Sie arbeiten oft einzeln. Das heißt: Bei zu niedrigem Lohn, Ausbeutung oder anderen Problemen können sie sich nicht miteinander austauschen und gemeinsam vorgehen. Das ist eins der Probleme, dass die EU mit einem vor wenigen Monaten beschlossenen Gesetz angehen will. Die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit soll unter anderem gegen Scheinselbständigkeit vorgehen und legt Unternehmen einen strengeren Datenschutz auf. Sie dürfen etwa keine biometrischen Merkmale oder emotionalen Zustände ihrer Beschäftigten mehr erheben und müssen die Risiken ihrer Algorithmen für die psychische und physische Gesundheit der Beschäftigten beurteilen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Das Recht auf Kommunikation. Laut Artikel 20 der Richtlinie sollen Plattformarbeiter*innen privat und sicher miteinander kommunizieren können. Auch ihre Vertreter*innen, wie zum Beispiel Gewerkschaften, sollen sie so kontaktieren können. Außerdem dürfen Arbeitsplattformen nicht auf diese Kontakte und Kommunikation zugreifen oder sie überwachen. Ein wichtiger Schritt für mehr Arbeiter:innenrechte, denn miteinander reden zu können ist eine Grundvoraussetzung, um Betriebsräte zu gründen oder sich anderweitig selbst zu organisieren. Die EU kann Gesetze entweder als Verordnung oder als Richtlinie beschließen, das Gesetz zur Plattformarbeit ist eine Richtlinie. Während eine Verordnung direkt als Gesetz gilt, müssen Richtlinien erst von den EU-Mitgliedstaaten in ihr nationales Recht umgesetzt werden. Sie haben so einigen Spielraum – und haben sich während der langen Verhandlungen zur Richtlinie sogar noch mehr Spielraum herausgehandelt. In diesem Fall muss also Deutschland ein eigenes Gesetz schreiben, dass die Regeln der EU-Richtlinie enthält. Die Richtlinie soll im September offiziell im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden, ab dann hat Deutschland zwei Jahre Zeit. (…) Auf Einladung des Thinktanks Minor diskutierten im Mai Plattformbetreiber, Plattformarbeiter*innen und Menschen aus dem BMAS, Gewerkschaften, Beratungsstellen und Wissenschaft miteinander über mögliche Ausgestaltungen der verpflichtenden Kommunikationsplattformen. Das Gespräch und dessen schriftliche Auswertung als Discussion Paper fanden im Rahmen des Projekts Chancengerechte Plattformarbeit statt. Vorhergehende Veröffentlichungen beschäftigen sich beispielsweise mit Interessenvertretung oder sozialer Sicherung in der Plattformarbeit. Das Recht auf Beschäftigtenkommunikation ist eine „wichtige Voraussetzung für kollektive Interessenvertretung“, so die Autorinnen des Papiers, außerdem befördere Kommunikation die Umsetzung der übrigen Forderungen der EU-Richtlinie. Die befragten Stakeholder sahen Ausgestaltungsbedarf unter anderem in folgenden Bereichen: Zugang (…) Moderation (…) Finanzierung und Verwaltung (…) Zu diskutieren sei auch noch, welche Interessensvertretungen zu welchen Kanälen Zugang erhalten. „Es besteht die Gefahr des ‚Overcrowding‘, wenn ohne entsprechende Regulierung zu viele unterschiedliche Akteure … in die Kanäle drängen und dort konkurrierend agieren.“ Das könne Übersichtlichkeit und Austauschqualität beinträchtigen.“ Beitrag von Martin Schwarzbeck vom 19. August 2024 bei Netzpolitik.org („Plattformarbeit: Wie Beschäftigte frei kommunizieren sollen“) zum Discussion Paper im Rahmen des Projekts Chancengerechte Plattformarbeit - Data Workers‘ Inquiry: Die versteckten Arbeitskräfte hinter der KI erzählen ihre Geschichten – „die Datenarbeiter:innen werden wie Wegwerfartikel behandelt“
„Ohne Millionen Datenarbeiter:innen würden weder sogenannte Künstliche Intelligenz noch Content-Moderation funktionieren. In einem neuen Projekt erzählen sie ihre Geschichten: von Plattformarbeiter:innen in Venezuela und Syrien über Angestellte von Outsourcing-Firmen in Kenia bis zu Content-Moderator:innen in Deutschland.
Heute startet die Initiative „Data Workers‘ Inquiry“ , zu deutsch etwa: Datenarbeiter:innen-Befragung. In dem gemeinsamen Projekt vom Weizenbaum Institut, der Technischen Universität Berlin und dem Distributed AI Research Lab berichten Arbeitskräfte, die hinter sogenannter Künstlicher Intelligenz und Content Moderation stecken, von ihrer Arbeits- und Lebenswelt. Die Berichte umfassen Texte, Videos, Podcasts sowie Comics und Zines. Wir haben Mit-Initiatorin Milagros Miceli gefragt, was sich aus den Befragungen lernen lässt. Miceli ist Soziologin und Informatikerin. Sie leitet ein Team am Berliner Weizenbaum-Institut und forscht seit Jahren zur Arbeit hinter KI-Systemen, unter anderem zur Datenannotation. (…)
Datenarbeiter:innen sind unverzichtbar für die Entwicklung und Wartung der beliebtesten Plattformen und Systeme, die wir nutzen. Es gibt keine KI ohne die Arbeit, die in die Datensammlung, -bereinigung und -kommentierung fließt, und ohne algorithmische Überprüfung. Ohne die kontinuierliche Arbeit von Inhaltsmoderator:innen, die Social-Media-Plattformen, aber auch Suchmaschinen und Tools wie ChatGPT nutzbar machen, wären wir nicht in der Lage, diese Systeme zu nutzen, ohne ernsthafte psychologische Schäden davonzutragen (…) Die menschliche Arbeit ist ein notwendiger Teil des Kreislaufs zur Erzeugung und Maximierung des Mehrwerts. Doch dafür muss die Arbeitskraft verfügbar und billig sein. Daher verlassen sich die meisten Tech-Giganten auf Plattformen und Unternehmen, die ausgelagerte Arbeitskräfte bereitstellen, die rund um die Uhr zu niedrigen Kosten verfügbar sind. Der beeindruckende Fortschritt der KI-Technologien, den wir in den vergangenen zehn Jahren erlebt haben, korreliert mit dem Aufschwung von Plattformen und Unternehmen für Datenarbeit. Der Aufschwung begann mit der Gründung von Amazon Mechanical Turk vor 20 Jahren. Das Mechanical-Turk-Modell machte eine große Anzahl von Arbeitskräften weltweit jederzeit und zu günstigen Preisen verfügbar.
[netzpolitik.org: Im Data Workers‘ Inquiry berichten Datenarbeiter:innen aus ganz unterschiedlichen Arbeitskontexten und Weltregionen. Unter ihnen sind Plattformarbeiter:innen in Venezuela und Syrien, Angestellte von Outsourcing-Firmen in Kenia und auch Content Moderator:innen in Deutschland. Gibt es so etwas wie eine universelle Erfahrung, die alle von ihnen teilen?]
Milagros Miceli: Die meisten Datenarbeiter:innen haben einiges gemeinsam: Sie werden nicht für ihre Zeit bezahlt, sondern nur für erledigte Aufgaben. Meist erhalten sie magere Stundenlöhne von gerade einmal 2 US-Dollar in Kenia oder 1,7 US-Dollar in Argentinien. Sie haben keine Arbeitsrechte oder sonstigen Schutz. Und sie sind der Überwachung und der Willkür von Auftraggeber:innen und Plattformen ausgesetzt. In vielen Fällen tragen sie auch dauerhafte psychische Probleme von der Arbeit mit sich. Die meisten Datenarbeiter:innen unterliegen Geheimhaltungsvereinbarungen, die sie daran hindern, mit anderen darüber zu sprechen, was vor sich geht. Wir haben Fälle erlebt, in denen Beschäftigte keine psychologische oder rechtliche Beratung in Anspruch genommen haben, weil ihnen gesagt wurde, dass dies einen Bruch der Geheimhaltungsvereinbarungen bedeuten würde, dass sie mit ihren Arbeitgebern abgeschlossen haben.
Vor allem im globalen Süden gibt es strukturelle Abhängigkeiten, die den Beschäftigten keine andere Wahl lassen, als solche Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Vor allem an Orten mit hoher Arbeitslosigkeit werden die Arbeitnehmer:innen wie Wegwerfartikel behandelt. Das Outsourcing-Modell erlaubt es den Unternehmen auch, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wenn Probleme auftreten, fühlt sich niemand für das Wohlergehen der Arbeitnehmer:innen verantwortlich, und sie werden allein gelassen. (…)
Wenn die Community-Forscher:innen andere Arbeiter:innen interviewen, wissen sie, was und wie sie fragen müssen. Durch ihre gemeinsamen Erfahrungen fassen sie sofort Vertrauen zueinander. Gute Beispiele dafür sind die Podcasts und Dokumentationen auf unserer Website. Oder das Zine über afrikanische Frauen in der Content-Moderation , in dem Wanderarbeiter:innen ihre Erfahrungen mit psychologischem, wirtschaftlichem und sexuellem Missbrauch bei der Firma Sama in Kenia teilen. Oder der herzzerreißende Bericht , der die psychischen Probleme der Content-Moderator:innen von Meta untersucht. All das sind gute Beispiele für die Unterstützung von Community-Mitgliedern, die ihre persönlichen Geschichten erzählen. (…)Die Verletzung von NDAs kann für die Arbeitnehmer:innen sehr ernste Folgen haben. Im vergangenen Jahr wurde ein Moderator bei Telus International in Essen , Deutschland, wegen seiner Aussage über die Arbeitsbedingungen im Bundestag entlassen. Dies bedeutet nicht nur den Verlust ihres Einkommens, sondern könnte auch zum Verlust des Visums oder Aufenthaltstitels für die vielen Migrant:innen führen, die für ihren rechtlichen Status auf diese Arbeit angewiesen sind. Dennoch melden sich unsere Community-Forscher:innen zu Wort. Das zeigt, wie wichtig es den Autor:innen ist, ein großes Publikum zu erreichen. Sie sind unglaublich mutig, und sie hoffen natürlich, dass ihre Geschichten gehört werden. (…)
Die Schlüsselrolle der Datenarbeiter:innen für das reibungslose Funktionieren der KI erinnert an die grundlegende marxistische Annahme, dass nur menschliche Arbeit Mehrwert schaffen kann, ungeachtet der Versuche, sie auf bloße Anhängsel von Maschinen zu reduzieren. Datenarbeit sollte folglich als eine Produktionsweise analysiert werden, die die Entfremdung verschärft, indem sie die Arbeiter:innen physisch von ihren Produkten trennt. Das erschwert es den Datenarbeiter:innen, sich zu organisieren und die Kontrolle über ihre Produktionsmittel auszuüben. (…) Ohne politischen Druck und öffentliche Solidarität sind die Arbeitnehmer:innen den Repressalien der Technologieunternehmen ausgeliefert. Druck können sie aber nur dann ausüben, wenn sie Kanäle der Solidarität schaffen und kollektiv eine Gegenmacht zu den Konzernen aufbauen. Und nur dann können sie für gerechte Arbeitsbedingungen kämpfen. Viele der Community-Forscher:innen gehören bereits Gewerkschaften an. Dort sind sie aber in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammengeschlossen, was ihre politische Macht untergräbt. Außerdem sind viele von ihnen mit den großen traditionellen Gewerkschaften unzufrieden und wollen eigene Gewerkschaften gründen. Und auch der Einsatz von Technologie kann ihnen in diesem Kampf helfen. Technologie ist nicht per se schlecht. Sie kann den Arbeitnehmer:innen tatsächlich dabei helfen, sich zu verbinden und zu organisieren. Außerdem, so argumentieren einige unserer Community-Forscher:innen, könnten Datenarbeiter:innen ihre Aufgaben besser erfüllen, wenn Technologien nicht einseitig zu Überwachung und Effizienzsteigerung eingesetzt würden, sondern wenn sie stattdessen dazu genutzt würden, die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Arbeitnehmer:innen zu optimieren. (…)
Vor der Data Workers‘ Inquiry habe ich mehrere Studien mit Datenarbeiter:innen in Argentinien, Venezuela, Bulgarien und Syrien durchgeführt. In allen Fällen befanden sich die Auftraggeber:innen in den USA und der EU. Das prägt auch die Tätigkeiten der Datenarbeiter:innen. Sie müssen meist nachts arbeiten, weil bei den Kund:innen dann Tag ist. Und oft verstehen sie nicht, warum zum Beispiel spanischsprachige Mitarbeiter:innen englischsprachige Anweisungen erhalten. Oder ihnen sind die Objekte auf den Bildern fremd, die sie beschriften sollen. Mitunter ist es aber auch umgekehrt und ihnen sind die Bilder seltsam vertraut. So musste eine aus Syrien vertriebene Datenbearbeiterin Satellitenbilder aus ihrer Heimatregion beschriften, die dann für Überwachungsdrohnen verwendet werden sollten. Der Fall zeigt, wie die Erfahrung von Datenarbeiter:innen auch als Fachwissen genutzt wird. Sie sollen dann mitunter ausgerechnet jene Technologien verbessern, die zu ihrer Vertreibung geführt haben…“ Interview von Ingo Dachwitz vom 08.07.2024 in Netzpolitik – in Gänze lesenswert! Siehe auch: - [RLS-Broschüre] Ausgeliefert. DHL, Amazon, Hermes & Co: Wachstum, Arbeitsbedingungen und Kämpfe in einer boomenden Branche
„Treppe rauf, Treppe runter. Bis zu 200-mal am Tag. Treppe rauf, Treppe runter. Das ist der Takt der Arbeit, die Paketzusteller*innen den ganzen Tag, oft mehr als zehn Stunden lang, oft sechs Tage die Woche verrichten. Rauf und runter beschreibt auch die beiden Richtungen, in die sich die Branche Kurier, Express- und Paketdienste (KEP-Dienste), mitunter auch die Postdienste, in den vergangenen Jahren bewegt hat. Die Anzahl der zugestellten Pakete ist enorm gewachsen, Umsätze und Gewinne gehen rauf. Bei Löhnen und Arbeitsbedingungen sieht es anders aus.
Boomende Branche
Die Kurier-, Express- und Paketdienste sind einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige des Landes. Zwischen 2012 und 2022 ist die Zahl der zugestellten Pakete von 2,5 auf 4,15 Milliarden gestiegen. Das ist ein Wachstum von 66 Prozent. Der Umsatz stieg im gleichen Zeitraum von 15,5 auf 26 Milliarden Euro, das heißt um knapp 68 Prozent.
Ein Knochenjob
Trotzdem ist die Paketbranche einer der Wirtschaftsbereiche mit den niedrigsten Löhnen überhaupt. Die Arbeit der Zusteller* innen ist hart und gesundheitsschädlich, der Krankenstand liegt weit über dem Durchschnitt. Vor allem in den vielen Subunternehmen, die die Pakete auf der «letzten Meile» zustellen, sind Lohndumping und Arbeitszeitbetrug zulasten der Beschäftigten weit verbreitet. Das Problem hat System. (…)
Die Lösung
Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine Sicherung zumindest legaler Löhne sind unter den aktuellen Bedingungen nicht möglich. Die gesetzlichen Mittel reichen nicht, gewerkschaftliche Organisierung hat in den oft nur wenige Jahre existierenden Subunternehmen kaum eine Chance. Der erste und einzige realistische Schritt, um eine Verbesserung zu erreichen, ist daher das Verbot von Werkverträgen und Subunternehmerketten in der Branche und die Überführung der dort Arbeitenden in die Direktbeschäftigung, analog zur Fleischindustrie. Nur so lässt sich das System der Überausbeutung beenden und die organisierte Verantwortungslosigkeit überwinden.“ Beitrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Publikation von Jan Ole Arps und Nelli Tügel vom April 2024 in der Reihe „luxemburg beiträge“ - IAB-Studie zu Gig-Work: Prekärst beschäftigt. Viele Kuriere verdienen unterdurchschnittlich und haben befristete Jobs
„Im Laufe des Jahres 2022 arbeiteten über das Jahr verteilt insgesamt rund 94.000 Personen mindestens einmal im Jahr als sogenannte Gig-Worker bei einem Lieferdienst. Zu den umsatzstärksten Unternehmen in diesem Sektor zählen hierzulande „Just Eat and Takeaway.com/Lieferando“ – mit einem Marktanteil von knapp zwei Drittel – sowie „Dominos“ und „Wolt“. Der Begriff „Gig“ steht im Englischen für einen kurzen Bühnenauftritt. Darunter fallen etwa Kurierdienste, aber auch einfache Tätigkeiten in der Lagerwirtschaft. Gig-Work unterscheidet sich von anderen Formen der digitalen Plattformarbeit, die ortsunabhängig durchgeführt und auch als Crowdwork bezeichnet wird. (…) Laut einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) sind mehr als 90 Prozent der Fahrer:innen bei ihren Arbeitgebern als männlich registriert, gut 60 Prozent sind jünger als 30 Jahre. Zudem besitzt knapp die Hälfte der Beschäftigten keine deutsche Staatsbürgerschaft. Die meisten stammen aus asiatischen Ländern (51 Prozent) sowie aus Osteuropa (15 Prozent). Die Studie vergleicht die Lohnunterschiede zwischen Lieferdienst- und Helfer:innenberufen. Letztere ist eine Berufsklassifikation der Bundesagentur für Arbeit, die einfache Routinetätigkeiten beschreibt und für die in der Regel keine spezifischen Fachkenntnisse erforderlich sind. Demnach erhalten vollbeschäftigte Lieferdienstfahrer:innen für den Niedriglohnsektor vergleichsweise wenig Lohn. Laut Studie verdienen sie durchschnittlich gut 1.700 Euro und damit rund 800 Euro weniger als Vollzeitbeschäftigte in Helfer:innenberufen. Mehr als ein Drittel der Gig-Worker geht mindestens einer weiteren bezahlten Tätigkeit nach. Bei den Helfer:innenberufen sind es „nur“ knapp ein Viertel der Beschäftigten. Mehr als die Hälfte der Angestellten im Gig-Sektor ist zudem geringfügig beschäftigt. 57 Prozent von ihnen haben zu Beginn ihrer Tätigkeit eine befristete Anstellung. Bei den Helfer:innenberufen sind es nicht einmal halb so viele der Beschäftigten. (…) Die Studie kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Beschäftigung bei Lieferdiensten „aus individueller Perspektive“ um prekäre Arbeit handeln könne. Allerdings könnte Gig-Work „insbesondere für marginalisierte Gruppen einen Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichen und ein Sprungbrett in stabilere Beschäftigungen sein“. Unter anderem dieser Frage will das IAB in künftigen Untersuchungen nachgehen…“ Beitrag von hekta vom 5. April 2024 bei Netzpolitik.org zu:- Gig-Work bei Lieferdiensten in Deutschland: Beschäftigung hat in den letzten Jahren stark zugenommen
„Die Fahrer*innen von App-basierten Lieferdiensten sind auch in Deutschland aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Gleichzeitig wird in der Öffentlichkeit kontrovers über die Arbeitsbedingungen in der sogenannten Plattform-Ökonomie diskutiert. Das IAB untersucht nun erstmals das Wachstum und die Struktur dieser Beschäftigungsform sowie die individuellen Merkmale der abhängig Beschäftigten bei zehn großen App-basierten Lieferdiensten in Deutschland. Fast die Hälfte dieser Menschen ist geringfügig beschäftigt und ihr Einkommen ist geringer als in vergleichbaren Helferberufen…“ Beitrag von Martin Friedrich, Ines Helm, Ramona Jost, Julia Lang und Christoph Müller vom am 3. April 2024 im IAB-Forum
- Gig-Work bei Lieferdiensten in Deutschland: Beschäftigung hat in den letzten Jahren stark zugenommen
- Die Ekstase der Information: Big Tech und Plattformen
„Ekstatische Finanzspekulationen, hohe Schulden, deutlich überbewertete Tech-Aktien, massive Interventionen der Zentralbanken und in manchen Territorien eine staatlich organisierte militarisierte Akkumulation haben die Weltwirtschaft in den letzten Jahren angesichts chronischer Stagnation in der Industrieproduktion bis auf die Ausnahme Chinas am Laufen gehalten und ihre Instabilität verschleiert. Während die erste Phase der kapitalistischen Globalisierung ab den 1970er Jahren vor allem die Schaffung eines durch die Logistik unterstützten weltweit integrierten Produktions- und Finanzsystems beinhaltete, haben die neue Wellen der Digitalisierung und der Aufstieg von Big-Tech und Plattformunternehmen seit der Finanzkrise von 2008 eine sehr schnelle Transnationalisierung von digital basierten Dienstleistungen ermöglicht. Im Jahr 2017 machten diese Dienstleistungen rund 70 Prozent des gesamten Bruttoweltprodukts aus und umfassten Kommunikation, Informatik, Digital- und Plattformtechnologien, E-Commerce, Finanzdienstleistungen sowie eine Vielzahl anderer nicht materieller Produkte wie Film und Musik. (Robinson 2022a) In den westlichen Ländern sind die Finanzunternehmen auf den Zug der Finanztechnologie (Fintech) aufgesprungen, um technisch ausgereifte Modelle zu nutzen und der drohenden Krise zu entgehen. (…) Die derzeitige digitale Umstrukturierung der globalen Wirtschaft schreitet nach der Schock-Strategie von Corona rasend voran. Nach Angaben der Vereinten Nationen wird die »Sharing Economy« – d. h. die über Plattformen vermittelten Aktivitäten – bis zum Jahr 2025 auf 335 Milliarden Dollar Umsatz ansteigen. Die weltweiten Auslieferungen von 3D-Druckern haben bis Ende 2020 6,7 Millionen erreicht. Der weltweite Wert des elektronischen Handels erreichte im Jahr 2017 schätzungsweise 29 Billionen US-Dollar, was 36 Prozent des globalen BIP entsprach. Die Exporte von digital erbrachten Dienstleistungen beliefen sich im Jahr 2018 auf 2,9 Billionen US-Dollar, was wiederum 50 Prozent der weltweiten Dienstleistungsexporte entsprach. (…) Der Aufstieg der digitalen Wirtschaft geht einher mit der Verschmelzung des Silicon Valley Imperiums mit dem transnationalen Finanzkapital und dem militärisch-industriellen Sicherheitskomplex, wodurch ein neuer Kapitalblock entsteht, der den Kern des entstehenden post-pandemischen Paradigmas zu bilden scheint. Dieser neue Block wird sogar noch mächtiger sein, als er es zu Beginn der Pandemie war, und eine gewaltige neue Zentralisierung und Konzentration des Kapitals auf globaler Ebene vorantreiben. (…) Es können jetzt auch Ressourcen von Arbeitern angezapft werden, die durch das Kapital schon verbilligt wurden. Die Arbeitskräfte, die in den Centern bei Amazon arbeiten, werden getrackt und beobachtet und stellen so doppelte Zeit für das Unternehmen zur Verfügung, das zum einen von der Arbeit monetär profitiert, während es zum anderen Daten über die Bewegung der Körper im Raum akkumuliert. Dieser magische Trick, mit dem Daten als ein Nebenprodukt verschiedener Arten von billiger Arbeit gesammelt werden, ist ein großer Coup für das Kapital und eine weitere Möglichkeit für die Extraktion jeden menschlichen Rests. (…) In der »Share Economy« kontrollieren und steuern die digitalen Interfaces, die man heute Plattformen nennt, die Arbeit auf einem ganz neu strukturierten Arbeitsmarkt. So unterscheiden sich die Fahrer und Fahrradkuriere neuer Plattformen wie Uber und Wolt von den abhängigen Beschäftigten der traditionellen Unternehmen dadurch, dass sie selbst eine Dienstleistung anbieten, wobei die Mittel, um die Dienstleistung, die eine App der Plattform ihnen vermittelt, auszuführen, selbst aufzubringen sind, seien es das Auto oder das Fahrrad und auf jeden Fall das Smartphone. (…) Für viele Theoretiker sind die großen Plattformen nichts weiter als die Assemblage kommerzieller Verträge zwischen einer »principal authority«, die im Namen des Unternehmens Verträge abschließt, und einer Multiplizität von Agenten, die selbstständig für die Unternehmen Dienstleistungen bereitstellen. Die Plattformen multiplizieren somit Partnerschaften, die auf rein kommerziellen Begegnungen basieren und aufgrund derer für Dritte Serviceleistungen ohne geregelte Arbeitsverträge und Lohnarbeiter angeboten werden. (Nach wie vor ist es aber einer Reihe von Unternehmen in verschiedenen Branchen kaum möglich, ohne die Einstellung von Lohnarbeitern zu produzieren.) Schließlich sind die Beschäftigten aber nicht nur von ihrer eigenen geleisteten Arbeit, sondern auch von ihrer Einbindung in soziale Netzwerke abhängig, die durch Ratings und Rankings und andere Ordnungsverfahren strukturiert sind, und das heißt auch, dass die Ausbeutung ihrer Arbeitsressourcen und ihr Risikomanagement letztendlich von Bewertungen abhängen, die durch positive Ratings begünstigt werden und deren Akkumulation unbedingt gelingen muss. (…) Am Ende werden Dienstleistende, wie Fahrer oder Kuriere, schließlich selbst eine Facebook-Hyperpage führen müssen, auf der die verschiedenen Empfehlungen von Freunden, Mentoren, Kreditgebern, Sponsoren, Kunden und Serviceprovidern dokumentiert sind. Diese offenen, durch Algorithmen designten Profil-Portfolios, ermöglichen es erst, die Attraktivität und Vertrauenswürdigkeit einer Person darzustellen, ihren reputationalen Wert zu bestimmen und damit ihre Fähigkeit für eine Arbeit, eine Kreditlinie oder eine Partnerschaft auszuweisen. Offensichtlich müssen die privaten Asset-Manager nun selbst auf ihr eigenes »reputational capital« spekulieren oder sie müssen den Spekulationen anderer folgen…“ Beitrag von Achim Szepanski vom 15. Januar 2024 bei non.copyriot.com - Studie zur „Wirtschaftlichkeit von Q-Commerce“: Starkes Wachstum, hohe Verluste
Kaum bestellt, schon geliefert. Damit werben Online-Lieferdienste für Lebensmittel. Doch die Auswertung von öffentlich zugänglichen Unternehmensdaten zeigt: Das Geschäftsmodell „Quick-Commerce“ ist bislang wackelig. Das ergibt eine neue Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung. Wie sind die Perspektiven, auch aus Sicht der dort Arbeitenden, die oft keine guten Arbeitsbedingungen haben? Die Forschenden sehen darin Stoff für eine breite gesellschaftliche Debatte. (…) wie nachhaltig wirtschaften die Lieferdienste? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Studie von Navid Armeli, Dr. Sebastian Campagna und Alexander Sekanina vom I.M.U. zusammen mit dem Experten für Bilanzanalyse Dr. Markus Sendel-Müller. Die Forscher haben die wirtschaftliche Situation von fünf Lebensmittellieferdiensten anhand von Kennzahlen aus den Jahresabschlüssen über einen Zeitraum von sechs Jahren untersucht. Unter Berücksichtigung der Ertragslage, der Liquidität und der Finanzierung haben sie beleuchtet, ob die Geschäftsmodelle dauerhaft wirtschaftlich betrieben werden können. Zu den untersuchten Unternehmen zählen Just eat Takeaway, Delivery Hero, Hello Fresh, JD.com und Meituan Maicai. Andere Anbieter wie Getir oder Flink konnten nicht einbezogen werden. Diese Unternehmen veröffentlichten Finanzdaten nicht regelmäßig, da sie anders als börsennotierte Firmen nicht unter die Berichtspflichten des Kapitalmarkts fallen. (…) Neben Festangestellten arbeiten Rider häufig als (Schein-)Selbstständige für die Plattformen, was ihnen zwar Flexibilität bietet, aber hinsichtlich ihrer sozialen Absicherung problematisch ist. Für ihre Tätigkeit benötigen sie keine klassische Berufsausbildung. Dies erklärt, warum viele trotz geringer Bezahlung und schlechter Absicherung bereit sind, diesen Job zu machen, und warum sie es schwer haben, bessere Bedingungen durchzusetzen. „Maßgeblich für die Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie ist der wirtschaftliche Erfolg der einzelnen Unternehmen. Lediglich ertrags- und liquiditätsstarke Unternehmen können ihren Mitarbeitenden langfristig eine wirtschaftliche Perspektive bieten“, schreiben die Forscher. „Unsere Analyse zeigt jedoch, dass in den untersuchten Unternehmen die beschriebenen Erfolgsperspektiven bis dato fehlen oder zumindest als gering einzustufen sind.“ (…) Es sei zu erwarten, dass nur wenige der heutigen Anbieter überleben werden, so die Forscher. Der Markt werde sich voraussichtlich auf ein bis zwei große Unternehmen und einige Nischenanbieter konzentrieren. Zudem sei ein weiterer Trend zu beobachten: Anbieter wie Knuspr und Picnic investierten massiv in Automatisierung, um mittelfristig die Kosten zu senken. In Zukunft könnten Bestellungen vollautomatisch zusammengestellt und zu den Lieferfahrzeugen gebracht werden.
Ein Problem ist und bleibt vorerst, die Auslieferung der Waren zu den Endkund*innen, die „letzte Meile“, unter den gegebenen Bedingungen kostendeckend zu gestalten. Schlechte Aussichten also für die Beschäftigten. Sie müssen damit rechnen, dass Niedriglöhne ein wesentlicher Bestandteil der bisherigen Geschäftsmodelle in der Branche bleiben. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichten, „wie wichtig eine flächendeckende Debatte über die Situation und Perspektive der Beschäftigten in neuen Geschäftsmodellen ist. Eine erfolgreiche Transformation benötigt sowohl ideelle als auch materielle Teilhabe der Beschäftigten“, schreiben die Forscher. „Dafür braucht es ertragsstarke Unternehmen und eine sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit. Nicht jedes digitalisierte Geschäftsmodell wird diesem Standard gerecht werden können.“…“ Meldung der HBS vom 31.10.2023 zur Studie:- Navid Armeli, Sebastian Campagna, Alexander Sekanina, Markus Sendel-Müller: „Wirtschaftlichkeit von Q-Commerce“, Untersuchung der Wirtschaftlichkeit von Plattformunternehmen auf Basis jahresabschlussanalytischer Kennzahlen am Beispiel von Lebensmittellieferdiensten, Mitbestimmungsreport Nr. 78, Oktober 2023
- Plattformarbeiter: Flexibilität oder Prekarität?
„Hauslieferungen, Transport- oder Unternehmensdienstleistungen: In den letzten Jahren haben digitale Plattformen ihr Angebot ausgeweitet und immer mehr Arbeitnehmer angezogen, die oft keine andere Wahl haben, als diesen Weg einzuschlagen, der ihre Situation nur noch prekärer macht. (…) Eine Studie , die vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut (European Trade Union Institute, Etui) im Frühjahr und Herbst 2021 durchgeführt wurde, ermöglicht es, das Gewicht dieser Wirtschaft in 14 EU-Ländern zu schätzen. Die Befragung richtete sich an mehr als 36.000 Personen und berichtet, dass in den 12 Monaten vor der Umfrage 5,6 Prozent der befragten Bevölkerung für eine digitale Plattform gearbeitet haben, davon 1,6 Prozent für eine Dauer von mehr als 20 Stunden pro Woche und mit einem Einkommen von mehr als 50 Prozent ihres Gesamteinkommens. (…) Die Mechanismen der Plattformen erreichen auch die „traditionelle“ Wirtschaft und werden in diese integriert: Wie Agnieszka Piasna, Mitverfasserin der Studie, hervorhebt, „organisieren einige konventionelle Unternehmen wie Supermarktketten oder Postdienste ihre Hauslieferdienste auf die gleiche oder eine recht ähnliche Weise wie digitale Plattformen nach dem Vorbild von Uber: Die Bestellung wird direkt von der App aus übermittelt, und Anbieter ohne Arbeitsvertrag treten in Konkurrenz“.
Arbeit durch Prekarität gefördert
Wie eine im Dezember 2022 veröffentlichte Studie des Compas (Centre d’observation et de mesure des politiques d’action sociale) zeigt, lebten in Frankreich am 1. Januar desselben Jahres fast 24 Prozent der über Plattformen arbeitenden privaten Fahrer in sogenannten „Arbeitervierteln“: ein Faktor, der zeigt, dass digitale Plattformen einen besonders starken Einfluss auf die Prekarität haben. (…) Obwohl die europäische Exekutive im Dezember 2021 einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen dieser Arbeitnehmer in Europa vorgelegt hat, gibt es immer noch keine Einigung zwischen den Mitgliedstaaten, die in dieser Frage gespalten sind: Ein Jahr nach der Vorlage des Vorschlags endete die tschechische EU-Ratspräsidentschaft im vergangenen Dezember, ohne dass im Rat der Union eine Lösung gefunden wurde. (…) Eines der Hauptprobleme des vorgelegten Vorschlags ist die Umsetzung einer „Vermutung der Arbeitnehmerschaft“ bei Plattformen. Er sieht mindestens zwei Kriterien vor, die erfüllt sein müssen: eine strenge Überwachung der Arbeit und die Verpflichtung, den Arbeitnehmer zu entlohnen.
Am 2. Februar 2023 wurde eine Entschließung angenommen, um den Text zu ändern. In dieser zieht es das Europäische Parlament vor, eine „objektive Bewertung“ den nationalen Regierungen zu überlassen. Hierzu werden „als Anhaltspunkte“ eine Reihe von Indikatoren für ein Arbeitsverhältnis genannt. Aber „je mehr Kriterien es gibt, desto größer ist die Gefahr, dass Arbeitnehmer vom Qualifikationsprozess ausgeschlossen werden“, argumentiert Barbara Gomes, Professorin für Privatrecht und Mitglied des „Kollektivs der wirtschaftlich abhängigen Arbeitnehmer“ der CGT, einer linken französischen Gewerkschaft. „Wenn wir nichts unternehmen, um das System zu ändern, besteht die Gefahr, dass bald auch andere Sektoren von dieser Art der ‚Scheinselbständigkeit‘ betroffen sind“, fügt sie hinzu und verweist auf ähnliche Tendenzen, die bereits im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen und bei den Versuchen der Uberisierung der Zeitarbeit zu beobachten sind…“ Artikel von Catherine Abou El Khair (Alternatives Economiques (Paris)) in dt. Übersetzung durch Angela Eumann am 5. Juli 2023 bei Voxeurop Deutsch - Datenarbeit: Wie Millionen Menschen für die KI schuften
„Milagros Miceli erforscht, was Tech-Unternehmen gerne unter den Teppich kehren: Wie Arbeiter:innen hinter den Kulissen von ChatGPT & Co. schuften, und das für eine Handvoll Dollar. Im Interview erklärt die Forscherin, wie viel menschliche Arbeit hinter der angeblich „künstlichen“ Intelligenz steckt. (…) Micelis Forschung zeigt: Die Arbeit von Menschen verschwindet in Zeiten von vermeintlich autonomen KI-Modellen wie DALL-E 2 oder ChatGPT sicher nicht. Hinter den Kulissen leisten Legionen von Menschen die Drecks- und Fleißarbeit, ohne die man solche Technologien gar nicht bauen könnte. Das passt nicht zur Erzählung von Unternehmen, dass sich mit KI alles wie von selbst erledigt; es passt nicht zur Geschichte vom neuen Zeitalter und dem nächsten großen Ding, das uns demnächst alle in den Ruhestand schicken wird. Die Arbeit dieser Menschen bleibt oft versteckt – zumindest wenn alles nach Plan läuft. Ein Gespräch mit Miceli in ihrer hellen Büroetage in Berlin Mitte ist deswegen aufregend und erleichternd zugleich. Sie entzaubert die Erzählung von revolutionären Super-KIs. Ihren Blick richtet sie nicht auf die reichen Gründer:innen und Ingenieur:innen im Silicon Valley. Stattdessen erzählt Miceli von den Menschen in Kenia, Argentinien und Bulgarien, von Aufsteiger:innen und Geflüchteten und von ihrer profanen Arbeit im Maschinenraum der großen KI-Systeme…“ Interview von Chris Köver am 17.03.2023 in Netzpolitik - Der Arbeitskampf der digitalen Dienerschaft
„Für die Generation der Digital Natives lohnt sich Arbeit immer weniger. Für die einen nicht, weil sie ohnehin viel erben, für die anderen nicht, weil sie ohnehin nichts erben. Ein langes, hartes Arbeitsleben kann diesen Unterschied immer seltener ausgleichen. Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital wird wieder deutlicher und der technische Fortschritt spielt dabei eine entscheidende Rolle. Die Digitalisierung verändert nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch unsere Arbeit. (…) Arbeit, die Existenzgrundlage der allermeisten Menschen, soll digital kontrolliert und neu vermessen werden. (…) Die digitale Aufsicht erhält laufend Informationen. In einer ununterbrochenen Feedbackschleife lernt sie diese zu verarbeiten. So kann sie immer genauere Vorgaben machen, immer enger takten. Damit soll erreicht werden, dass hochqualifizierte Fachkräfte durch ungelernte und billigere Beschäftigte ersetzt werden können. Diese erhalten detaillierte Anweisungen von ihrer digitalen Aufsicht. Dabei ist die Abwertung von Arbeit erklärte Managementstrategie. So erschaffen die Digitalkonzerne eine neue, digitale Dienerschaft. (…) Zwei Gruppen von Arbeitnehmer:innen entstehen: Die einen arbeiten bis zur Erschöpfung, unter anderem an der Entwicklung und Implementierung digitaler Systeme, bis für Haushalt und Sorgearbeit keine Kraft mehr bleibt. Die anderen, die digitale Dienerschaft, übernehmen für sie das Erziehen, Putzen, Kochen und Liefern. Sie bekommen diese Jobs algorithmisch vermittelt und nur Hungerlöhne bezahlt. (…) Wie kann die digitale Dienerschaft die gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung erreichen, die ihr zusteht? Der Kampf führt – wie jener für menschzentrierte Technologien auch – über eine politische Auseinandersetzung und letztlich auch über Widerstand. Faire Bezahlung und eine gerechte digitale Arbeitswelt wird es ohne Aufbegehren und Protest nicht geben. (…) Die digitale Dienerschaft arbeitet in der Regel vereinzelt. Doch alleine kann man keinen Arbeitskampf erfolgreich führen. Das geht nur gemeinsam – und Begegnung findet im 21. Jahrhundert sowohl virtuell als auch physisch statt. Neben virtuellem Widerstand bedarf es, gerade in den Berufsgruppen der digitalen Dienerschaft, klassischer Organisationsarbeit. (…) Doch letztlich führt an gewerkschaftlicher Organisation kein Weg vorbei. Auch historisch betrachtet gelang die (gewerkschaftliche) Organisation der Massen in Wellen. Möglich, dass wir heute vor einer nächsten Welle stehen. (…) Auch im Zeitalter digitaler Aufsicht und algorithmisch vermittelter Arbeit ist das Rezept „Arbeiter:innen organisieren Arbeiter:innen“ unschlagbar. Aus diesem Grund müssen sich die bestehenden Institutionen der Arbeiter:innenbewegung für die Zusammenarbeit mit Basisbewegungen öffnen. Das gilt insbesondere auch in Zusammenhang mit Digitalisierung. Schließlich sind es nicht selten technische Schnittstellen, mit denen Unternehmen versuchen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse neu durchzusetzen, den Klassenkampf neu auszufechten und bestehende Schutzbestimmungen neu zu unterlaufen. Einen Beitrag dazu leistet der Digifonds Arbeit 4.0 der AK Wien. Dieser fördert Projekte, in denen Arbeiter:innen aus der digitalen Dienerschaft sich für ihre Interessen organisieren (…). Dabei zeigt sich: Die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit kann auch von den Arbeiter:innen mittels digitaler Technik geführt und gestaltet werden…“ Beitrag von Fridolin Herkommer vom 9. März 2023 im A&W-Blog des ÖGB - AlgorithmWatch-Bericht: Wie Gewerkschaften weltweit gegen unfaire Algorithmen kämpfen
„… Ob bei Amazon oder in der Plattform-Ökonomie – immer mehr Menschen werden bei ihrer Arbeit durch Algorithmen beeinflusst. Sie vergeben Aufträge, bemessen das Gehalt, beurteilen die Leistung und entscheiden über Jobs. Weltweit beginnen Gewerkschaften und Arbeitende, sich gegen potenziell unfaire Algorithmen zu wehren. So veröffentlichte etwa die spanische Gewerkschaft Comisiones Obreras 2020 einen Leitfaden mit dem Titel „Tarifverhandlungen und Digitalisierung“. Der Leitfaden soll Arbeitende und ihre Vertreter:innen informieren und bei Verhandlungen unterstützen. Die Gewerkschaft fordert darin unter anderem ein „Recht auf Erklärung“ für Arbeiter:innen, wenn automatisierte Entscheidungssysteme (ADM) über eine Einstellung entscheiden. 2021 hatten Foodpanda-Fahrer:innen in Hongkong genug von ihren Arbeitsbedingungen. Sie organisierten sich ohne große Unterstützung durch etablierte Gewerkschaften über Facebook und Messengerdienste selbst – und erstritten zumindest kleine Erfolge. Diese und viele weitere Beispiele stehen in einem neuen Bericht von AlgorithmWatch , der vom Internationalen Gewerkschaftsbund (IGB) in Auftrag gegeben wurde. Die NGO möchte zeigen, wo und wie sich Gewerkschaften und andere Initiativen schon jetzt für die Rechte von Arbeitnehmer:innen einsetzen, die bei ihrer Arbeit mit ADM konfrontiert werden. Denn Abermillionen von Menschen, über „Kontinente, Länder, Industrien und Sektoren“ hinweg, spüren die Folgen eines zunehmend automatisierten Arbeitsalltags. Das ist nicht notwendigerweise schlecht, aber geht oft mit steigender Kontrolle und Überwachung einher – wodurch die Rechte von Arbeitnehmenden gefährdet sein könnten. Dr. Anne Mollen von AlgorithmWatch ist die Hauptautorin der Studie. Es würden sich bereits viele Gewerkschaften mit den „Risiken der Automatisierung am Arbeitsplatz“ befassen. Aber die Debatte finde oft zu abstrakt und theoretisch statt: Laut Bericht sind „praktische Tools“ wie der Leitfaden von Comisiones Obreras bisher eher Mangelware. Hier muss nachgebessert werden: Es benötige mehr „Ratschläge und Leitlinien“ für Arbeitende und Gewerkschaftsvertretende, bilanzieren die Autor:innen. Gewerkschaften sollen „von der Reflexion über Grundsätze zur praktischen Umsetzung übergehen und sich damit befassen, wie Arbeitnehmer und ihre Vertreter ihre Interessen sinnvoll in die Planung, Entwicklung und Umsetzung algorithmischer Systeme einbringen können“, ergänzt Tim Noonan vom IGB. (…) Der Bericht schlüsselt für 26 Länder die Aktivitäten von 265 Gewerkschaften auf. Auch über Deutschland gibt es ein kleines Kapitel. (…) Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und ver.di beschäftigen sich laut Bericht derweil mit den Auswirkungen einer automatisierten Arbeitswelt insgesamt. Beide Gewerkschaften legen dabei aber auch einen Schwerpunkt auf Transparenz, entsprechen also bereits teilweise den Empfehlungen des Berichts. Der DGB unterstreicht etwa, dass alle Betroffenen bei der Planung und Umsetzung von „KI-Systemen“ beteiligt werden sollten. Auch ver.di betont besonders transparente Strukturen für alle Fälle, in denen ADM zum Einsatz kommen. Ver.di publizierte hierzu auch konkrete Richtlinien, die bei Verhandlungen unterstützen sollen, und die alle betroffenen Parteien mit involvieren. Letztlich ist es essenziell, „Mythen um die Automatisierung von Arbeit“ zu entlarven – die Gewerkschaften müssen sicherstellen, dass angebliche Effizienzsteigerungen durch „scheinbar billige technische Lösungen“ niemals auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden, fordern die Autor:innen…“ Beitrag von Tim Wurster vom 27. Februar 2023 bei Netzpolitik.org - [ZDFzoom] Plattform, Lieferdienst und Co.: Wie fair ist die neue Arbeitswelt?
„Sie radeln, hämmern, putzen – während der Corona-Pandemie hielten Plattformbeschäftigte Deutschland am Laufen. Lieferdienste für Lebensmittel wuchsen rasant. Für Menschen mit schlechter formaler Ausbildung oder fehlenden Deutschkenntnissen, die sich auf dem herkömmlichen Arbeitsmarkt schwertun, bieten Plattformwirtschaft und Lieferdienste die Möglichkeit, überhaupt einen Job zu finden. Das Prinzip: Über eine App ordert der Kunde seine Einkäufe, bestellt eine Putzhilfe oder eine Betreuungskraft. Die Vorteile: Verbraucher sparen Wege, können den günstigsten Anbieter auswählen, es entstehen neue Jobs. Die Schattenseite: Es herrscht harte Konkurrenz unter den Plattform-Arbeiter*innen, viele sind arbeitsrechtlich kaum abgesichert. Zwar sind viele Fahrradkuriere, sogenannte „Rider“, mittlerweile in Deutschland angestellt, jedoch haben viele befristete Verträge, anderen wird noch während der Probezeit gekündigt. Die Angst vor Job- und Einkommensverlust fährt bei vielen mit. (…) Gesteuert von einer App sind die Beschäftigten der neuen Arbeitswelt oftmals vereinzelt und austauschbar. Viele kennen ihre Rechte nicht oder scheuen sich, diese gerichtlich einzufordern, weiß Rechtsanwalt Martin Bechert. In Brüssel hat man erkannt, dass die neue Arbeitswelt bessere Regeln braucht. „Es kann nicht sein, dass wir einen neuen Wirtschaftszweig aufbauen, der auch seine Wichtigkeit hat, (…) und dass die sozialen Regeln dem nicht entsprechen.“, sagt EU-Kommissar Nicolas Schmit im Interview mit „ZDFzoom“-Reporter Arne Lorenz.“ Video des Films von Arne Lorenz am 09.02.2023 in der Sendung ZDFzoom (29 min, verfügbar bis 08.02.2025)- Siehe daraus auch speziell zu Flink im Dossier: Flink Workers‘ Collective: Auch die Berliner Kuriere von Flink wollen einen Betriebsrat
- Neues Rechtsgutachten: Digitale Kontrolle, Diskriminierungsschutz, Haftungsfragen: Einsatz von KI erfordert Update für das Arbeitsrecht
„Der zunehmende Einsatz künstlicher Intelligenz stellt das Arbeitsrecht vor Herausforderungen, unter anderem beim Daten- und Diskriminierungsschutz, in Haftungsfragen oder bei der Entscheidung, ob eine Person abhängig beschäftigt ist oder selbständig. Wo Aufgaben für die Gesetzgebung liegen und in welche Richtung Lösungen gehen können, hat der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Bernd Waas in einem neuen Gutachten für das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Ein zentrales Ergebnis: Wenn Arbeitgeber Algorithmen zwischenschalten, wird Mitbestimmung der Beschäftigten noch wichtiger, so der Juraprofessor an der Universität Frankfurt/Main. (…) Die Anwendung entsprechender Technologien werfe eine ganze Reihe rechtlicher Probleme auf, schreibt der Jurist. Sie bleibe etwa nicht ohne Auswirkungen auf die Frage, ob bestimmte Erwerbstätige – wie beispielsweise Clickworker – als selbstständig oder als Arbeitnehmer beziehungsweise Arbeitnehmerinnen zu gelten haben. Denn auf den Grad der „Fremdbestimmung“, der für die Beantwortung dieser Frage rechtlich relevant ist, habe KI erheblichen Einfluss: „Wer weiß (oder zumindest damit rechnen muss), dass er einer umfassenden, ins Einzelne gehenden Überwachung durch ein hochadaptives und ,intelligentes‘ System ausgesetzt ist, hat allen Grund, sein Verhalten von vornherein darauf einzurichten, die Erwartungen seines Gegenübers nach Möglichkeit nicht zu enttäuschen.“ (…) KI-Systemen Rechtsfähigkeit zuzuerkennen, um sie für angerichtete Schäden haftbar zu machen, sei nach dem derzeitigen Stand der technischen Entwicklung ebenfalls abzulehnen. Denn es fehle ihnen die Fähigkeit zu autonomer Entscheidungsfindung. Um Haftungslücken zu schließen, solle man sich an die Menschen halten, die hinter der Entwicklung und Nutzung von KI stecken – zumal Haftung ohnehin keine verhaltenssteuernde Wirkung auf Maschinen haben könne. (…) Enorme Herausforderungen sieht Waas auf das Antidiskriminierungsrecht zukommen. Ein kritischer Punkt von KI-Anwendungen sei ihre Rückwärtsgewandtheit. Wenn ein Betrieb bei Einstellungen jahrelang ethnische Minderheiten oder Frauen benachteiligt hat und ein Programm Bewerbungen aufgrund der früheren Entscheidungen sortiert, würden diese Benachteiligungen zementiert oder sogar verstärkt. Zudem sei es möglich, dass KI auf statistische Zusammenhänge Bezug nehme, die – für Menschen – erkennbar zufällig und sachlich problematisch seien. (…) Da einzelne Betroffene angesichts der kaum nachvollziehbaren Arbeitsweise und Komplexität von KI vor Gericht oft schlechte Karten haben dürften, brauche es zudem Beweiserleichterungen und ein Verbandsklagerecht, das es Gewerkschaften ermöglicht, gegen die Diskriminierung von Beschäftigten zu klagen. Der digitale Fortschritt bringt dem Gutachten zufolge auch das geltende Datenschutzrecht ins Wanken. (…) Es brauche „Datenschutz durch Technikgestaltung“ in Form prozeduraler Vorgaben für den allgemeinen Umgang mit Daten. Auch im Datenschutz biete sich zudem ein Verbandsklagerecht an. (…) Der Arbeitsschutz sei insofern betroffen, als KI neue Gefährdungen mit sich bringt, erklärt Waas. Die Fremdsteuerung und Dauerüberwachung durch Software könne bei Beschäftigten ein Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins auslösen sowie zu Arbeitsverdichtung und -intensivierung beitragen. Das Unfallrisiko drohe dadurch zuzunehmen, dass Roboter dank KI zunehmend autonom und damit kaum vorhersehbar agieren. Mitbestimmung, so der Rechtswissenschaftler, sei insbesondere dem Schutz der Persönlichkeit und der Menschenwürde verpflichtet. (…) Betriebliche Mitbestimmung müsse sicherstellen, dass Entscheidungen stets von Menschen getroffen und verantwortet werden. Über die Neuregelungen des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes hinaus brauche es eine echte rechtliche Modernisierung, die eine ausreichende Kontrolle von KI durch Betriebsräte sicherstellt, betrieblichen Prozessen die Sachkunde der betrieblichen Interessenvertretungen sichere und so auch die Akzeptanz von KI-Lösungen erhöhe. Der Abschluss von Betriebsvereinbarungen zu KI dränge sich geradezu auf. Denn zum einen seien die Vorgaben etwa im geltenden Datenschutzrecht sehr dünn und bedürften einer Konkretisierung. Zum anderen sei die technische Entwicklung derart im Fluss, dass man „nicht auf vollumfängliche Antworten des Gesetzgebers warten sollte“…“ Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 25. November 2022 zur 259-seitigen Studie von Bernd Waas - Plattformarbeit: Wie Ungleichheiten in die digitale Arbeitswelt mitziehen
„… Ob an den Jacken, ihren Fahrrädern, Helmen oder überdimensionalen Taschen – Fahrradkuriere gehören genauso zum Stadtbild von Großstädten wie die Namen der Unternehmen, für die sie arbeiten. Anders ist das zum Beispiel bei Helpling. Die Plattform vermittelt Reinigungskräfte an Haushalte, die dann die Wohnung putzen oder andere Haushaltstätigkeiten erledigen. (…) Helpling ist nur eine der Firmen, die in der „Gig Economy“ den Markt der Zukunft gewittert haben. Dort läuft Arbeit nicht mehr durch ein langfristiges Arbeitsverhältnis, sondern verlagert sich auf Plattformen im Internet, über die einzelne Aufträge auf Honorarbasis vergeben werden. (…) Sie versprechen schnellverdientes Geld und flexible Arbeitszeiten. Das könnte gerade auch für Frauen eine Chance sein. Doch auch in der Gig Economy sind Geschlechterungleichheiten ein Problem: Fehlende soziale Absicherung, sexualisierte Gewalt und ungleiche Bezahlung sind in die Plattformarbeit mitgewandert. (…) In einer Gesellschaft, in der meist Frauen noch Kinder erziehen, ältere Verwandte pflegen oder andere unbezahlte Sorgearbeit erledigen – konkret sind es täglich 87 Minuten mehr als bei Männern -, hat Flexibilität in Erwerbsarbeit einen hohen Stellenwert. Das stellen etwa die Forscherinnen Helene von Schwichow und Katrin Fritsch in einer Studie zu Erfahrungen von Frauen in der Plattformökonomie fest (…) Zum Zeitpunkt ihrer Studie im Jahr 2020 lag der Frauenanteil unter den Plattformarbeitenden bei 38 bis 52 Prozent – Tendenz steigend, so die Forscherinnen. Das bestätigt auch eine Studie, die kürzlich vom Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) veröffentlicht wurde. (…) Von Schwichow und Fritsch warnen in ihrer Studie jedoch: Flexibilität werde von Arbeiterinnen als positiv wahrgenommen, aber sie könne schnell umschwingen in Unsicherheit. So können Aufträge über Plattformen oft auch kurzfristig abgesagt werden und den Arbeitenden dadurch das Einkommen verloren gehen. „Hinzu kommen fehlende soziale Absicherungen, die vor allem mit Blick auf die Rente zum Problem werden, da in Deutschland vermehrt Frauen von Altersarmut betroffen sind“, sagen die beiden Autorinnen. Bei Krankheit bekommen Plattformarbeiter:innen keinen Verdienstausfall. (…) Auch sexualisierte Gewalt und Diskriminierung stellt bei Plattform-Arbeit ein Problem dar. Das Gutachten einer Sachverständigenkommission für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung attestiert Plattformen sogar eine „erhöhte Gefahr sexueller und sonstiger Übergriffe“. Frauen sind damit überproportional konfrontiert. (…) Es gibt außerdem Hinweise, dass Frauen auch in der Gig Economy schlechter bezahlt werden als Männer. (…) Von der Politik bekommen Frauen auf Plattformen bislang eher wenig Beachtung. (…) Bislang bekommen sichtbarere Plattformen wie Gorillas oder Lieferando mehr Aufmerksamkeit als etwa Helpling. Mit Fahrer:innen von Gorillas traf sich Arbeitsminister Heil sogar persönlich. Plattformarbeit, die im Pflege- oder Reinigungsbereich stattfindet, ist weniger sichtbar. Und gerade dort arbeiten besonders viele Frauen. Erst kürzlich äußerte sich auch der Deutsche Frauenrat zu den Arbeitsbedingungen für Frauen und forderte die Bundesregierung zum Handeln auf. Denn ob Ungleichheiten sich auch in der digitalen Arbeitswelt ausbreiten, bleibt bisher hauptsächlich den Plattformen überlassen.“ Beitrag von Philipp Groeschel vom 4. Juli 2022 bei Netzpolitik.org - Gigs für die Geisterstadt: Hinter digitalen Dienstleistungen und vermeintlich künstlicher Intelligenz verbirgt sich enorm viel menschliche Arbeit
„… Ein Gespenst geht um in den Städten – es ist der Geist der Pandemie. Wie der Kulturwissenschaftler Felix Stalder in einem Tweet am 13. Januar feststellte, hat die Covid-19-Pandemie nicht nur die gesellschaftliche Ungleichheit, sondern auch das Geisterhafte verstärkt: in Form von ghost stores, wie Sortimentslager für Lieferdienste wie Gorillas bezeichnet werden, ghost workers oder dem (digitalen) »ghosten«, dem plötzlichen und unbegründeten Kontaktabbruch mit einer Person. Zur Pandemie tritt die Digitalität: Ungreifbar und doch allgegenwärtig spukt sie durch die Routinen unseres Alltags, global eine riesige intransparente Masse an Geisterarbeit nach sich ziehend. Auch wenn viel über die Automatisierung von Arbeit gesprochen wird: Hinter künstlicher Intelligenz und digitalen Dienstleistungen steht weiterhin menschliche Arbeit. Dass Technologie wie magisch die alltäglichen Einkäufe, Buchungen oder sozialen Vernetzungen ermöglicht, ist eine von der IT-Branche verbreitete Illusion. Tatsächlich werden die Aufträge an einem globalen Fließband von Mikroarbeitenden erledigt, Geisterarbeitende verrichten ihre Tätigkeit aufgrund ihrer Unsichtbarkeit unter besonders prekären Bedingungen. (…) Es entsteht eine Infrastruktur unersetzlicher, aber unsichtbarer Geisterarbeit. Die Lockung mit (vermeintlicher) Flexibilität, Autonomie und höherer Verdienstmöglichkeiten soll über prekäre Anstellungsverhältnisse, Berufsrisiken und Beschäftigungsunsicherheit hinwegtäuschen. Mehr noch: Unannehmlichkeiten sollen ganz allgemein aus unserer Wahrnehmung verschwinden. Technologieunternehmen haben die Hoheit über die von ihnen generierten Daten und Algorithmen, die wiederum das analoge städtische Leben Stadt beeinflussen. Die Unternehmen sind in der Lage, Bedürfnisse gewinnorientiert zu navigieren, bestehende Ungleichheit bei der städtischen Teilhabe zu (re-)produzieren und die Stadt zu »ghosten«, indem sie digitale Dienste anbieten, die es fast unnötig machen, das Haus zu verlassen.“ Beitrag der Akteurinnen für urbanen Ungehorsam vom 16. Juni 2022 aus der Jungle World 2022/24 - Plattformkapitalismus: Destruktive Milliardengräber
„… Der Wirtschaft weht ein rauer Wind entgegen. Hohe Inflation, steigende Energiepreise, kollabierende Lieferketten und eine neu erwachte Arbeiter:innenbewegung bereiten vielen Konzernen zurzeit Probleme. Nun erreichen die Erschütterungen eine Branche, die noch vor kurzem als Hoffnungsträger des Kapitalismus galt: die Techbranche. In den vergangenen Wochen jagte eine katastrophale Headline die andere: Der deutsche Lieferdienst Gorillas entlässt 300 Angestellte aus der Verwaltung, der türkische Konkurrent Getir soll eine ganze Milliarde Euro Verlust machen und streicht weltweit 4500 Stellen, der schwedische Zahlungsdienst Klarna stellt zehn Prozent seiner Belegschaft vor die Tür, dazu kommen Massenkündigungen bei kleineren Start-ups in ganz Europa. Der Branchendienst Techcrunch meldete, dass weltweit 15 000 Stellen im Techsektor gestrichen worden seien – allein im Mai 2022. (…) Die Kündigungswelle wirft ein Schlaglicht auf die zugrunde liegenden Probleme und Widersprüche des Tech-Start-up-Modells. Vor allem die Abhängigkeit von einfach verfügbarem Kapital wird der Branche nun zum Verhängnis. Die meisten Tech-Start-ups haben noch nie Gewinn gemacht, obwohl sie explosionsartig expandieren. Aufsehen erregt haben in der Wirtschaftspresse darum vor allem die Entlassungen beim Lieferdienst Gorillas. (…) Philipp Staab sieht das ganze Geschäftsmodell Tech-Start-up kritisch. Der Soziologe forscht an der Humboldt-Universität Berlin zur Zukunft der Arbeit. «Ich habe grosse Zweifel daran, dass man diese Firmen fair organisieren kann», sagt er im Gespräch. Denn diese Firmen bieten Dienstleistungen zu Preisen an, die völlig unrentabel sind. Das geht nur, weil sie so viel Kapital erhalten. Nicht einmal die tiefen Gehälter, die sie zahlen, gleichen das aus. Als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 pumpten die Zentralbanken riesige Mengen an Kapital in den Markt und hielten die Zinsen tief. Dieses Geld musste irgendwohin. Ein Effekt war die Immobilienblase, die in grossen Städten die Mieten in die Höhe schiessen liess. Ein anderer war das Aufkommen von angeblich innovativen Unternehmen, die jahrelang keinen Gewinn schreiben mussten, weil ja immer noch mehr Geld vorhanden war, um die Löcher zu stopfen. Doch nun gehen die Zentralbanken gegen die hohe Inflation vor. Die Zeit des billigen Geldes scheint vorbei. (…) «Die reichsten Menschen der Welt haben in den letzten Wochen zusammen 500 Milliarden Dollar Investitionskapital verloren», sagt Miller, «und wir Arbeitenden dürfen das jetzt ausbaden.» Aber diesmal sei es anders. Langsam merkten selbst hochbezahlte Programmierer:innen, dass sie als Einzelkämpfer:innen in der Branche nicht überleben könnten, indem sie einfach zum nächsten Start-up wechselten. Sie hätten angefangen, sich zu solidarisieren. «Ich habe in den letzten sieben Jahren bei fünf Firmen gearbeitet», sagt Miller, «da merkt man mit der Zeit, dass die Probleme nicht beim Unternehmen liegen, sondern strukturell zur Branche gehören.»“ Artikel von Caspar Shaller in der WOZ Nr. 23/2022 vom 9. Juni 2022 - Slowenische Gewerkschaft „Mladi Plus“ zu Plattformarbeit: „Für mehr als nur eine Richtlinie kämpfen“
Im Gespräch mit Maximilian Henning bei Netzpolitik.org am 24. Mai 2022 erklärt die Präsidentin der slowenischen Gewerkschaft Mladi Plus, Tea Jarc , „warum eine Gewerkschaft für prekär beschäftigte Jugendliche sich besonders mit Plattformen auseinandersetzt und warum sie Angst vor der Lobbymacht der Unternehmen hat. (…) Mladi Plus ist eine slowenische Gewerkschaft für Schüler*innen, Studierende, junge Arbeitslose und prekäre Arbeiter*innen. Es ist keine traditionelle Gewerkschaft: Wir arbeiten nicht mit einem bestimmten Sektor von Arbeiter*innen zusammen, wir arbeiten mit jungen Leuten, die sich gerade im Übergang von Bildung zu Arbeit befinden. Sie sind entweder immer noch Studierende oder arbeitslos oder sie haben einen zeitlich begrenzten Job. Mladi Plus existiert seit 2011 und ist Teil des größten Gewerkschaftsbunds in Slowenien. (…) Das Ziel von Mladi Plus ist es, mit dieser Art von Gewerkschaft junge Leute zu erreichen. Weil wir besonders nach der Finanzkrise von 2008 realisiert haben, dass es immer mehr junge Arbeitslose oder junge prekär Beschäftigte gibt und dass sie niemand organisiert. (…) Ich bin natürlich eine Gewerkschafterin, aber ich werde immer die erste sein, die die Gewerkschaftsbewegung kritisiert. Und manchmal sieht es aus, als ob wir sehr alte Organisationen mit alten Strukturen und alten Methoden sind. Und das wollen wir ändern. Wir wollen Gewerkschaften modernisieren. Wir wollen schnell auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts reagieren. Wir wollen uns Veränderungen anpassen und unseren Platz in einer sich wandelnden Gesellschaft finden. (…) In Sachen Plattformarbeit generell sind wir seit 2014 sehr aktiv, weil es damals eine Menge Gerichtsentscheidungen zu Uber gab. Unsere Regierung wollte Uber nach Slowenien bringen. Dafür hätten sie die Gesetze ändern müssen, weil Uber natürlich Sachen nach seinen eigenen Bedingungen macht. Und mit ein paar anderen Gewerkschaften haben wir es geschafft, die Regierung so zu beeinflussen, dass sie die Gesetze nicht geändert und die Tür nicht für sie geöffnet haben. Es gab Uber in den meisten europäischen Ländern bis auf Slowenien. Das hat sich leider letztes Jahr mit der sehr rechten Regierung geändert, die ihnen die Tür geöffnet hat. Aber jahrelang haben wir verhindert, dass diese Plattform hier existiert und Arbeiter*innen ausbeuten kann. (…) Wir arbeiten auch mit dem Europäischen Parlament zusammen. Bevor wir die Richtlinie von der Kommissionsseite hatten, gab es einen sehr ambitionierten Beschluss vom Europäischen Parlament in Sachen Plattformarbeit. Ich kann trotzdem auch ehrlich sagen, dass wir sehr viel Angst vor den Plattformen haben, weil wir wissen, wie mächtig sie sind. Sie sind in Brüssel sehr präsent und lobbyieren für ihre Ansichten. Sie waren in vielen der Beratungsprozesse, an denen wir teilgenommen haben, nicht involviert, und sie waren auch nicht so laut in den Medien wie wir, also erwarten wir irgendwie, dass sie ihre Arbeit hinter geschlossenen Türen machen. (…) Unsere Hoffnung auf der Gewerkschaftsseite ist, dass Arbeiter*innen Gewerkschaften beitreten und erkennen, was sie erreichen können, wenn sie gemeinsam kämpfen. Denn selbst wenn die Richtlinie angenommen und dann auf nationaler Ebene umgesetzt wird, wird das den Kampf nicht beenden. Plattform-Arbeiter*innen sollten für mehr als nur für eine Richtlinie kämpfen. Danach kommen Tarifverhandlungen und ein Tarifvertrag und dann, hoffentlich, eines Tages, können wir uns wirklich um ihre Arbeitsumstände kümmern.“ - Gorillas, Lieferando und Co.: Neue Arbeitswelt, altes Arbeitsrecht
„Juicer laden nachts Elektroscooter auf, Gorilla Riders liefern Lebensmittel, Putzkräfte werden über Helpling gebucht: Die sogenannte Plattformökonomie boomt. Die Arbeitsbedingungen sind allerdings oft schwierig, Mitbestimmung und Betriebsräte gibt es kaum. Das liegt auch an den Gewerkschaften. (…) Für den Arbeitsrechtler Martin Bechert sind das gewohnte Klagen. Er vertritt zahlreiche ehemalige Mitarbeiter von digitalen Vermittlungsplattformen und Unternehmen, die sich gegen Betriebsräte stemmen. Auf der Kundgebung gibt er sich deshalb kämpferisch. „Wir müssen uns hier Deutschland langsam fragen, wie das eigentlich weitergehen soll mit der Betriebsverfassung. Denn wir haben tatsächlich Firmen wie Amazon, wie Gorillas, wie Tesla, die die Mitbestimmung mit Füßen treten. Wir brauchen eine wehrhafte Betriebsverfassung, anders kommen die Betriebsräte in Deutschland unter die Räder. Und wir müssen dringend dafür sorgen, dass Gorillas und ähnliche Firmen tatsächlich Druck bekommen.“ (…) Viel sei allerdings bisher nicht passiert, kritisiert Arbeitsrechtler Martin Bechert. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD von 2018 sah beispielsweise vor, die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen so gut wie abzuschaffen. Gerade in der Plattformökonomie sei aber ein befristeter Arbeitsvertrag immer noch eher die Regel als die Ausnahme, kritisiert Bechert. Explizit bei Start-Pps sei für vier Jahre eine sachgrundlose Befristung immer noch legal – und sorge so dafür, dass Arbeitnehmer ihre Rechte nicht durchsetzen: „Denn das ist ja das Einfallstor, mit dem ich diese ständige existenzielle Unsicherheit über die Leute ziehen kann und dann jeden einzelnen so richtig in die Mangel nehmen kann und abschrecken kann, sich zu organisieren und Widerstand zu leisten.“ Im neuen Koalitionsvertrag ist von einer Befristungsbegrenzung nun überhaupt nicht mehr die Rede. Und selbst wenn es den Fahrern gelingt, einen Betriebsrat zu gründen, schützt sie das nicht vor außerordentlichen Kündigungen. Noch immer sei es nicht gelungen, einen entsprechenden Kündigungsschutz in einem Gesetz zu verankern, kritisiert Bechert. (…) Damit Arbeitnehmer ihre Rechte durchsetzen und beispielsweise einen Betriebsrat gründen können, müssen sie sich zunächst aber vernetzen. Dabei spielen die Gewerkschaften eine große Rolle, sagt Johanna Wenckebach vom Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeitsrecht in einem Podcast der Hans Böckler-Stiftung. Für sogenannte „click und gig worker“, die über digitale Plattformen vermittelt werden, sei es aber schwierig, sich über Arbeitsbedingungen überhaupt auszutauschen: „Die gehen in diese ganzen Haushalte und können sich nicht erkennen, auch wenn sie sich in der Stadt bewegen, weil es eben keinen gemeinsamen Betrieb mehr gibt, wo eine Gewerkschaft irgendwie Flyer verteilen könnte oder Menschen ansprechen.“ Insofern sind die Riders von Lieferdiensten wie Gorillas oder Lieferando in gewisser Weise sogar Vorreiter, sagt Christoph Schink von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (…) Viele von den Mitarbeitern kommen aus dem Ausland und sie kennen sich nicht so aus mit Arbeitsgesetzen und solchen Regelungen, manche wollen einfach nicht 14 Euro im Monat geben für die Gewerkschaft.“ Und viele fürchten um ihren Arbeitsplatz oder ihren Aufenthaltsstatus, wenn der Arbeitgeber von einer Mitgliedschaft erfährt. Aber auch umgekehrt tun sich die Gewerkschaften im Bereich Plattformökonomie schwer, sagt Andreas Splanemann von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: „Es gibt Unternehmen wie z.B. Tesla, die sind für eine Gewerkschaft extrem attraktiv. Da gibt es gut bezahlte Jobs und wenn man dort Mitglieder macht als Gewerkschaft dann sind das gute Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Das sind qualifizierte Beschäftigte. Das möchte jede Gewerkschaft gerne haben. Anders sieht das bei diesen Lieferdiensten aus. Das sind Leute, die, würde ich mal sagen, prekär beschäftigt sind, die im Niedriglohnbereich tätig sind, das ist für eine Gewerkschaft schwierig zu organisieren, das muss man eben halt Kärrnerarbeit leisten.“ Deshalb seien die meisten Gewerkschaften hier noch im Beobachterstatus, so Splanemann. (…) Andreas Splanemann von Verdi: „Wir wissen ja nicht wie sich die gesamte Lieferbranche, um jetzt bei diesem Beispiel zu bleiben, wie die sich entwickelt. Die schreiben ja überhaupt keine Gewinne, da geht es ja um Unternehmen, von denen man gar nicht weiß, ob es sie im nächsten Jahr noch gibt. Wegen solchen Unternehmen ans Mitbestimmungsrecht heranzugehen und da Änderungen vorzunehmen das halte ich für völlig übertrieben und auch gar nicht notwendig.“…“ Artikel von Anja Nehls vom 29.04.2022 im Deutschlandfunk - Soziale Absicherung in der Plattformökonomie: »Sie müssen die langfristige Perspektive mitbedenken«
Der Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber plädiert im Interview von Svenja Bergt beim DGB-Bildungswerk am 17. März 2022 : „… für eine Digital Social Security, kurz: DSS, für Beschäftigte der Plattform-Ökonomie, die derzeit zumeist als selbstständig gelten. (…) Herr Weber, ob Lebensmittelkurier oder Crowdworkerin – eines der großen Probleme der Plattformökonomie ist, dass die Arbeiter_innen in der Regel nicht sozial abgesichert sind. Wie groß ist das Problem? (…) Enzo Weber: Das ist sehr unterschiedlich je nach Land und Art der Absicherung. Aber als Muster kann man sagen: Bei Krankenversicherungen sieht es in der Regel noch relativ gut aus, Renten liegt im mittleren Bereich, bei Arbeitslosen- und Unfallversicherung ist die Abdeckung niedrig. Global stehen viele Länder vor der gleichen Herausforderung: Die sozialen Sicherungssysteme beruhen auf den Strukturen, in denen der Betrieb der Dreh- und Angelpunkt der Arbeit war. Dementsprechend ließen sich Regulierungen an den Betrieb andocken. Mit der Plattformwirtschaft hat sich das verschoben. Denn es ist durchaus üblich, dass die Arbeiter_innen ständig andere Auftraggeber haben. (…) Mein Vorschlag ist, dass wir das Konzept von sozialversicherungspflichtiger Arbeit digital auf die Plattformen übertragen. Wenn ein Job abgeschlossen ist, soll ein festgelegter Prozentsatz des Entgelts auf ein DSS-Konto fließen. Das soll für die Arbeiter_innen auch transparent sein. Es wäre dann auch egal, in welchem Land sich der Auftraggeber befindet, maßgeblich ist, zu welchem sozialen System der oder die Arbeitende gehört. Technisch wäre das auch effizient umzusetzen. Man bräuchte eine digitale Schnittstelle und dann könnten etwa unterschiedliche Beitragssätze je nach Land angepasst werden. (…) Der Ansatz zwingt nicht dazu, irgendetwas zu vereinheitlichen. Sondern es geht darum, eine technische Schnittstelle zu schaffen, die von jedem Land nach individueller Rechtslage genutzt werden kann. Das Geld wird zwar von den Plattformen gesammelt, aber jedes Land entscheidet selbst, welche Sozialversicherungszweige wie viel bekommen und wie hoch die Beitragssätze sind. Natürlich könnten auch einzelne Länder die Plattformen dazu verpflichten. Aber es international zu machen oder zumindest als Staatengemeinschaft wie die EU, hat Vorteile – zum Beispiel, was die Durchsetzbarkeit der Regeln angeht. (…) Plattformarbeit kann dann immer noch Ausbeutung enthalten. Aber neben einer besseren sozialen Absicherung für die Arbeiter_innen würde auch Schwarz- und Grauarbeit in dem Sektor sichtbar gemacht werden. Dementsprechend sind die Chancen gerade in Ländern, in denen der informelle Sektor sehr groß ist, wirklich bedeutend. Und Plattformarbeit hat definitiv auch Chancen, nicht nur Probleme.“ - Von smarter Hand. Rückschritt der Produktivkräfte: Soziologe erläutert Auswirkungen zunehmend digital gesteuerter Produktion
„»Dequalifizierung von Arbeit ist seit Beginn des Kapitalismus eine der zentralen Rationalisierungsstrategien«, stellte der Arbeitssoziologe Simon Schaupp von der Universität Basel am Sonnabend abend im Café Wostok in Berlin-Lichtenberg mit Verweis auf die Einführung der Fließbandarbeit fest: »Unqualifizierte Arbeit ist billiger.« Bei der Veranstaltung der »Aktion Arbeitsunrecht« stellte der Soziologe in seinem Vortrag »Wenn dein Boss ein Algorithmus ist« Ergebnisse seiner vierjährigen Forschungs- und Doktorarbeit »Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung« vor. Die Digitalisierung führe zu einem Rückschritt der Produktivkräfte, meint der Arbeitsforscher darin. Sie führe nicht zur Reduzierung nötiger Arbeitskraft in der Produktion, sondern vielmehr zu einer Einbindung billiger Hilfsarbeiter: »Menschliche Roboter sind billiger als Maschinen.« Die Digitalisierung werde für weitere Dequalifizierung und Flexibilisierung von Arbeit eingesetzt, so der Soziologe. Durch Arbeitsleitsysteme, in denen die Beschäftigten jeden Handgriff durch ein Computerprogramm vorgegeben bekommen, ließen sich auch komplexe Produkte immer zuverlässiger durch austauschbare Hilfsarbeiter erledigen. Arbeitsleitsysteme ließen sich relativ einfach in verschiedene Sprachen übertragen. Es sinkt also nicht nur der Bedarf an Facharbeitern für die Unternehmen, sondern es wird auch eine stärkere Einbindung migrantischer Arbeitskräfte in die Produktion ermöglicht. (…) Daneben finde durch die Digitalisierung eine »kybernetische Arbeitsverdichtung« statt: Algorithmen könnten Beschäftigte besser überwachen und zum schnelleren Arbeiten auffordern als ein Manager oder Vorarbeiter mit der Stoppuhr in der Hand. Es gebe keine Maßgabe mehr, wie lange ein Arbeitsschritt in der Produktion dauern dürfe. Statt dessen finde »permanente Zeitüberwachung statt«, stellte der Soziologe fest. Aufgrund der gesammelten Daten würden den Beschäftigten unmittelbare »Feedbacks« gegeben, die sie zum schnelleren Arbeiten auffordern. In einem der von Schaupp untersuchten Betriebe führte das Unternehmen dafür extra einen »smarten Handschuh« ein: Macht der Arbeiter eine ungewünschte Bewegung, beginnt der Handschuh zu vibrieren. (…) Die veränderte Produktionsweise wirke sich auch auf gewerkschaftliche Arbeit aus. So schreibt das Betriebsratsmodernisierungsgesetz beispielsweise umfangreiche Mitbestimmungsrechte bei der Einführung neuer Technologien zur Überwachung der Beschäftigten vor. Im sozialpartnerschaftlich organisierten Teil der Industrie sollen Gewerkschaften die Digitalisierung mitgestalten: Viele Industrieunternehmen räumen den Gewerkschaften freiwillig ein Mitsprachrecht ein, erwarten jedoch, dass das Arbeitsrecht in Teilen des Betriebes probeweise ausgesetzt wird. Laut Schaupp stehen die Betriebsräte dadurch unter Druck, von den Beschäftigten nicht gewollte Maßnahmen wie etwa einen »smarten Handschuh« zuzulassen.“ Artikel von Simon Zamora Martin in der jungen Welt vom 28. März 2022- Siehe im LabourNet auch: [Buch] Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung
- Algorithmische Steuerung der Arbeit und Potentiale des Widerstands – 40 vorläufige Thesen
„Was haben Ryanair-Pilot:innen, Spieler des FC Schalke 04, Fahrradkuriere von Lieferando und Arbeiter:innen bei Amazon gemein? Sie alle werden digital erfasst, analysiert, kontrolliert und bewertet. Während die Spieler des FC Schalke zumindest beim Spiel selbst noch frei entscheiden können (oder müssen), sieht es in der Nachbearbeitung des Spieltags, im Training oder beim Scouting neuer Talente schon anders aus. Piloten haben durch Automatisierung und maschinelle Steuerung faktisch immer weniger zu tun – auch wenn die Verantwortung für Leib und Leben der Passagiere gleich bleibt. Ermüdung (Fatigue) durch ständiges Starren auf Bildschirme, ständige Wachsamkeit bei faktischem Nichtsmehrtunmüssen, ist gerade bei Langstreckenflügen eines ihrer größten Probleme. Während dessen sollen Amazon-Arbeiter:innen durch kleine mobile Endgeräte (Handys/Armbanduhren) nicht nur gelenkt, sondern auch getrackt und durch Vibrationen gezielt manipuliert werden. Wir haben es mit wichtigen Umwälzungen zu tun, die menschengemacht sind und daher von der Mehrheit der Menschen auch gestaltet, vielleicht sogar zum Scheitern gebracht werden können. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung sind Lohnabhängige. Wir müssten uns als solche bloß organisieren…“ Beitrag von Elmar Wigand vom 24. März 2022 in The Lower Class Magazine – die Redaktion dazu: „Kleinteiligte algorithmische Steuerung ist auf dem Vormarsch in die Arbeitwelt. Elmar Wigand hat, inspiriert durch Lektüre von Simon Schaupps Studie „Technopolitik von unten“ und Gesprächen mit dem Autoren, 40 vorläufige Thesen zu dieser Entwicklung aufgestellt. Eine Möglichkeit diese Thesen und das Thema allgemein zu diskutieren ist folgende Veranstaltung mit dem Arbeitssoziologen Simon Schaupp in Berlin: Wenn dein Boss ein Algorithmus ist . Solidarität & Widerstand in digital gesteuerter Niedriglohnarbeit. Samstag, 26. März 2022, 19:00 Uhr, Café Wostok, Weitlingstr. 97, 10317 Berlin-Lichtenberg. Live-Stream auf youtube
- Die Konflikte verlaufen in neuen Bahnen: Neue Arbeitsregimes der algorithmischen Arbeitssteuerung und die Widerstände dagegen
Im Interview von Axel Berger vom 11. März 2022 in neues Deutschland online erklärt Simon Schaupp vom Zentrum Emanzipatorische Technikforschung: „… Technisch wäre eine weitreichende Automatisierung der Produktion durchaus möglich. Für die Implementierung von Technologien in Unternehmen ist das aber nicht ausschlaggebend. Stattdessen geht es um die Frage, was sich ökonomisch lohnt – und da sieht es ganz anders aus. Seit den 1970er Jahren haben wir es mit einem Rückgang der Investitionsquoten zu tun. (…) [T]rotz des Absinkens der Investitionsquoten in das Anlagekapital muss die Produktion natürlich stets rationalisiert werden. Die algorithmische Arbeitssteuerung bietet da eine attraktive Alternative zur Automatisierung. Sie macht es möglich, große Mengen niedrig qualifizierter und schlecht bezahlter Arbeit in die Produktionsprozesse einzubinden. Etwa durch die »Fernsteuerung« von Arbeit, die man von den Essenslieferkurieren kennt. Oder durch Arbeitsleitsysteme, die ganz genaue Anweisungen geben und Arbeitsprozesse damit vereinfachen. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Einbindung migrantischer Arbeiter:innen durch sprachlich konfigurierbare oder bildbasierte Systeme. (…) Unter kybernetischer Proletarisierung verstehe ich eine Abwertungsspirale in dem Bereich der digital gesteuerten körperlichen Arbeit, die ich untersucht habe. Die Arbeitsprozesse werden vereinfacht und verdichtet. Dadurch kommt es zu einer qualitativen und quantitativen Verdrängung menschlicher Arbeit aus den Produktionsprozessen. Andererseits kommt es aber durch neue Geschäftsmodelle, deren technische Grundlage die algorithmische Arbeitssteuerung ist, zur massenhaften Reintegration menschlicher Arbeit unter prekären Bedingungen. Diese Arbeit wird wiederum der Dequalifizierung und Verdichtung unterworfen. Je mehr Zyklen dieser Spirale bestimmte Beschäftigte durchlaufen haben, desto eher können sie als kybernetisches Proletariat bezeichnet werden. (…) Als die durchrationalisierten Autofabriken aufkamen, glaubten viele, dass die Beschäftigten sich dort unmöglich organisieren könnten. Zu abgewertet sei die Arbeit und zu stark kontrolliert. Heute gibt es fast denselben Diskurs in Bezug auf die digital gesteuerte Arbeit. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Branchen wie die Lieferplattformen weisen eine deutlich höhere Konfliktintensität auf als praktisch alle anderen Branchen. Die Konflikte verlaufen aber in neuen Bahnen, weshalb es uns manchmal schwerfällt, das zu sehen. Es gibt weniger formelle Tarifauseinandersetzungen, dafür aber wilde Streiks und massenhaften technologischen Ungehorsam. Wenn die beschriebene Abwertungsdynamik weitergeht, werden sich ziemlich sicher auch die Konflikte zuspitzen.“ - Gorillas und Co.: Der Kampf für faire Arbeit
„Essen, Medikamente, Lebensmittel – sogar jemanden, der unsere Wohnung putzt. Das alles können wir uns mit wenigen Klicks bestellen. Doch für die Menschen, die diese Jobs machen, hat das seinen Preis. Mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben, seht ihr in diesem Video von #JETZTMALKONKRET.
“Ich habe gedacht, dass ich mir das Genick gebrochen habe und dass ich auf der Straße sterbe. Alle Fahrer, die für dieses Unternehmen arbeiten, begeben sich jeden Tag in Gefahr”, erzählt Bariş, der für den Online-Supermarkt #Gorillas arbeitet. Zusammen mit vielen anderen hat er vergangenen Sommer in Berlin für fairere Arbeitsbedingungen gestreikt.
Das Problem bei so genannten Gig Workern, also Menschen, die für Plattformen wie Lieferando, Gorillas, Uber, der Putzplattform Helpling und Co. Arbeiten: Sie arbeiten unter enormem Zeitdruck und die Arbeit ist zum Teil gefährlich. Bei der #Lieferung von Produkten sind Rider wie Bariş oft schwer beladen. Es kam zu einem Unfall.
“Weil ich mit so viel Gewicht auf dem Rücken unterwegs war, konnte ich es irgendwann nicht mehr ausbalancieren. Dann bin ich gestürzt. Im Sturz ist der schwere Rucksack auf meinen Kopf gefallen. Und ich hatte meinen Helm fest dran, aber der ganze Rucksack ist mir aufs Genick gefallen. Und ich dachte, ehrlich: Jetzt habe ich mir das Genick gebrochen!”, schildert Bariş.
Aber es gibt noch weitere Schwierigkeiten für Gig Worker, Stichwort Arbeitsverhältnis: Die Putz-Plattform Helpling zum Beispiel sieht sich eher als Schwarzes Brett. Sie seien nur Vermittler von Jobs und nicht verantwortlich für die Putzkräfte, die über ihre Plattform an diese Jobs kommen. Das heißt vom Arbeitgeber gibt es keine Sozialversicherung, keine Rente, keine Garantie auf Mindestlohn. Die Arbeiter sind nicht angestellt, sondern Soloselbständige.
Doch es kommt langsam Bewegung rein, auch, weil die Gig Worker so viel in den vergangenen Monaten gekämpft haben. Die Rider von Lieferando bekommen nun unbefristete Arbeitsverträge und Betriebsräte in vielen Städten. Auch die Politik hat die Gig Worker auf dem Schirm. Welche Maßnahmen sie genau plant und warum Spanien und Österreich ein Vorbild für uns sein könnten, seht ihr in der zweiten Hälfte unseres Videos...“ Video der RBB-Sendung vom 02.03.2022 bei youtube - Fairwork Deutschland Ratings 2021/22: Arbeitsstandards in der Plattformökonomie
- [Überblick über die Rechtslage] Auftragnehmer oder Arbeitnehmer? Lieferfahrer suchen weltweit nach Rechten
„App-basierte Lieferfirmen stufen ihre Fahrer nur selten als Arbeitnehmer ein, die Leistungen verdienen. Doch die Forderungen der Gigworker nach fairer Behandlung finden vor Gerichten weltweit immer mehr Gehör.
Sie waren schon überall. Von Los Angeles und London bis São Paulo und Moskau, auf ihren Fahrrädern und Motorrädern, bei brütender Hitze oder klirrender Kälte, waren sie der Generalschlüssel, der die pandemische Isolation aufbrach, indem sie Familien rund um den Globus mit dem Nötigsten und Annehmlichkeiten versorgten. Doch diese Gig-Economy-Fahrer haben noch etwas anderes gemeinsam. Sie kämpfen oft darum, über die Runden zu kommen, und haben meist keinen Anspruch auf grundlegende Sozialleistungen wie Mindestlohn, Krankenversicherung, bezahlten Urlaub oder das Recht, bei einer Kündigung Widerspruch einzulegen.
Letzte Woche hat die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedstaaten einen Vorschlag vorgelegt, der ihnen die gleichen Rechte wie den Beschäftigten traditioneller Unternehmen einräumen würde. Und das war nur die jüngste einer wachsenden Zahl von Anfechtungen des Geschäftsmodells, das die Expansion von Gig-Economy-Unternehmen weltweit unterstützt hat: Firmen wie Doordash, Grubhub, UberEats und die Mitfahrzentrale Uber in Amerika oder Deliveroo und Just Eat in Europa. (…)
In den Vereinigten Staaten ist die Entscheidung über die Leistungen für Gigworker noch nicht gefallen. Obwohl die Bundesregierung ihre Unterstützung für mehr Rechte signalisiert hat, werden die wichtigsten Entscheidungen auf Ebene der Bundesstaaten getroffen. Der Ausgang des bisher bekanntesten Falles steht noch aus: Ein kalifornisches Gesetz, das Gigworkern deutlich mehr Rechte einräumt, wurde durch einen Wahlvorschlag gekippt, der nun vor Gericht verhandelt wird. Doch anderswo ist der Trend deutlicher.
Lieferfahrer haben in ganz Lateinamerika gestreikt. Die Kampagne begann mit einem Online-Video, das von einem Gig-Arbeiter in der brasilianischen Hauptstadt São Paulo veröffentlicht wurde. Er behauptet, dass er, als ein platter Reifen an seinem Fahrrad eine Lieferung verzögerte, von der App seines Gig-Unternehmens gesperrt wurde. Er wurde praktisch gefeuert.
Ähnliche Fälle werden vor Gerichten auf der ganzen Welt verhandelt. Die meisten beruhen auf demselben grundlegenden Argument: dass Gigworker keineswegs „unabhängige Auftragnehmer“ sind, sondern ihren Chefs genauso unterstellt sind wie Angestellte in anderen Unternehmen. Tatsächlich sind sie sogar noch weniger unabhängig, da die Entscheidungen darüber, wann und wohin sie geschickt werden und ob sie entlassen werden, von Computeralgorithmen abhängen. Wie werden die politischen Entscheidungsträger und die Gig-Unternehmen darauf reagieren? Und können diese Unternehmen, von denen die meisten noch keinen Gewinn erwirtschaften, ihren Arbeitnehmern grundlegende Rechte gewähren und trotzdem überlebensfähig sein?
In Europa schlägt das Pendel jetzt in Richtung der Arbeitnehmer aus. Anfang des Jahres gab der Oberste Gerichtshof Großbritanniens der Klage von zwei Dutzend Uber-Fahrern auf einen garantierten Mindestlohn statt. Es entschied, dass es sich bei ihnen nicht um freiberufliche „Auftragnehmer“ handelte, da das Unternehmen eine Vielzahl von Instrumenten einsetzte, um die Kontrolle über sie auszuüben. (…) Eine Reihe von EU-Staaten hat sich ebenfalls dafür eingesetzt, die Situation der Gigworker zu verbessern. Frankreich hat vorgeschlagen, dass die Fahrer Gewerkschaftsvertreter wählen können, um bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln. In Italien wurde eine Vereinbarung getroffen, nach der die Lieferdienste Hunderte Millionen Dollar ausgeben müssen, um die Arbeits- und Sicherheitsbedingungen für ihre Fahrer zu verbessern – allerdings ohne sie als vollwertige Arbeitnehmer anzuerkennen. Im August verabschiedete Spanien jedoch ein Gesetz, das Uber und die Lieferplattformen der Gig-Economy verpflichtet, genau diese Anerkennung zu bieten…“ Maschinenübersetzung aus dem (engl.) Artikel von Ned Temko vom 16.12.2021 in Christian Science Monitor - Strategisch gegen den Zwang zur Selbstoptimierung. Der Soziologe Simon Schaupp über offenen und verdeckten Widerstand gegen neue Formen der Kontrolle am Arbeitsplatz
„… Im Vergleich zu Arbeitskämpfen in anderen Branchen sind sie in der Plattform-Ökonomie häufig zunächst selbstorganisiert. Sie werden nicht von den großen DGB-Gewerkschaften geführt. Gleichzeitig sind die Kämpfe meist informeller, auf den ersten Blick so nicht als Streik erkennbar, um Repressionen zu vermeiden. (…) Auch wenn DGB-Gewerkschaften wie Verdi, IG Metall oder NGG sich mittlerweile auch engagieren, herrschte bei ihnen zunächst der Glaube vor, dass sich die prekären Plattform-Arbeiter*innen nur sehr schwer organisieren lassen. Erst als Basisinitiativen wie die FAU Erfolge hatten, änderte sich das. Doch die Gewerkschaften haben auch in klassischen Industriebetrieben Probleme mit der Digitalisierung. [Inwiefern?] Dort verstehen sie sich vor allem als Sozialpartnerinnen. Im Rahmen von Initiativen wie Industrie 4.0 sitzen die Gewerkschaften an einem Tisch mit den Interessenvertreter*innen der Industrie. Das heißt, sie tragen die Digitalisierung prinzipiell mit, um so im begrenzten Maße ein Mitspracherecht zu bekommen. Doch die Folge ist häufig, dass Sachen eingeführt werden, unter denen die einfachen Beschäftigten in der Fertigung leiden. Diese gehen dann auf Distanz zu den Gewerkschaften und entwickeln autonome Formen von informellem Widerstand. (…)
Zunächst ist der Arbeitsprozess darauf angelegt, dass man seine Kolleg*innen nicht trifft. Bei den Essensausliefer*innen gibt es keinen klassischen Betrieb, wo alle sind. Man hat nur sein Handy, das einen durch die Stadt schickt. Doch gibt es in den jeweiligen Städten meist Zonen, wo man häufiger auf Kolleg*innen trifft, weil es dort besonders viele Restaurants gibt. So kann man dann Orte ausmachen, wo man sich trifft und abspricht, wenn man Pause hat. Das ist dann die Grundlage für die Organisierung. Und da hat man als Plattform-Arbeiter*in sogar mal einen Vorteil, weil der Chef oder die Chefin nicht in der Nähe ist. (…)
Zunächst muss man feststellen, dass niemand von diesen Managern sagt »Ich bin Mr. Evil«. Ihnen geht es nicht in erster Linie darum, ihre Beschäftigten ständig zu überwachen und sofort zu bestrafen, wenn ihre Handlungen von irgendwelchen Standards abweichen. Stattdessen geht es ihnen darum, Daten zu erheben und den Arbeitsprozess zu optimieren. Sie hoffen, damit auch bei den Beschäftigten einen Selbstoptimierungsprozess in Gang zu setzen. (…)
Letztlich geht es um die Einbindung billiger Arbeitskraft. Da ist es egal, ob es sich um einen Essenslieferdienst oder einen Industriebetrieb handelt. Mit der algorithmischen Arbeitssteuerung werden Prozesse extrem vereinfacht. Die Beschäftigten bekommen sehr konkrete Anweisungen, was sie machen müssen, und ihre Arbeitskraft wird flexibler einsetzbar. Und attraktiv gemacht wird es den Unternehmen durch den riesigen Niedriglohnsektor, den es in Deutschland gibt.
[In der Plattform-Ökonomie arbeiten nicht nur Prekarisierte im Niedriglohnsektor, sondern zum Beispiel viele sogenannte Techis, Programmier*innen. Gibt es auch von diesen Angestellten Arbeitskämpfe?] Ja, die gibt es auch in diesem Bereich. Die Tech Workers Coalition in den USA, von der es auch in Deutschland Ableger gibt, ist da eine bekannte Akteurin. Diese Kämpfe unterscheiden sich aber deutlich von jenen der prekären Plattform-Arbeiter*innen wie den Lieferbot*innen. [Inwiefern?] Während es bei Lieferbot*innen um klassische Themen wie die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen geht, stehen bei den Programmier*innen eher ethische Fragen im Vordergrund. Schließlich ist ihnen bewusst, dass die von ihnen entwickelten Technologien unser Leben extrem bestimmen – sowohl bei der Arbeit, im Politischen als auch im Privaten. Häufig drehen sich die Kämpfe darum, dass die Techis mit der Verwendung der Technologie nicht einverstanden sind, zum Beispiel wenn der Auftraggeber das US-Militär oder eine Abschiebungsbehörde sein soll. [Gibt es Verbindungen zwischen diesen beiden Gruppen von Angestellten?] Es gibt im Gegenteil häufig große Gräben, weil sich beide Gruppen fast nie treffen. In der Plattform-Ökonomie gibt es sogar häufig proletarische Subkulturen, die sich in Abgrenzung zu den Büroangestellten identifizieren. Bei den Lieferdiensten wird zum Beispiel über die sprichwörtlichen Hipster aus Berlin gemeckert, die irgendwelche Sachen entwickeln, die dann die einfachen Bot*innen ausbaden müssen. Gleichzeitig sind die Büroangestellten schwerer zu mobilisieren, weil sie höhere Löhne haben und ideologisch stärker eingebunden sind. Aber wenn man sie mobilisieren kann, geht damit eine große Produktionsmacht einher…“ Interview von Simon Poelchau am 22.12.2021 im ND online - Die Klickenden und die Geklickten oder: Die Digitalisierung ist eine Proletarisierung
„… So sieht sie also aus, die schöne neue digitalisierte Welt: „Wochenenden sind zum Brunchen da. Ihre Reinigungskraft finden Sie auf helpling.de.“ Auch Katzensitting, Hilfe beim Möbelaufbau oder der Gartenarbeit kann man auf der Webseite einer Vermittlungsplattform buchen. Dabei bringt der Werbeslogan einen Prozess auf den Punkt, der eng mit der Digitalisierung zusammenhängt: eine Polarisierung der Löhne als wichtigsten Arbeitsmarkteffekt der Digitalisierung. Die Verlierer:innen der Digitalisierung werden zu einer neuen digital vermittelten und kontrollierten Dienerschicht. Die oft beschworene technologische Arbeitslosigkeit infolge einer Automatisierungswelle zeichnet sich nicht ab. Stattdessen kommt es zu einem Prozess, der als „kybernetische Proletarisierung“ bezeichnet werden kann. Deutschland hat mit 22,7 Prozent der Beschäftigten einen der größten Niedriglohnsektoren Europas – übertroffen nur von wenigen osteuropäischen Staaten. Diese Situation begünstigt die Entstehung neuer, arbeitsintensiver Produktionsformen. Die algorithmische Arbeitssteuerung, also die digitale Steuerung und Kontrolle menschlicher Arbeit, wird dabei zur technischen Grundlage. (…) Gemeinsam ist all diesen Tätigkeiten, dass es sich fast ausschließlich um extrem prekäre Arbeitsverhältnisse handelt: In vielen Fällen wird mit Scheinselbstständigkeiten oder befristeten Arbeitsverhältnissen gearbeitet. Ein Großteil des kybernetischen Proletariats sind Migrant:innen. In den meisten Fällen sind diese für die ausgeübte Tätigkeit überqualifiziert, aber da sie aus ihren Herkunftsländern und ihren Berufen verdrängt wurden, müssen sie nun niedrig qualifizierte, algorithmisch gesteuerte Tätigkeiten ausüben. Die Kopplung des Aufenthaltsstatus an eine Erwerbsarbeit trägt zu dieser Prekarisierung bei. (…) Die Digitalisierung führt zu einer wachsenden Lohnungleichheit. Auf der einen Seite bewirkt die Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften steigende Löhne; auf der anderen Seite erhöhen Arbeitsverdichtung und Automatisierung den Lohndruck auf mittel und gering qualifizierte Beschäftigte. Die Löhne bei Amazon, Gorillas oder Lieferando sind so niedrig, dass einige Beschäftigte auf zusätzliche Sozialhilfe angewiesen sind. (…) Die steigende Lohnungleichheit macht es profitabler für Unternehmen, hoch bezahlte durch niedrig bezahlte Arbeit zu ersetzen. Dasselbe gilt für Privathaushalte: Hochbezahlte können es sich immer leichter leisten, Arbeiten an andere auszulagern. Die kybernetische Proletarisierung führt aber auch zu einer neuen Welle von Arbeitskonflikten, vor allem informelle Auseinandersetzungen jenseits der etablierten Gewerkschaften. Ein prominentes Beispiel dafür sind die jüngsten „wilden“ Streiks bei Gorillas (der Freitag 46/2021). Wie die kybernetische Proletarisierung ausgeht, ist also noch keineswegs ausgemacht. Sie kann zur ökonomischen Abwertung wachsender Bevölkerungsteile führen. Oder aber neue Klassenkonflikte befeuern.“ Beitrag vom Simon Schaupp aus der Freitag Ausgabe 47/2021 - [Überblick über die Rechtslage] Arbeit auf digitalen Plattformen: selbst- oder fremdbestimmt?
„Der Streit darüber, ob Menschen, die ihre Arbeitskraft auf digitalen Arbeitsplattformen anbieten, Solo-Selbstständige oder abhängig Beschäftigte sind, hat inzwischen auch die Gerichte erreicht. Der verbreitete Einsatz von algorithmischen Steuerungsmechanismen und digitalen Anreizsystemen kann darauf hindeuten, dass es sich in vielen Fällen um fremdbestimmte und weisungsgebundene Arbeit handelt. Sind Menschen, die Aufträge über digitale Arbeitsplattformen ausführen, Solo-Selbstständige oder abhängig Beschäftigte? (…) Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Italien und den Niederlanden haben Klagen gegen digitale Arbeitsplattformen bereits die Gerichte beschäftigt. Bestrebungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ebenso wie der EU-Kommission zielten zuletzt darauf ab, die Gerichte auf nationaler wie europäischer Ebene zu entlasten und für einen nationalen beziehungsweise europäischen Ordnungsrahmen zu sorgen. Für dieses Vorhaben hat die europäische Kommission bereits Konsultationen mit den unterschiedlichsten Sozialpartnern aufgenommen. Das BMAS möchte die Rechtslage zur Plattformarbeit präzisieren und dabei explizit den Sozialschutz für die Betroffenen verbessern. Dies heißt, dass arbeitsrechtliche Regelungen und Standards europaweit vereinbart und durchgesetzt werden sollen. Denn die Zahl der Menschen, die für solche Plattformen tätig sind, wächst langsam, aber beständig. (…) Aktuell plant das BMAS, Plattformarbeiterinnen und -arbeiter in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen und für diese verbindliche Mindestkündigungsfristen einzuführen. Unklar bleibt hierbei allerdings, wie dies geregelt beziehungsweise wie der jeweilige Wohnsitz geprüft werden soll, schließlich kann dieser auch im Ausland liegen. Zudem ist es dem BMAS ein Anliegen, dass persönliche Bewertungen zukünftig auch auf anderen Arbeitsplattformen geltend gemacht werden können. Dies könnte ihre Abhängigkeit von einzelnen Plattformen verringern und damit ihre individuelle Marktmacht erhöhen. (…) Unabhängig von diesem Konzept arbeitet das BMAS aktuell daran, sich über die konkreten Arbeitsbedingungen auf nationalen sowie internationalen digitalen Arbeitsplattformen Klarheit zu verschaffen: Handelt es sich also um fremdbestimmte, weisungsgebundene Arbeiten in persönlicher Abhängigkeit und nicht um Solo-Selbstständigkeiten? Hierzu schlägt das Ministerium vor, den genauen Status über die Funktionsweisen der algorithmischen Arbeitssteuerung zu bestimmen. Bislang wollen die digitalen Arbeitsplattformen ebenjene Funktionsweisen nicht preisgeben und verweisen auf ihre Geschäftsgeheimnisse. Sie befürchten, dass andere Plattformunternehmen profitieren könnten, wenn sie ihre algorithmischen Systeme offenlegen müssen. Das BMAS möchte dieses Dilemma durch eine Umkehrung der Beweislast bei der Feststellung des Status lösen. Demnach müssten nicht mehr die Plattformarbeiterinnen und -arbeiter vor Gericht beweisen, dass sie faktisch abhängig Beschäftigte sind. Vielmehr müssten die digitalen Arbeitsplattformen den Beweis erbringen, dass die Plattformarbeiterinnen und -arbeiter Solo-Selbstständige sind und keine abhängig Beschäftigten.“ Beitrag von Fabian Vogel und Sarah Bernhard im IAB-Forum 11/2021 vom 10.11.2021 - Lieferdienste: Die Armut fährt mit. Moderne Klassengesellschaft: Kurierfahrer bringen in deutschen Großstädten Essen zur Haustür, können sich das Wohnen aber selbst kaum leisten
„… Das Basisstundenlohn der Lieferando-Fahrer liegt laut Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) bei zehn Euro. Ergänzt werde er „durch ein völlig intransparentes, gefährliches und diskriminierendes Bonussystem“, so die NGG. Das Unternehmen hält dagegen: Die Fahrer, die sogenannten Rider, kommen mit den Boni auf einen durchschnittlichen Stundenlohn von 13 Euro. Das sei „mehr als die Angestellten in vergleichbaren Servicebereichen“ bekämen. In München sollen die Kuriere von Lieferando sogar einen Euro mehr Gehalt bekommen, statt zehn Euro erhalten sie elf. Der Grund seien die hohen Mieten in der Stadt, schrieb die Münchner Abendzeitung kürzlich. Für Fahrer von Lieferando – genauso wie für die Fahrer anderer Lieferdienste – bleiben die Wohnungen in München unbezahlbar. Das geht aus einer aktuellen Studie hervor, die der Immobilienmakler Homeday jüngst veröffentlicht hat. Für 80 deutsche Städte wurde anhand des lokalen Medianeinkommens die Mietbelastungsquote errechnet. Für Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München und Stuttgart ging man noch weiter: Hier schaute man darauf, in welchen Wohnvierteln sich Fahrer von Lieferdiensten, Krankenpfleger und Gymnasiallehrer sich das Wohnen noch leisten können. Dabei wurden zwei Ansätze berücksichtigt, welche Wohnkosten noch als vertretbar angesehen werden können. Einmal die 30-Prozent-Regel: Verbraucherschützer und Kreditinstitute empfehlen, dass weniger als 30 Prozent des Haushaltseinkommens für Wohnkosten aufgewendet werden sollten. Dagegen geht das Statistische Bundesamt davon aus, wenn mehr als 40 Prozent des Haushaltseinkommens für Wohnkosten ausgegeben werden, dann liegt eine Überlastung durch Wohnkosten vor. In München liegen die Verdienste von Kurierfahrern laut dem Portal „gehalt.de“ bei rund 2.500 Euro brutto und knapp 1.700 Euro netto – die Lieferando-Fahrer dürften allerdings am unteren Ende der angezeigten Lohnskala stehen. Die Mieten in der Stadt sind jedenfalls derart hoch, dass „Rider“ mehr als 40 Prozent ihres Einkommens zahlen müssen, bei Neuvermietungspreisen zum Teil deutlich mehr. In Stuttgart und Frankfurt am Main sieht es kaum besser aus. In den anderen Großstädten überschreitet die Mietbelastung fast in allen Stadtteilen die 30-Prozent-Marke…“ Beitrag von Bernd Müller vom 12. November 2021 in Telepolis - Lieferdienste: Millionenrendite auf Kosten der Fahrer:innen?
„Ausbeutung durch Lieferdienste? Unternehmen wie „Gorillas“, „Flink“ und Co. gehören zu den Gewinnern der Corona-Pandemie – und sammeln Milliarden an Investorengeldern ein. Ein Hype mit Schattenseiten. Man tue „Alles für die Rider“, sagt etwa „Gorillas“. Doch viele der Fahrer:innen erheben schwere Vorwürfe: Sie würden ausgenutzt und unter Druck gesetzt, Mitbestimmung werde verhindert. Kritiker warnen vor einem flächendeckenden Abbau von Arbeitnehmer:innen-Rechten. Die sog. Rider sind ständig im Stress, immer rasend unterwegs in den Straßen unserer Städte. Ein ziemlich waghalsiger Job, damit die Besteller möglichst schnell alles geliefert bekommen. Oft in weniger als 15 Minuten. Was viele aber nicht wissen: Die radelnden Lieferdienste sind ein Milliardengeschäft für Investoren; die Branche boomt wie kaum eine andere. Die Rechnung ist simpel: Möglichst hohe Marktanteile durch Ausbeutung der Fahrer:innen. Gerechte Löhne? Mitbestimmung? Das sind dann oft Fremdwörter in einer Branche, die deutsches Arbeitsrecht offenbar als Störfaktor empfindet. Dagegen wollte Hubertus Heil (SPD), der bisherige und womöglich auch künftige Bundesarbeitsminister eigentlich etwas unternehmen.“ Video des Beitrags von Andreas Maus, Till Uebelacker und Simon Zamora Martin im MONITOR vom 28.10.2021 - Pest und Potential. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein Mittel verschärfter Ausbeutung – in einer sozialistischen Gesellschaft eines der gesellschaftlichen Planung. Zur politischen Ökonomie der »Plattformen«
„… Die Folgen der Plattformökonomie für das gesellschaftliche Leben sind vielfältig. Das Problem des Verlusts der Privatsphäre gehört dazu. Aber sehr bedeutsam sind auch die Veränderungen in der Arbeitswelt. Im Mittelpunkt der Debatten über diese neuen ökonomischen Akteure steht häufig die Technik und die Tatsache, dass durch technische Mittel immer mehr Arbeitskräfte ersetzt werden könnten. Was dabei verdeckt wird, ist die Tatsache, dass sich die Arbeit und das Leben der Menschen selbst verändern. Zu analysieren wären hier einerseits die neuen Anforderungen im Bereich der eher hochqualifizierten Arbeit bei der Gestaltung der neuen technischen Systeme. Hierbei entsteht die Perspektive von »echtzeitkritischer Arbeit im Telepräsenzmodus, die eine weltweit verteilte Produktionsanlage betreut«, was für die Arbeitenden zu einem »entwicklungsförderlichen Widerspruch von schöpferischer Anarchie und Produktionsdisziplin« und zu einer aus der Selbstorganisierung erwachsenden Widerständigkeit führen kann. Andererseits entstehen vor allem im Bereich prekärer Arbeit neue ausbeuterische Arbeitsformen. Menschen, die für Uber und für Essenslieferketten fahren, müssen jede freie Minute nutzen, um zu clickworken. Crowdworker hinter den »Mechanical Turks« müssen nachts bei jeder Meldung ihres Smartphones mit neuen Aufträgen aufspringen. Es ist wieder mal ein böser Witz der Weltgeschichte, dass die Menschen, die aus der Fabrikarbeit »freigesetzt« wurden oder die erst neuerdings in den Kapitalismus integriert werden, sich nun für derartige Jobs hergeben müssen. Denn eine offensichtliche, auch direkt angestrebte Folge ist die Verbilligung von Arbeit. (…) Eine Gegenwehr der Arbeitenden wird von der algorithmischen Form der Herrschaft wie auch der Individualisierung der Arbeit erschwert. Allerdings kann das auf Dauer nicht verhindern, dass sich vor allem bei den Fahrdiensten die Arbeiter verbünden, machtvoll protestieren, Gewerkschaften gründen und schließlich auch Gesetzesänderungen erreichen, die ihnen ein Angestelltenverhältnis ermöglichen. Die Streikwellen bei Amazon zeigen auch, dass der schon für tot erklärte Klassenkampf an den unerträglichsten Stellen des »absoluten Kapitalismus« wieder auflebt. (…) Neben den direkt bei den Plattformen wie Google und Facebook angestellten, relativ privilegierten Arbeitern sowie den offensichtlich ausgebeuteten Arbeitern in Amazons Logistikzentren basiert die Funktion insbesondere der schlanken Plattformen vor allem auf der Ausbeutung von Menschen, die ihre Arbeitskraft fast im Sekundentakt als Crowdworker vermieten. Einerseits wird hier wieder mehr absoluter Mehrwert abgeschöpft, indem die Arbeitszeit von immer mehr Menschen erhöht wird, und gleichzeitig nimmt die Erzwingung von relativem Mehrwert durch eine extreme Arbeitsverdichtung und -intensivierung ein historisch wohl unerreichtes Ausmaß an. Computer sind häufig nicht wegen der Ersetzung von Arbeitskräften wichtig, sondern wegen der durch sie möglichen Kontrolle der Arbeitsintensität und -länge. Das Besondere an diesem »Plattformkapitalismus« ist also nicht die Digitalisierung, sondern die Erhöhung der Ausbeutung durch Ausweitung und Intensivierung von Arbeit. (…) Warum sollten wir die Plattformen nicht einfach als kapitalistische Infrastrukturen abschaffen? Wir brauchen sie sicher nicht als Werbeplattformen im jetzigen Sinn, wir würden der nicht selbstbestimmten Clickworkerei ein Ende setzen. Aber wir sollten »uns wieder trauen, darüber nachzudenken, was mit diesen Technologien angestellt werden könnte, wenn sie von Arbeitern statt von Kapitalisten produziert, organisiert und kontrolliert werden würden«. Das heißt z. B., dass die Industrien digital automatisiert werden könnten, wo es sachlich sinnvoll ist, um Arbeitszeit und Ressourcen zu sparen, und flexible Anpassungen an sich ändernde Bedürfnisse bei eventuell recht unplanbaren Zugriffen auf die notwendigen natürlichen Ressourcen zu ermöglichen. »Mit der Digitalisierung wäre es möglich, die Herstellung und Verteilung der Güter vernünftig zu planen. Dies muss allerdings gewollt und gemacht werden.«…“ Artikel von Annette Schlemm in der jungen Welt vom 12.10.2021 (Physikerin und Philosophin und arbeitet an der Universität Bonn im Projekt »Gesellschaft nach dem Geld«) - Plattform-Arbeit für autonomes Fahren: Versteckte Arbeitskräfte
„In der Debatte über autonomes Fahren geht es darum, wie sinnvoll und sicher die Technik ist. Aber wer bringt eigentlich den Autos das Fahren bei? (…) Damit autonome Autos in der Spur bleiben und Busse automatisch von A nach B fahren, braucht es nämlich nicht nur ausgefeilte Technik und hochqualifizierte Entwickler. Notwendig sind auch Menschen, die Millionen von Daten erstellen und etwa Fotos aus dem Straßenverkehr beschreiben, damit die Software Zebrastreifen, Radfahrer und Verkehrsschilder erkennt. Erledigt wird diese Arbeit oft von digitalen Plattform-Arbeitskräften irgendwo auf der Welt. Kaum jemand hat sich bislang hierzulande für die Arbeitsbedingungen dieser Menschen interessiert. Zu den Ausnahmen gehören einige Beschäftigte in Autokonzernen und Gewerkschafterinnen wie Vanessa Barth. (…) Die Gewerkschafterin Barth ist irgendwann darauf aufmerksam geworden, dass riesige Mengen an Trainingsdaten für autonomes Fahren notwendig sind, die von Menschen produziert werden. »Entwickler in der Autoindustrie haben sich an mich gewandt und um Hilfe gebeten: Was können wir tun, damit die Daten fair hergestellt werden? Wie können wir verhindern, dass Kinder für die Trainingsdaten arbeiten?«, sagt sie »nd – Die Woche«. Zudem berichteten ihr deutsche Plattformbetreiber, dass viele Aufträge in einem Wettlauf nach unten an Crowdworker in Südamerika oder Asien gehen. Um herauszufinden, wer die Daten wie erstellt, regte die IG Metall bei der Hans-Böckler-Stiftung eine Studie an. Der Wissenschaftler Florian Alexander Schmidt von der HTW Dresden übernahm die Recherche und legte 2019 die erste Branchenanalyse des globalen Marktes für Trainingsdaten für autonomes Fahren vor. Sie gibt Einblicke in die bis heute weitgehend unbekannte Datenproduktion und in die Arbeitsbedingungen der Menschen. (…) Auf den in der Studie berücksichtigten Plattformen für Trainingsdaten lagen die Einkommen der »erfolgreichsten« Arbeitskräfte nach Angaben der Firmenchefs und der Beschäftigten bei einem bis zwei US-Dollar pro Stunde. »Da es sich hier nur um die Topverdiener handelt, muss das Durchschnittseinkommen noch deutlich niedriger sein«, schreibt Schmidt. Die Crowdworker berichteten auch, dass die Vergütung pro Aufgabe gesunken sei, und vermuteten, dass dies mit einem Überangebot an Arbeitskräften zusammenhänge. (…) »Die Branche verändert sich rasant«, sagt die Gewerkschafterin Barth heute. »Doch nach wie vor gibt es einen Riesenbedarf an Trainingsdaten – und zu wenige Plattformen, die halbwegs vernünftige Arbeitsbedingungen bieten.« Das mag ein Grund dafür sein, warum die Firmen die Öffentlichkeit scheuen. (…) In einer Studie des Massachusetts Institute of Technology wurden wir dann fündig. Die Forschenden haben die Kurztrainings und Jobangebote von Sama in Kenias Hauptstadt Nairobi betrachtet. Darin finden sich eine Angabe zur Vergütung in dem Sama-Zentrum in Nairobi, wo Berufsanfänger digitale Jobs wie das Annotieren von Bildern erledigen. Demnach beträgt das Monatsgehalt bei einer Vollzeitstelle und einem Neun-Stunden-Tag im Durchschnitt 301 US-Dollar. Pro Stunde sind das umgerechnet rund 1,30 Euro. Die Vergütung sei großzügig, loben die Forschenden, sie liege um das 2,5-Fache über dem Mindestlohn in Kenia. In Indien arbeiten Insidern zufolge ebenfalls weiterhin Datenproduzenten für die Autoindustrie. Auch dort ist das Lohnniveau teils sehr niedrig. Die Mindestlöhne lagen laut Internationaler Arbeitsagentur (ILO) zuletzt bei umgerechnet rund 1,30 bis 13,70 Euro – pro Tag…“ Artikel von Eva Roth vom 08.10.2021 im ND online - Beschäftigungsverhältnisse und Arbeiterrechte in der Plattform-Ökonomie
„… Unter Plattform-Ökonomie versteht man eine in den letzten Jahren stark gewachsene Unternehmensform, in der Verträge zwischen Leistungsanbietern und Leistungsabnehmern auf Plattformen im Internet oder über Smartphone-Apps angebahnt und abgeschlossen werden. (…) Die brutale Konkurrenz zwischen den Unternehmen der Plattform-Ökonomie ist der zentrale Grund, weshalb diese Firmen versuchen, an allen Ecken und Enden die laufenden Kosten zu drücken. Ein Mittel ist die Entlohnung. Je nach Marktlage wird gedrückt oder ein bisschen nachgegeben. (…) Schon bei der Wahl eines Betriebsrates in einem solchen Unternehmen gibt es ein Hindernis für die Entstehung einer starken Vertretung. Laut Betriebsverfassungsgesetz dürfen nur diejenigen sich an der Betriebsratswahl beteiligen, die am Wahltermin mindestens ein halbes Jahr im Unternehmen beschäftigt sind. Besteht ein großer Teil der Mitarbeiter aus befristet Beschäftigten, so ist auch der Anteil derjenigen hoch, die noch kein halbes Jahr im Unternehmen sind. (…) Da die Beschäftigten der Plattform-Ökonomie mittels des Betriebsrätegesetzes nicht in der Lage sind, eine stabile Interessenvertretung zu bilden, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, eigene Koalitionen zu bilden, die selbständig in der Öffentlichkeit agieren und streikfähig sind. Die Aktionsbereitschaft von Belegschaften wie denen von ‚Gorilla‘ ist deshalb nicht Ausdruck einer prinzipiellen gewerkschaftsfeindlichen Haltung, sondern Notwehr. (…) Rechtlich gesehen bilden diese Zusammenschlüsse jeweils eine adhoc-Koalition. Streiks von solchen Gruppierungen sind nach herrschender Rechtsauffassung ‚wilde Streiks‘.(…) Die Probleme der Beschäftigten in der Plattform-Ökonomie sind späte Folge der von SPD und Grünen umgesetzten Agenda 2010. Mittlerweile gibt es etwa zehn bis fünfzehn Millionen Beschäftigte, die Opfer dieser Politik geworden sind. Ganze Branchen sind von den Änderungen im Arbeitsrecht betroffen. Sie entziehen sich fast vollständig dem gewerkschaftlichen Einfluss und der staatlichen Kontrolle. (…) Die Gewerkschaften haben bei den prekär Beschäftigten nur geringe Mitgliederzahlen. In den Unternehmen der Plattform-Ökonomie trifft dies noch mehr zu. Stellen sie sich nicht auf die neuen Verhältnisse ein, sind sie nicht bereit, sich den veränderten Kommunikationsformen zu öffnen und andere Aktions- und Streikformen als die traditionellen zu entwickeln, werden sie jüngere Beschäftigte nicht für die gewerkschaftliche Arbeit gewinnen können.“ Beitrag von H.B. vom 9. September 2021 bei Arbeiterpolitik online - Gig-Arbeiter*innen in der ganzen Welt schließen sich im Kampf gegen Ausbeutung und Prekarisierung zusammen
„Wenn Firmen in die Plattformarbeit einsteigen, wälzen sie die Kosten für ihre Arbeit auf die breite Öffentlichkeit ab. … In gewisser Weise sind die Plattformfirmen parasitär. (…) In der Ukraine werden die Löhne, die die Plattformen an ehemalige Soldaten zahlen, stillschweigend durch staatliche Arbeitslosenunterstützung und öffentlich finanzierte Verkehrsmittel subventioniert. In Indien haben Zomato und die konkurrierende Lieferplattform Swiggy sowie die Fahrdienstanbieter Uber und Ola an die Öffentlichkeit appelliert, per Crowdfunding für das Wohlergehen ihrer Arbeiter in den ersten Tagen der Pandemie zu sorgen. (…) Statt einer radikalen und fortschrittlichen Neudefinition der Arbeit, die durch neue Technologien und riesige Datenmengen ermöglicht wird, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Aushöhlung jahrzehntelang hart erkämpfter sozialer Schutzmaßnahmen und Rechte. „Die Vorstellung ist, dass dies die Zukunft ist (…) [a]ber eigentlich ist es eine sehr alte Arbeitsmethode. Nur weil sie das Internet nutzt, entsteht der Eindruck, dass sie so modern ist.“ (…) Die Atomisierung der globalen Arbeitnehmerschaft durch die Plattformunternehmen hat es den Arbeiter*innen schwer gemacht, sich zu wehren. Die meisten Unternehmen bestehen darauf, dass ihre Beziehungen immer mit Einzelpersonen bestehen – die Belegschaft ist keine einheitliche Einheit, sondern ein offener Markt unabhängiger Auftragnehmer – und dass sie nicht mit Organisationen verhandeln werden, die im Namen der Arbeitnehmer sprechen. Da sich die Bedingungen jedoch verschlechtern, organisieren sich die Beschäftigten auf den Plattformen zunehmend. Von den von Rest of World befragten Arbeiter*innen gaben 48 % an, dass sie jetzt einer formellen Gruppe oder Gewerkschaft angehören; 49 % gaben an, dass sie an Streiks oder anderen Arbeitskampfmaßnahmen teilgenommen haben. Bei den Zustellern stieg dieser Anteil auf 59 %. Noch wichtiger ist, dass sie sich über nationale Grenzen hinweg organisieren So wie die Unternehmen, die die Plattformen besitzen und in sie investieren, Geschöpfe der Globalisierung sind und Kapital und Geschäftsmodelle von einem Ort zum anderen verschieben können, so nutzt auch die Arbeiter*innenbewegung die globalisierte Kommunikationsinfrastruktur, um sich zu organisieren, trifft sich in internationalen WhatsApp-Gruppen und Telegram-Kanälen, um Erfahrungen auszutauschen, Solidarität zu bekunden und ihre Aktionen zu koordinieren. Die Bewegung wird immer formeller und zielgerichteter und arbeitet zusammen, um Schwachstellen in der Verteidigung der Plattformunternehmen zu finden, da jeder lokale Sieg gegen die Giganten sie einem systemischen Wandel näherbringt.“ Teilweise Übersetzung aus dem englischen Artikel von Peter Guest vom 21.09.2021 bei Rest of World (‘We’re all fighting the giant’: Gig workers around the world are finally organizing)- Weiteres zur Situation von Arbeiter*innen in der Plattformökonomie im LabourNet Germany:
- Amazon, Gorillas & Co.: Was darf die Gig Economy?
„Kündigungen per Bot, GPS-Tracking und mehr: Onlineplattformen machen nicht nur in den USA mit Hire-and-Fire-Praktiken Schlagzeilen. Auch das deutsche Arbeitsrecht schützt nicht überall. Mit Onlineplattformen wie Versandhändlern, Lieferservices oder Carsharing-Diensten ist auch ein noch recht neuer Teil des Arbeitsmarkts entstanden: die sogenannte Gig Economy. Hier werden viele kleine Aufträge kurzfristig und flexibel an Menschen vergeben – die oft unter besonders schlechten Arbeitsbedingungen leiden. Auch das deutsche Arbeitsrecht schützt davor nur teilweise. Am krassesten geht es in der Gig Economy in den für ihre Hire-and-Fire-Arbeitswelt bekannten USA zu. Dort entscheidet etwa bei Amazon Flex eine App darüber, ob Fahrer ihren Job behalten dürfen. (…) Auch aus Deutschland gibt es ähnliche Berichte. So legen Unternehmen mitunter eine Hire-and-Fire-Mentalität an den Tag – etwa wenn Mitarbeiter Liefertermine nicht erfüllen. Ferner sind sie misstrauisch, überwachen ihre Mitarbeiter auf die Sekunde und erwarten, dass sie ihre privaten Gegenstände – wie etwa ihr eigenes E-Bike – kostenlos für die Arbeit verwenden. Das deutsche Arbeitsrecht schützt viele Arbeitnehmer vor den Ausprägungen dieser Hire-and-Fire-Mentalität in der Gig Economy. Doch es gibt einige juristische Schlupflöcher. Mittlerweile gibt es dazu einige Gerichtsurteile…“ Artikel von Harald Büring vom 20. September 2021 bei Golem - Kampf den Plattformen: Mit Selbstorganisierung gegen den „Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“
„Plattformen wie Amazon oder Gorillas schaffen neue technische Mittel. Und ein prekäres Proletariat, das neue Kämpfe anführt. (…) Von den zehn Unternehmen, die 2020 über die größte Marktkapitalisierung verfügten, stützen sich fünf wesentlich auf Plattformen. Und auch andere Unternehmen wie Tesla spielen immer wieder mit der Idee der Plattformisierung ihrer Güter. (…) Plattformunternehmen wie Amazon wachsen schwindelerregend schnell und profitieren sogar noch von der andauernden Corona-Krise. Ebenso wächst die Anzahl der „Gig-Arbeiter:innen“. Genaue Zahlen sind schwer zu finden, doch schon 2018 arbeiteten etwa 15 Prozent der Arbeiter:innen Chinas für Plattformen. So ist nicht nur die Macht der Unternehmen und ihrer Technik gewachsen, sondern auch die Armee der Arbeiter:innen, die sie hervorbrachten. (…) In Bezug auf die Arbeitswelt sind diese Plattformen Teil der sogenannten Gig-Economy, die wir als das Gegenteil von traditioneller stabiler Beschäftigung definieren können: In ihr sind die Jobs zeitlich begrenzt, nach Zielen, mit Unterbrechungen und flexibel und das Internet erscheint immer als Vermittler zwischen den Parteien. (…) Doch im Grunde basiert die Plattform-Ökonomie auf den bekannten Ausbeutungsmechanismen des Kapitalismus. Jeff Bezos selbst brachte es auf den Punkt, als er sich zu seinem Weltraumausflug – völlig ohne wissenschaftlichen Zweck, nur zum reinen Vergnügen – äußerte: „Ich möchte auch allen Amazon-Mitarbeitern und Amazon-Kunden danken. Denn ihr habt all das bezahlt.“ Und das hatten die Arbeiter:innen tatsächlich, indem sie den Mehrwert schufen, den er für seine weltfremde und zynische Weltraummission brauchte. (…) Die Beschäftigten des Plattform-Sektors gehören in mehrerlei Hinsicht zu den am meisten prekarisierten Arbeiter:innen. Viele von ihnen – besonders bei den Lieferdiensten – sind Migrant:innen, viele mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Unternehmen wie Gorillas machen sich das rassistische Arbeits- und Migrationsregime zu Nutze, um ihre Profite zu erhöhen. (…) Den widrigen Bedingungen zum Trotz organisieren sich die Plattform Arbeiter:innen wieder und wieder – für bessere Arbeitsbedingungen, für das Recht auf die Gründung von Betriebsräten und Gewerkschaftsgliederungen, aber auch gegen rassistische und sexistische Diskriminierung und für gesamtgesellschaftliche Forderungen. Beispiele dafür sind weltweit zahlreich. (…) Auch im Bereich der Liefer-Plattformen gibt es seit Jahren Organisierungsprozesse. (…) Wir sind der Meinung, es braucht eine breite Organisierung der Beschäftigten an der Basis, die in Versammlungen und Komitees selbst über ihre Forderungen und Kampfmaßnahmen entscheiden und demokratisch ihre Geschicke in die eigene Hand nehmen. Hierzu reicht es nicht, den Apparat und die Funktionär:innen der Gewerkschaft anzuklagen, sondern es muss auch inhaltlich und politisch der Rahmen gesprengt werden, mit dem die Gewerkschaftsführungen den Kampf in engen „ökonomischen“ Bahnen halten wollen. (…) Der Weg dahin ist noch weit, doch Kämpfe wie bei Gorillas können den Grundstein legen, für eine Vernetzung prekärer Beschäftigter in Komitees, die ein Programm für die gesamte Klasse und einen Ausweg aus der andauernden kapitalistischen Krise vorlegen.“ Beitrag von Anja Bethaven und Stefan Schneider vom 31. Juli 2021 bei ‚Klasse gegen Klasse‘ im Magazin #5: Kampf den Plattformen! - ArbeitnehmerInnen in der On-location-Plattformökonomie – Politische Forderungen der globalen Gewerkschaften
„In Reaktion auf die Erklärung, der G20-Minister für Arbeit und Beschäftigung vom 23. Juni 2021, in der die erheblichen staatlichen Regulierungsdefizite von Arbeit auf und über digitale Plattformen konzediert werden, hat das Trade Union Advisory Committee (TUAC = Gewerkschaftsberatungskomitee) der OECD, dem auch der DGB angehört, ein neues Positionspapier zur Plattformökonomie herausgebracht. In diesem Papier wird zwischen Anbietern für stationäre Dienste („on location“) und Onlinedienste („crowd work“ oder „gig workers“) unterschieden. Allerdings unterliegen beide Formen der Beschäftigung extremen Marktverzerrungen, die sich vor allem in einem Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen ausdrücken, da die App-Anbieter aufgrund fehlender Regularien nicht zur Einhaltung von Marktgesetzen gezwungen sind, sondern die jeweiligen Preise einseitig setzen können und damit sogenannte Monopsone, also Marktformen, in denen nur ein Nachfrager vielen Arbeitskräften gegenübersteht (gelegentlich auch „Nachfragemonopol“ genannt), bilden. Das TUAC-Papier erhebt deswegen folgende Forderungen an die staatliche Politik: Korrektur des Beschäftigungsstatus, Kategorisierung nach Branchen, Einhaltung existierender regulatorischer Standards, Schutz der Arbeiter:innenrechte, Sozialer Dialog und Tarifverhandlungen, Voraussehbarer und gerechte bezahlung, Soziale Schutzmaßnahmen, behördliche Arbeitsaufsicht, Zertifizierung von Apps und nicht-dikriminierende Software, Datenschutz von Arbeiter:innen, und folgende unmittelbare Forderungen an die Plattformbetreiber: Sicherung des Arbeitsschutzes, Löhne zum Leben, Kontrolle durch Menschen und humane Kontrolle, Gerechte Verträge und transparentes Management.“ Zusammenfassende Übersetzung der Meldung „Workers in the On-location Platform Economy – Global Unions’ Policy Demands“ vom 6. Juli 2021 bei der TUAC - Wie prekär ist digitale Plattformarbeit? Einblicke in strukturelle Prekarisierung durch private Regulierung, finanzielle Ausbeutung und soziale Kontrolle auf Online-Plattformen
„Neben innovativem Potenzial stellt Plattformarbeit ein Risiko der Prekarisierung für die Arbeitswelt dar. Durch Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGBs) wird auf Plattformen nicht nur Arbeitsrecht umgangen, sondern im privaten Interesse der Plattformunternehmen reguliert. Die ArbeiterInnen übernehmen das volle unternehmerische Risiko bei gleichzeitig sinkender Entlohnung und unter strenger algorithmischer Kontrolle. Um die Zukunft der Plattformarbeit im Interesse der ArbeitnehmerInnen zu gestalten, muss diese deshalb nicht nur im Zuge der Digitalisierung, sondern auch der Neoliberalisierung des Arbeitsmarktes verstanden werden. (…) Wenn prekäre Arbeit eine Form der Arbeit ist, die von Ungewissheit, Instabilität und Unsicherheit geprägt ist und in der ArbeiterInnen und nicht Unternehmen die damit verbundenen Risiken tragen, ohne rechtlichen Schutz oder eine angemessene Vergütung zu erhalten, dann trifft diese Definition weitestgehend auf Plattformarbeit zu. Jedoch handelt es sich bei Plattformarbeit nicht um eine neue Form der prekären Arbeit in dem Sinne, sondern um eine Wiederkehr der prekären Arbeit unter digitalem Deckmantel. Aktuell sind nur ungefähr 2 bis 4 Prozent der europäischen Bevölkerung auf Plattformen tätig, dennoch handelt es sich um eine Entwicklung mit weitreichender Bedeutung. Prekäre Formen der Arbeit auf Plattformen betreffen nicht nur PlattformarbeiterInnen selbst, sondern auch ihre angestellten KollegInnen in regulären Betrieben, deren Arbeitsplätze durch billigere Arbeitskräfte auf Plattformen gefährdet werden. Andererseits gleichen sich Unternehmensmodelle an und reguläre Betriebe werden „plattformisiert“. Es gilt, was sich auf Plattformen bewährt, wird auch anderswo übernommen, sei es die Deregulierung, die Individualisierung im Sinne des unternehmerischen Selbst oder die erhöhte Kontrolle von Arbeit. (…) Um die Interessen der ArbeitnehmerInnen zurück ins Zentrum zu rücken, muss daher in allen drei Bereichen angesetzt werden. Arbeit auf Plattformen muss besser reguliert werden, sodass ArbeiterInnen vor Ausbeutung durch profitorientierte Unternehmen geschützt werden. Dies kann durch die Einklagung des ArbeitnehmerInnenstatus für manche PlattformarbeiterInnen erreicht werden oder durch die Herstellung von Schutz für alle PlattformarbeiterInnen, beispielsweise unter Anpassung des EU Digital Services Act. Eine rein institutionelle Lösung reicht jedoch nicht, ohne die darunterliegenden Machtungleichheiten infrage zu stellen. Um die Ausbeutung von ArbeiterInnen zu stoppen, braucht es vor allem demokratische Strukturen auf Plattformen und gewerkschaftlichen Zusammenhalt unter PlattformarbeiterInnen. Damit würde die Arbeitswelt nicht nur technologisch, sondern auch sozial gerecht revolutioniert werden.“ Beitrag von Maybritt Hennig vom 16. April 2021 beim A&W-blog des ÖGB, aber auch für Deutschland relevant - DGB fordert mehr Rechte für Plattformarbeiter: Eine Versicherung für Lieferfahrer, mehr Mitbestimmung und ein Verbandsklagerecht sollen die Rechte der Gig-Worker verbessern
„Immer mehr Arbeitnehmer arbeiten für Internet-Plattformen und damit formal oft als Selbstständige. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) will die Rechte dieser Beschäftigten stärken und fordert unter anderem für Lieferfahrer eine von den Auftraggebern finanzierte Versicherung, für sich selbst ein Verbandsklagerecht. (…) Insbesondere Uber und Lieferando nennt der DGB als Beispiele für den „digitalen Schattenarbeitsmarkt“. Um die Rechte der Arbeitnehmer zu sichern, setzt der DGB darauf, diese möglichst wieder in reguläre Arbeitsverhältnisse zurückzuführen. Deshalb plädieren die Arbeitnehmervertreter für eine Beweislastumkehr, wenn Arbeitnehmer versuchen, per Klage einen normalen Angestelltenvertrag zu erlangen. (…) Das Informationsgefälle soll laut DGB generell geringer werden. Die Erwerbstätigen sollen künftig Auskunft über die Steuerungs- und Kontrollmechanismen erhalten, durch die etwa ein Gig-Worker eine besonders lukrative Schicht zugeteilt bekommt, während andere vergeblich auf Arbeit warten. Gleichzeitig sollen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die das Verhältnis zwischen Gig-Workern und Plattform regeln, den strengeren Maßstäben genügen, die bisher bereits bei Geschäften mit Endkunden gelten. Überraschende Klauseln sollen ungültig sein, ein ausländischer Gerichtsstand für Streitfälle dürfe nicht vorausgesetzt werden. Wo keine Tarifverträge möglich oder durchsetzbar sind, will der DGB es Soloselbständigen ermöglichen, kollektiv über die Bezahlung zu verhandeln, ohne dass dies von kartellrechtlichen Bestimmungen verhindert werden kann. (…) Die Plattformen sollen künftig auch mehr für Krankenversicherung und Altersvorsorge von Solo-Selbständigen zahlen. Als ersten Schritt fordert der DGB eine von den Auftraggebern finanzierte Unfall-Pflichtversicherung für „besonders gefahrengeneigte Tätigkeiten“, insbesondere im Handwerk und bei Lieferdiensten…“ Artikel von Torsten Kleinz vom 24.03.2021 bei heise news – siehe dazu den DGB selbst:- Regeln für Plattformarbeit: Ein DGB-Papier zeigt, was die Politik schnell regeln muss
„… Der digitale Schattenarbeitsmarkt wächst. Knapp sechs Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung verdient mindestens einen Teil des monatlichen Einkommens, in dem die eigene Arbeitskraft auf digitalen Plattformen angeboten wird: Essen ausliefern, private Putzaufträge, Handwerkerarbeiten oder Programmierjobs – die Spannbreite ist groß. Für viele Tätigkeiten gibt es jeweils spezialisierte Plattformen, auf denen Kunden Dienstleistungen einkaufen können. Die Corona-Krise hat dem gesamten Markt nochmal Auftrieb gegeben. (…) In einem Papier zeigt der DGB, wo es dringend klare Regeln geben muss, um Ausbeutung zu verhindern. „Knackpunkt bleibt die Frage, wie Beschäftigte, die über digitale Plattformen arbeiten, arbeitsrechtlich eingestuft werden. Wir wollen erreichen, dass die Plattformbetreiber im Zweifelsfall nachweisen müssen, ob es sich um selbständige oder abhängige Beschäftigung handelt. Mit diesem Hebel kommt endlich mehr Licht in diesen Schattenarbeitsmarkt“, betont der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. Die Politik muss deshalb schnellstens nachziehen. (…) Mit dem Positionspapier will der DGB den Druck erhöhen, damit prekäre Plattformjobs in gute und mitbestimmte Arbeitsplätze verwandelt werden. Dazu gehört auch, bislang ungelöste Probleme von tatsächlichen Solo-Selbständigen zu lösen, um tarifliche Regelungen für Solo-Selbständige zu fördern, branchenspezifische Mindesthonorare zu ermöglichen und die Alterssicherung zu stärken.“ DGB-Meldung vom 24. März 2021 zum DGB-Positionspapier zum Plattformarbeit vom März 2021
- Regeln für Plattformarbeit: Ein DGB-Papier zeigt, was die Politik schnell regeln muss
- Krokodilstränen aus Brüssel: EU-Kommission zeigt ein Herz für Plattformarbeiter. Mitgliedstaaten wie Italien oder Spanien sind hier schon weiter
„… Auch ohne den Vorstoß der EU-Kommission sind die Behörden in einigen EU-Ländern dazu übergegangen, die Arbeitsbedingungen für Plattformarbeiter zu regulieren. So hatte beispielsweise die Staatsanwaltschaft in Mailand am Mittwoch angekündigt, dass die Essenslieferdienste Uber Eats, Glovo-Foodinho, Deliveroo und Just Eat innerhalb der nächsten drei Monate rund 60.000 Fahrer per »Kooperationsvertrag« einstellen sollen. Die Staatsanwälte argumentierten, so heißt es auf der Internetseite Euractiv am Donnerstag, dass die meisten Lieferanten offiziell selbständig wären; die von ihnen verrichtete Arbeit sei aber mit der von Angestellten vergleichbar. Die Fahrer seien praktisch scheinselbständig, vollkommen in die tägliche Arbeitsorganisation integriert und würden durch die Unternehmenszentrale koordiniert. Von Italiens größter Gewerkschaft CGIL wurde der Schritt als »großartige Nachricht« begrüßt; die CGIL bekräftigte ihrerseits, dass die Zusteller durch einen landesweiten Tarifvertrag geschützt werden müssten. Mitte Februar war auch bekanntgeworden, dass die spanische Regierung ein neues Gesetz vorbereitet, das die Rechte von Essenslieferanten stärken und ihnen den Status von Festangestellten zusprechen soll. In Spanien hatten sich das Arbeitsministerium, Gewerkschaften und Unternehmerverbände auf diesen Schritt verständigt. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs Spaniens hatte die Gesetzesinitiative ausgelöst: Im September vorigen Jahres entschieden die Richter, dass ein ausschließlich beim Lieferdienst Glovo beschäftigter Zusteller als Angestellter und nicht als Selbständiger zu betrachten sei…“ Artikel von Bernd Müller in der jungen Welt vom 26.02.2021 (wir berichteten, siehe die jeweiligen Länder) - Frei oder abhängig (oder beides gleichzeitig)? Crowdworker zwischen Selbstständigkeit oder Arbeitnehmereigenschaft. Das Bundesarbeitsgericht hat dazu geurteilt
“»Die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber („Croudsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann ergeben, dass die rechtliche Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist.« So beginnt eine Mitteilung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), die unter der trockenen Überschrift Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“ . Es geht um das Urteil vom 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20 des BAG. Und diese Entscheidung hat durchaus Tiefen (manche würden sagen Untiefen). Das Urteil ist mit Spannung erwartet worden. Wenige Tage vor der Verkündigung des Urteils hat beispielsweise Anja Mengel in ihrem Beitrag Wie frei sind Crowdworker? geschrieben: »Die Digitalisierung hat eine Reihe neuer Jobs geschaffen: Menschen fahren Taxi, kontrollieren Supermarktregale oder sammeln E-Roller ein, die Aufträge kommen per App. Die dort tätigen Menschen werden als Crowdworker bezeichnet und gelten bisher in der Regel als Selbstständige. Am 1. Dezember wird das Bundesarbeitsgericht für einen dieser Fälle klären, welchen arbeitsrechtlichen Status Menschen haben, die für derartige Plattformen tätig sind … In dem Fall klagt der Auftragnehmer gegen den Plattformbetreiber darauf, den Status als Arbeitnehmer zu haben und damit auch Ansprüche auf Mindestlohn, Urlaub und Krankenversicherung. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht München (Urt. v. 04.12.2019, Az. 8 Sa 146/19) haben die Klage abgewiesen.« (…) In vorliegenden Fall klagt der Auftragnehmer gegen den Plattformbetreiber (= Beklagte) darauf, den Status als Arbeitnehmer zu haben und damit auch Ansprüche auf Mindestlohn, Urlaub und Krankenversicherung. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht München (Urt. v. 04.12.2019, Az. 8 Sa 146/19; vgl. zu dieser Entscheidung ausführlicher den Beitrag Crowdworker sind keine Arbeitnehmer vom 4. Dezember 2019) haben die Klage abgewiesen. (…) Und wie hat das BAG die Sachlage im vorliegenden Fall beurteilt? »Die Revision des Klägers hatte teilweise Erfolg. Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat erkannt, dass der Kläger im Zeitpunkt der vorsorglichen Kündigung vom 24. Juni 2019 in einem Arbeitsverhältnis bei der Beklagten stand.« Der Blick auf die Begründung des BAG, warum eine Arbeitnehmereigenschaft vorliegen kann, wird den Sorgenfalten bei vielen Plattformbetreibern sicherlich einen ordentlichen Schub verleihen: »Die Arbeitnehmereigenschaft hängt nach § 611a BGB davon ab, dass der Beschäftigte weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit leistet. Zeigt die tatsächliche Durchführung eines Vertragsverhältnisses, dass es sich hierbei um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an. Die dazu vom Gesetz verlangte Gesamtwürdigung aller Umstände kann ergeben, dass Crowdworker als Arbeitnehmer anzusehen sind. Für ein Arbeitsverhältnis spricht es, wenn der Auftraggeber die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Online-Plattform so steuert, dass der Auftragnehmer infolge dessen seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann. So liegt der entschiedene Fall. Der Kläger leistete in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Zwar war er vertraglich nicht zur Annahme von Angeboten der Beklagten verpflichtet. Die Organisationsstruktur der von der Beklagten betriebenen Online-Plattform war aber darauf ausgerichtet, dass über einen Account angemeldete und eingearbeitete Nutzer kontinuierlich Bündel einfacher, Schritt für Schritt vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen, um diese persönlich zu erledigen. Erst ein mit der Anzahl durchgeführter Aufträge erhöhtes Level im Bewertungssystem ermöglicht es den Nutzern der Online-Plattform, gleichzeitig mehrere Aufträge anzunehmen, um diese auf einer Route zu erledigen und damit faktisch einen höheren Stundenlohn zu erzielen. Durch dieses Anreizsystem wurde der Kläger dazu veranlasst, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Kontrolltätigkeiten zu erledigen.« Aber warum hat das BAG die Revision des Klägers gleichwohl überwiegend zurückgewiesen? Dazu erfahren wir, dass »die vorsorglich erklärte Kündigung das Arbeitsverhältnis der Parteien wirksam beendet hat.« Das BAG schickt das Verfahren an das Landesarbeitsgericht München zurück mit dieser Maßgabe: »Stellt sich ein vermeintlich freies Dienstverhältnis im Nachhinein als Arbeitsverhältnis dar, kann in der Regel nicht davon ausgegangen werden, die für den freien Mitarbeiter vereinbarte Vergütung sei der Höhe nach auch für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer verabredet. Geschuldet ist die übliche Vergütung iSv. § 612 Abs. 2 BGB, deren Höhe das Landesarbeitsgericht aufzuklären hat.« (…) Ihr Fazit wird frustrierend klingen für viele Plattformbetreiber, für Juristen, die sich auf diese Abgrenzungsklimmzüge spezialisiert haben, ergibt sich ein interessantes und lukratives Geschäftsfeld: »Eine pauschale Antwort wird es auf die Frage nach dem Status dieser Crowdworker daher nicht geben – dafür sind die Plattformen und Auftragstypen zu unterschiedlich aufgesetzt. Somit wird die rechtssichere Gestaltung der Dienstleistungen, die die digitale Plattformwirtschaft anbietet, bis zu einer (schrittweisen) Klärung der verschiedenen Modelle durch die Rechtsprechung eine spannende Praxisfrage bleiben.«…“ Beitrag von Stefan Sell vom 01.12.2020 auf seinem Blog Aktuelle Sozialpolitik - DGB zu Digitalisierung und Arbeitsrecht: „Das Urteil bringt endlich Licht in den digitalen Schattenarbeitsmarkt“
„Wer seine Aufträge über eine digitale Plattform bekommt, als Essensauslieferer oder Transportdienstleister zum Beispiel, ist nicht zwangsläufig selbständig, er oder sie kann auch Arbeitnehmer sein: Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden und damit die Rechte von Crowdworkern deutlich gestärkt. Jetzt müssen weitere Schritte folgen. Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat Arbeitsminister Hubertus Heil angekündigt, dass er klare gesetzliche Regeln schaffen will, mit denen Arbeitsverhältnisse in der Plattformökonomie unkompliziert festgestellt werden können. Das soll Cowdworkern den Schutz des Arbeitsrechts ermöglichen und Ausbeutung und Scheinselbstständigkeit einen Riegel vorschieben. Der DGB begrüßt das: „Das Urteil bringt endlich Licht in den digitalen Schattenarbeitsmarkt“, sagt Vorstandsmitglied Anja Piel. „Die Beschäftigten werden oftmals als Scheinselbständige um ihre Arbeitnehmerrechte gebracht und sind im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter nicht abgesichert – eine höchst prekäre Lage. Deshalb sollte der Vorschlag von Arbeitsminister Hubertus Heil zeitnah umgesetzt werden, denn es darf nicht sein, dass Beschäftigte immer wieder individuell den teuren und aufwändigen Klageweg beschreiten müssen, um ihren Status als Arbeitnehmer feststellen zu lassen. Die Gewerkschaften brauchen ein Zugangsrecht, um Plattformbeschäftigte besser erreichen zu können. Und selbst dann, wenn Plattformbeschäftigte wirklich selbständig sind, brauchen sie einen Mindestschutz, zum Beispiel durch die gesetzliche Renten- und Unfallversicherung.“…“ DGB-Meldung vom 03.12.2020 - BAG: Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“ / Bundesarbeitsminister Heil will gegen Billiglöhne auf Digitalplattformen vorgehen
- Bundesarbeitsgericht: Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“
„Die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber („Crowdsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann ergeben, dass die rechtliche Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Die Beklagte kontrolliert im Auftrag ihrer Kunden die Präsentation von Markenprodukten im Einzelhandel und an Tankstellen. Die Kontrolltätigkeiten selbst lässt sie durch Crowdworker ausführen. Deren Aufgabe besteht insbesondere darin, Fotos von der Warenpräsentation anzufertigen und Fragen zur Werbung von Produkten zu beantworten. Auf der Grundlage einer „Basis-Vereinbarung“ und allgemeiner Geschäftsbedingungen bietet die Beklagte die „Mikrojobs“ über eine Online-Plattform an. Über einen persönlich eingerichteten Account kann jeder Nutzer der Online-Plattform auf bestimmte Verkaufsstellen bezogene Aufträge annehmen, ohne dazu vertraglich verpflichtet zu sein. Übernimmt der Crowdworker einen Auftrag, muss er diesen regelmäßig binnen zwei Stunden nach detaillierten Vorgaben des Crowdsourcers erledigen. Für erledigte Aufträge werden ihm auf seinem Nutzerkonto Erfahrungspunkte gutgeschrieben. Das System erhöht mit der Anzahl erledigter Aufträge das Level und gestattet die gleichzeitige Annahme mehrerer Aufträge. Der Kläger führte für die Beklagte zuletzt in einem Zeitraum von elf Monaten 2978 Aufträge aus, bevor sie im Februar 2018 mitteilte, ihm zur Vermeidung künftiger Unstimmigkeiten keine weiteren Aufträge mehr anzubieten. Mit seiner Klage hat er zunächst beantragt festzustellen, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. Im Verlauf des Rechtsstreits kündigte die Beklagte am 24. Juni 2019 ein etwaig bestehendes Arbeitsverhältnis vorsorglich. Daraufhin hat der Kläger seine Klage, mit der er außerdem ua. Vergütungsansprüche verfolgt, um einen Kündigungsschutzantrag erweitert. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Sie haben das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses der Parteien verneint. Die Revision des Klägers hatte teilweise Erfolg. Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat erkannt, dass der Kläger im Zeitpunkt der vorsorglichen Kündigung vom 24. Juni 2019 in einem Arbeitsverhältnis bei der Beklagten stand…“ BAG-Pressemitteilung vom 1. Dezember 2020 zu 9 AZR 102/20 - Angestellte der Plattform: Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt entschied über den Beschäftigungsstatus eines Crowdworkers
„… Bislang wurden Crowdworker als Solo-Selbständige behandelt, sie haben daher keine Ansprüche auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keinen Kündigungsschutz und müssen zudem für Alter und Gesundheit selbst vorsorgen. Für die Unternehmen ist das ein gewaltiger Kostenvorteil. Für die Auftragnehmer wird oft das Argument erhöhter Flexibilität ins Feld geführt. Das mag für die Mehrheit stimmen, für die Crowdworking nur eine Nebentätigkeit darstellt. Dem Crowdworking-Monitor von 2018 zufolge arbeitete ein Drittel der Crowdworker allerdings über 30 Stunden pro Woche. Mit Bewertungssystemen und der Zugangskontrolle haben die Unternehmen zudem mächtige Mittel in der Hand. Das führt dazu, dass bei Konflikten deren Betreiber am längeren Hebel sitzt und die Einkommenssicherheit der Auftragnehmer prekär bleibt. Ein solcher Fall wurde am Dienstag erstmals vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt verhandelt. Der Kläger hatte 14 Monate lang im Auftrag eines Plattformunternehmens gearbeitet und dabei die Warenpräsentation an Tankstellen oder in Supermärkten mit Fotos und Texten dokumentiert. In seiner Tätigkeit als Crowdworker hatte der Mann zwischen 15 und 20 Stunden pro Woche gearbeitet und damit durchschnittlich 1750 Euro monatlich verdient. Nachdem es zu einem Konflikt über die Brauchbarkeit von Fotos gekommen war, sperrte das Unternehmen im April 2018 das Benutzerkonto des Klägers und bot ihm keine weiteren Aufträge mehr an. Daraufhin zog er mit Hilfe der IG Metall vor Gericht. Er wollte feststellen lassen, dass er bei der Firma festangestellt sei, zudem forderte er Vergütungszahlungen seitens des Plattformbetreibers. Von den niederen Instanzen wurde er abgewiesen. Formell sei der Kläger frei gewesen, Aufträge abzulehnen, daher liege kein Anstellungsverhältnis vor. Das BAG hat der Klage nun stattgegeben. (…) Bezüglich der vom Kläger gestellten Vergütungsansprüche verwies das BAG zurück an das Landesarbeitsgericht, dass sich nun erneut mit dem Fall befassen muss. Eine 2019 seitens des Unternehmens vorsorglich ausgesprochene Kündigung erklärte das BAG für rechtmäßig.Die Entscheidung stelle klar, »dass Crowdworker nicht generell als Selbstständige anzusehen sind«, sagte die zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner. Das sei zwar kein Präzendenzfall, könne aber ermutigend auf andere Crowdworker wirken, ihren Status überprüfen zu lassen. »Wir begrüßen außerdem, dass das Bundesarbeitsministerium es Crowdworkern erleichtern will, ihren Arbeitnehmerstatus überprüfen zu lassen und die Beweislast umzukehren, falls der Crowdworker Indizien dafür anführt, Arbeitnehmer*in zu sein.«...“ Artikel von Moritz Aschemeyer vom 01.12.2020 beim ND online - Arbeitsschutz bei Onlineplattformen: Gegen Ausbeutung von Crowdworkern – Lieferando & Co stehen schon lange in der Kritik. Bundesarbeitsminister Heil will nun gegen Billiglöhne auf Digitalplattformen vorgehen.
“… Dass Arbeit über digitale Plattformen vermittelt wird, hat sich oft als hilfreich und vorteilhaft erwiesen – nicht nur in der Coronazeit. Nur: Für die Arbeiter:innen sind die Bedingungen manchmal ziemlich miserabel. Billiglöhne, Scheinselbstständigkeit, keine soziale Absicherung sind Begleiterscheinungen dieser digitalen Flexibilisierung. Lieferando zahlt beispielsweise nur knapp über dem Mindestlohn und versuchte in Köln die Wahl eines Betriebsrats zu torpedieren . Auch Essenslieferdienste wie Foodora und Deliveroo stehen immer wieder in der Kritik, arbeitsrechtliche Mindeststandards zu unterwandern . Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) möchte nun die Arbeitssituation der Plattformarbeiter:innen verbessern. Am Freitag legte er ein Eckpunktepapier mit dem Titel „Faire Arbeit in der Plattformökonomie“ vor. „Ich werde nicht zulassen, dass Digitalisierung in der Plattformökonomie mit Ausbeutung verwechselt wird“, sagte Heil. Allein auf die Selbstregulierung der Unternehmen zu setzen, werde nicht reichen. Für eine bessere soziale Absicherung will das Bundesarbeitsministerium etwa, dass soloselbstständige Plattformtätige in die gesetzliche Rentenversicherung mit einbezogen werden und die Plattformen sich an der Beitragszahlung beteiligen. Oder: Um besser gegen Scheinselbstständigkeit vorgehen zu können, soll bei Zweifeln vor Gericht die Plattform in der Pflicht sein, das Gegenteil zu beweisen. Zudem sollen je nach Dauer Mindestkündigungsfristen festgeschrieben werden – denn in der Praxis können Arbeiter:innen oft sehr kurzfristig gekündigt werden. (…) Nach einer EU-Erhebung beziehen 2,7 Millionen Menschen in Deutschland entweder mindestens die Hälfte ihres Einkommens aus Plattformarbeit oder arbeiten mindestens zehn Stunden pro Woche auf diese Weise, wie das Ministerium schreibt. Andere Studien kämen zu geringeren Zahlen. Das Arbeitsfeld scheint jedenfalls sehr heterogen zu sein. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019 , für die rund 700 Plattformarbeiter:innen befragt wurden, gaben 59 Prozent der Befragten an, „sehr“ oder „eher“ zufrieden mit dieser Form der Arbeit zu sein. 31 Prozent hatten ein monatliches Nettoeinkommen von über 3.000 Euro zur Verfügung. Doch jeder vierte Befragte musste mit weniger als 1.500 Euro zurechtkommen. Fast alle gaben an, nur nebenberuflich Plattformarbeit zu leisten, um die Haupttätigkeit finanziell zu ergänzen…“ Artikel von Jasmin Kalarckal vom 27.11.2020 in der taz online , siehe dazu auch: - Streit um den Schutz von Plattform-Beschäftigten
„Kommen neue Regeln zum besseren Schutz von Menschen, die bei Plattformen zum Beispiel Essen liefern? Die Gewerkschaften unterstützen einen Vorstoß des Arbeitsministers. Doch es gibt auch Gegenwind. Unmittelbar vor dem Digitalgipfel der Bundesregierung hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Regierung zu umfassendem Schutz von Plattform-Beschäftigten aufgefordert. Der DGB unterstütze im Grundsatz einen Vorstoß von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zur Begrenzung der Marktmacht von Plattformen, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Zurückhaltend reagierte die Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion. Die FDP lehnte Heils Vorstoß ab. DGB-Vorstandsmitglied Piel sagte: «Die Geschäftsmodelle, die sich über Jahre ausgebreitet haben und von denen immer mehr Menschen betroffen sind, beruhen auf einem eklatanten Macht- und Informationsungleichgewicht zulasten der Beschäftigten.» Nach am Freitag veröffentlichten Eckpunkten des von Heil geführten Arbeitsministeriums sollen auch soloselbstständige Plattformarbeiter künftig sozialen Schutz genießen. Betroffen von dem Vorstoß sind etwa Essenslieferanten, Fahrdienste, Haushaltsdienstleister und Plattformen für Textarbeit. In der Corona-Pandemie haben unter anderem Bringdienste noch größeren Zulauf als zuvor ohnehin schon bekommen…“ dpa-Beitrag vom 30.11.2020 in der FR online
- Bundesarbeitsgericht: Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“
- DGB-Diskussionspapier: Regeln für die Plattformarbeit
„Am 28. und 29. Oktober findet in Dortmund der Digitalgipfel der Bundesregierung statt. Weltweit gewinnen Arbeitsformen an Bedeutung, die über digitale Plattformen angeboten und vermittelt werden. Der DGB hat in einem Diskussionspapier seine Anforderungen an diese Plattformarbeit formuliert. „Wir brauchen faire Regeln für Plattformarbeit, denn hier wird die Digitalisierung in weiten Teilen missbraucht, um prekäre Arbeit zu organisieren“, sagt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. Nach aktuellen Schätzungen im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales („Crowdwork-Monitor“ 2018) sind in Deutschland knapp fünf Prozent der Erwachsenen auf digitalen Plattformen tätig. Und es ist zu erwarten, dass diese Zahl deutlich ansteigen wird. Der DGB hat deshalb in seinem Diskussionspapier einen „Gestaltungsrahmen für Plattformarbeit“ entworfen, der vier wesentliche Punkte umfasst: Die Frage, ob Plattform-Beschäftigte Selbstständige sind, muss auf den Prüfstand. Auch bei digital organisierter Arbeit sollen grundsätzlich nur diejenigen arbeits- und sozialrechtlich als Selbständige gelten, die im wirtschaftlichen Sinne auch wirklich unabhängig sind. Es muss für Plattform-Beschäftigte leichter werden, ihre Rechte durchzusetzen. Dafür soll es bei der Feststellung, ob jemand selbstständig ist, eine Umkehr der Beweislast geben. Demnach gilt die Tätigkeit auf Plattformen als abhängige Beschäftigung, es sei denn die Plattformbetreiber oder Auftraggeber können beweisen, dass es sich um eine echte Selbständigkeit handelt. Die Rechte der Plattform-Beschäftigten gegenüber den Plattform-Betriebern müssen ausgebaut werden – zum Beispiel mit einem Einspruchsrecht für die Erwerbstätigen bei Sperrung, Einschränkung oder Löschung des Nutzer-Kontos. Mehr sozialer Schutz: Auch bei Solo-Selbständigen muss ein arbeits- und sozialrechtlicher Mindestschutz gewährleistet werden und die Risiken der Prekarisierung minimiert werden. Außerdem schlägt der DGB als unterste Haltelinie unter anderem Branchen-Mindesthonorare vor…“ DGB-Meldung vom 28.10.2019 zum Diskussionspapier
Siehe zum Thema (u.a.) auch im LabourNet Germany:
- Dossier: [Vom ADM-Manifest zum KI-Gesetz] Was entscheiden Algorithmen – und wer kontrolliert das?
- Dossier: Mittelalter statt Arbeit 4.0 für Frauen in der Gig-Industrie: Weltweit Diskriminierung, Erniedrigung und Gewalt
- Stoppt die willkürliche Kontoabstellung! Indische Plattform-Gewerkschaft kämpft für staatliche Richtlinien zur sozialen Absicherung von Gig-Arbeitenden
- Dossier: Plattformrichtlinie der EU und der Streit um die Scheinselbständigkeit
- Dossier: EU-Kommission will Tarifverträgen für Solo-Selbstständige den Weg ebnen
- Dossier: Lieferando: Neue Belege für Fahrer-Überwachung
- Wenn Kollege Roboter übernimmt: Wie die Digitalisierung die Gewerkschaften herausfordert
- Plattformökonomie: Sind die Mikrojobs die Vorboten eines neuen Niedriglohnsektors?