Willkürparagraph greift nicht. Bundessozialgericht: Wer aus psychischen Gründen Ausbildung schwänzt, handelt nicht »sozialwidrig«. Jobcenter darf Leistungen nicht zurückfordern
„Beim Existenzminimum darf sich der Staat ausschließlich am Bedarf der Bedürftigen orientieren. So schrieb es das Bundesverfassungsgericht 2010 in einem Urteil zur Höhe der Hartz-IV-Leistungen fest. Die Praxis sieht anders aus. Wer eine Auflage des Jobcenters nicht befolgt, muss nicht nur damit rechnen, für drei Monate die Leistungen um bis zu 100 Prozent gekürzt zu bekommen. Neben der Sanktion drohen ihm auch Rückforderungen und weitere Kürzungen, wenn ihm die Behörde »sozialwidriges Verhalten« unterstellt. In einem Fall hat das Bundessozialgericht (BSG) dem Jobcenter Herne vorige Woche Einhalt geboten. Demnach verhielt sich ein junger Mann, der wegen psychischer Probleme seine Ausbildung geschwänzt und so die Kündigung herbeigeführt hatte, nicht »sozialwidrig«. Der Kläger hatte 2014 eine öffentlich geförderte Berufsausbildung begonnen. Nach wiederholtem unentschuldigten Fehlen kündigte ihm der Maßnahmeträger im Jahr darauf fristlos. Das Jobcenter bewilligte ihm zwar erneut Hartz IV, verhängte aber zur Strafe eine Sanktion. Zusätzlich stellte es fest, dass der junge Mann »das Ende der Ausbildung grob fahrlässig herbeigeführt« habe. Deshalb verpflichtete es ihn dazu, seine aufstockenden Leistungen für ein halbes Jahr in Höhe von rund 3.000 Euro zurückzuzahlen. Das Sozialgericht Gelsenkirchen hatte die Klage des Mannes zunächst abgewiesen. Die nächsthöhere Instanz, das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, sah es anders. Der Bescheid des Jobcenters sei rechtswidrig, da die Voraussetzungen für eine sogenannte Ersatzpflicht nicht vorlägen, heißt es in dessen Urteil. So müsse die Behörde nachweisen, dass der Betroffene absichtlich darauf abgezielt habe, höhere Hartz-IV-Zahlungen zu erhalten. Für den Abbruch der Maßnahme sei er zudem bereits zu Recht sanktioniert worden, betonten die Richter. Dagegen ging das Jobcenter Gelsenkirchen in Revision, doch die Bundesrichter sahen es wie die Vorinstanz: Psychische Probleme seien keine Ursache für sozialwidriges Verhalten…“ Beitrag von Susan Bonath bei der jungen Welt vom 3. September 2019