Ein Jahr nach dem NSU-Prozess: Dass das meiste offen blieb, ist eine Kritik, die sich allmählich verbreitet…
„… Vor genau einem Jahr hat das Oberlandesgericht München das Urteil im NSU-Prozess gesprochen. Das Urteil hat Macht und Ohnmacht der Justiz gezeigt: Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe bekam eine lebenslange Freiheitsstrafe, doch auf der Besuchertribüne klatschten Neonazis, weil einer der Ihren sofort freikam. Ausgerechnet der Mann, der sich als „Nationalsozialist mit Haut und mit Haaren“ bezeichnet. Seitdem gilt er in der Szene als Märtyrer. Der NSU-Prozess hat die Rechtsradikalen nicht eingeschüchtert, er hat sie offenbar ermutigt. (…) Denn die Zäsur war bereits 2011, als die zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge des NSU aufgeflogen sind. Doch da ging es um neun Einwanderer und eine Polizistin. Es drängt sich der zynische Gedanke auf: Offenbar gibt es in Deutschland Mordopfer verschiedener Güteklassen. Migranten und eine einfache Polizistin gehören anscheinend nicht zur Güteklasse 1 A, ein konservativer Politiker dagegen schon…“ – aus dem Kommentar „Vor neuen Abgründen“ von Annette Ramelsberger am 11. Juli 2019 in der SZ online , worin auch noch kurz die letzten terroristischen Aktionen der Nazibanden in der BRD skizziert werden… Siehe dazu auch drei weitere aktuelle Beiträge – zu Aktionen am Jahrestag, dem Stand des Prozesses und zu Kontinuitäten, wie sie sich anhand des Mordes in Kassel aufdrängen…
- „Die Ausstellung bei der #KeinSchlussstrich Kundgebung in #Dortmund“ am 11. Juli 2019 im Twitter-Kanal der Autonomen Antifa 170 berichtet (auch mit einigen Fotos) von der Aktion in Dortmund an diesem Jahrestag – eine von zahlreichen jener Aktionen an verschiedenen Orten, die dafür sorgen, dass jene, die daran interessiert sind, eben keinen Schlussstrich ziehen können…
- „Ein Jahr nach dem NSU-Urteil: Wann kommt das schriftliche Urteil und wie geht es dann weiter?“ von Dr. Björn Elberling am 10. Juli 2019 beim NSU-Watch zum Jahrestag und den Perspektiven der weiteren juristischen Vorgehensweise: „… Im Hinblick auf die Forderung „kein Schlussstrich“ wird vor allem wichtig werden, ob die Bundesanwaltschaft ihre Revision aufrechterhält. Klar ist zwar, dass der Teilfreispruch für Eminger mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme kaum in Einklang zu bringen ist. Diese hat ergeben, dass Eminger seit seiner Jugend ein überzeugter militanter Neonazi ist, der bereits bevor er Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt kennenlernte, begeistert von Vorstellungen des bewaffneten Kampfes war, dass er über Jahre der engste Vertraute des NSU-Kerntrios war, dass er Fahrzeuge angemietet hat, die für Straftaten des NSU genutzt wurden, und dass er auch noch nach der Selbstenttarnung des NSU Böhnhardt und Mundlos mit einer Art Gedenktafel in seinem Wohnzimmer gehuldigt hat…“
- „Von wegen Aufklärung“ von Konrad Litschko am 10. Juli 2019 in der taz online zu den Verbindungen zwischen NSU und dem Mord in Kassel unter anderem: „… Generalbundesanwalt Peter Frank hatte nach dem NSU-Urteil versprochen: „Die Akte NSU wird nicht geschlossen.“ Man werde weiter ermitteln nach Unterstützern suchen. Indes: Dass seitdem etwas passiert wäre, hat man nicht gehört. Nun wirft der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke neue Fragen auf. Auch in Kassel mordete der NSU: Am 6. April 2006 erschossen die Rechtsterroristen hier Halit Yozgat, in dessen Internetcafé – zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık. Gab es Helfer? Wenn ja: Hatte der mutmaßliche Lübcke-Mörder Stephan Ernst, ein langjähriger Rechtsextremist, womöglich mit ihnen zu tun? Diente die NSU-Tat als Vorbild? Die Familie Yozgat will darüber nicht spekulieren. Auch ihre Anwälte halten sich bedeckt. Andere aber stellen laut Fragen. „Natürlich kommt jetzt mit dem Mord an Walter Lübcke alles wieder hoch“, sagt Mehmet Daimagüler, Anwalt der Familien zweier Nürnberger NSU-Opfer. „Wissen wir denn, ob das NSU-Netzwerk nicht noch am Leben ist? Ob es nicht weitermordet? Jetzt rächt sich, dass das NSU-Unterstützerumfeld von der Bundesanwaltschaft nie ausermittelt wurde.“ (…) Klar ist: Gerade nach dem Kasseler NSU-Mord blieben viele Fragen offen. Denn am Tatort war damals auch ein Verfassungsschützer: Andreas Temme. Warum, ist bis heute unklar. Temme behauptet, er habe dort privat auf einer Flirt-Website gesurft und von dem Mord nichts mitbekommen. Letzteres glaubten ihm Ermittler nicht. Ungeklärt ist auch, worüber Temme kurz vor der Tat mit einem V-Mann aus der rechtsextremen Szene Kassels telefonierte. War diese Szene in den NSU-Mord verstrickt? Gleich drei Zeugen berichteten nach dem Auffliegen des NSU-Trios, sie hätten Böhnhardt, Mundlos oder Zschäpe in der Stadt gesehen – mal auf einer Geburtstagsfeier der Szenegröße Stanley R., mal in einer von Rechten besuchten Gaststätte, mal auf einem Szenekonzert. Die Ermittler konnten nichts davon erhärten. Die Häufung der vermeintlichen Sichtungen in Kassel bleibt aber auffällig: alles Zufall?...“