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Strategiedebatte zur Klimabewegung: „Die Deutschen haben die Pflicht, ungehorsam zu sein“
Dossier
„Der Kampf der Jugend gegen den Klimawandel zeigt: Die Demokratie braucht die moralische Auflehnung der Zivilgesellschaft, um zu überleben. (…) Wer dreht nun, wie Rezo, ein Video über Bundesinnenminister Seehofer, der in einem verschachtelten Matroschka-Einwanderungsgesetz ein Abschiebegesetz durchbekommt, das Flüchtlingshelfer kriminalisiert? Nebenher noch ein wenig abhören, Bürger belauschen – und fertig ist der Superstaat. Solche Gesetze sind Handschellen, die ein Staat dem zivilen Ungehorsam anlegt, Mittel gegen das Vertrauen in die Gewissensentscheidung. (…) Je enger die Freiheitsräume werden, je öffentlicher das Private, desto notwendiger ist eine Zivilgesellschaft, die Ungehorsam als Bürgerpflicht verinnerlicht hat.“ Kolumne von Jagoda Marinić vom 13. Juni 2019 in der Süddeutschen Zeitung online , siehe zur Stretegiedebatte der Klimabewegung weitere Beiträge (zu ihrer juristischen Verfolgung v.a. das Dossier: Wachsende Repression gegen die Klimabewegung: Immer neue Prozesse – nun auch gegen die Presse):
- Globale Klimabewegung: «Wir brauchen einen Plan!»
„Die Klimakrise verschärft sich, die Antworten der meisten Staaten sind ungenügend, diverse Öl- und Gaskonzerne wollen ihre Produktion gar ausweiten. Welche Strategien verfolgt in dieser Situation die globale Klimabewegung? (…) Die Klimabewegung befindet sich in einem Veränderungsprozess. Neue Gruppen sind entstanden, Aktionen des zivilen Ungehorsams finden häufiger statt. Täglich werden irgendwo auf der Welt Strassen, Baustellen, Eingänge zu Gebäuden von Ölkonzernen oder Banken blockiert. Die Schüler:innenstreiks, die Greta Thunberg 2018 fast im Alleingang initiierte und damit Millionen von Klimabewegten auf die Strasse brachte, sind zwar kleiner geworden – zugleich aber ebenfalls etwas radikaler. Vertreter:innen der Schüler:innenstreiks wie etwa aus der Schweiz, die in Mailand dabei sind, bestätigen das: In den kommenden Monaten wollen sie Schulen und Universitäten besetzen, und sie planen globale Aktionstage für den März 2024.
In Mailand ist man sich in einem Punkt einig: Die Regierungen haben ihre Versprechen, einen raschen Wandel hin zu einem «grünen Kapitalismus» einleiten zu wollen, nicht erfüllt. Derweil schreitet die Erderhitzung voran. Die Monate Juni bis September 2023 waren die heissesten seit Messbeginn. Kipppunkte drohen überschritten zu werden – jedes Zehntelgrad zusätzliche Erwärmung kann die Situation dramatisch verschlimmern. Doch nichts deutet darauf hin, dass rasch und entschieden etwas dagegen unternommen wird. (…) «Wir brauchen einen Plan, um zu gewinnen!», fordert Medina von der portugiesischen Gruppe Climaxo. Sie spricht von «Klimarealismus», dem man sich stellen müsse. Der Neoliberalismus werde die Klimakrise nie von sich aus stoppen können. Umso mehr gelte es, einen Systemwechsel anzustreben und sich dazu international zu organisieren – so wie es das Kapital schon lange tue. Allianzen bilden, auch mit sozialen und feministischen Bewegungen sowie mit Migrant:innen: Das ist neben den friedlichen Guerillaaktionen von Letzte Generation und Co. die zweite grosse Strategie der hier versammelten Gruppen. Es geht um Fokuspunkte, auf die sich diverse Bewegungen beziehen können. (…)In Mailand ist man sich weitgehend einig: «Wir können nicht länger warten, bis das System reformiert ist. Warten wir zu lange, sind wir alle tot», heisst es in einer Abschlusserklärung des Kongresses. Einig ist man sich auch, dass Stimmen aus Ländern des Südens und speziell von Indigenen stärker gehört werden müssen. Im Dezember sollen die Erkenntnisse von Mailand in ein Treffen in Kolumbien einfliessen, eine Art Gegenkonferenz zum Weltklimagipfel COP28, der zeitgleich in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden wird. Präsident der COP28 ist Sultan Ahmed al-Dschaber, CEO des staatlichen Ölkonzerns…“ Artikel von Peter Stäuber, London, und Daniel Stern, Mailand, in der WoZ Nr. 43 vom 26. Oktober 2023 mit vielen internationalen Beispielen - Disruption for Future!
„Der Klimastreik der Fridays verschwendet nur Ressourcen, sie sind gescheitert. FFF brauchen die Taktiken von Ende Gelände und Letzter Generation.
Was wir in der Klimabewegung uns nicht gern eingestehen: Auch wir werden selbst immer mehr Teil der Verdrängungsgesellschaft, die permanent damit beschäftigt ist, die Klimakrise und ihre Schuld daran von sich wegzuschieben. Dass Fridays for Future allen Ernstes zum 13. Mal zu einem „globalen Klimastreik“ aufruft, ist dafür symptomatisch. 2018 und 2019 hatten diese großen Fridays-Demos eine unglaubliche Wucht, beförderten einen neuen historischen Akteur auf die Bühne der Weltgeschichte: die junge „Generation Klima“. Jetzt ist die Wucht zur Brise geworden. Relevanten politischen Fortschritt kann man nicht erwarten, wenn die Demos immer kleiner werden. Das demonstriert vor allem unsere Schwäche als Bewegung. Es gibt uns nur das Gefühl, aktiv zu sein, dabei richten wir in Wahrheit nichts aus. (…) Die Klimabewegung steckt also tief in einer Legitimationskrise. Hinzu kommt noch etwas, das wir als Bewegung verdrängen, und darin unterscheiden wir uns keinen Deut von der Mehrheitsgesellschaft: die faschistische Welle, die die reichen Länder der Welt gerade erfasst. Einerseits gilt: Je mehr Klimakatastrophe, desto mehr Faschismus. Schließlich werden die Ressourcen knapper, die Konflikte stärker. Das ist meist Nährboden für Hassideologien, selten für Solidarität. Und andererseits gilt auch: Je mehr Faschismus, desto weniger Klimaschutz. Die meisten der rechtsextremen Parteien leugnen schließlich die Klimakrise. In dieser politisch komplizierten Situation organisiert Fridays for Future nun schon wieder einen „globalen Klimastreik“. Das ist eine Verschwendung aktivistischer Ressourcen. Was könnte diese immer noch größte und mit dem dicksten Legitimitätspolster ausgestattete Bewegungsorganisation erreichen, wenn sie sich weiterentwickeln würde? Sie ist der einzige Akteur, der eine Synthese der drei bisherigen Phasen der Klimabewegung schaffen könnte: Aufmerksamkeit, Zustimmung, Kosten. Die sympathische Masse der Fridays könnte mit den Taktiken von Ende Gelände und der Strategie der Letzten Generation den fossilen Alltag ernsthaft durcheinanderbringen. Was, wenn sich von den hoffentlich wenigstens Zehntausenden, die am Freitag auf der Straße sind, ein paar Tausend einfach hinsetzen und bleiben? Disruption for Future. So brauchen wir die Fridays.“ Kommentar von Tadzio Müller vom 14.9.2023 in der taz online - Klimaaktivist*innen, radikalisiert euch!
„Das waren noch schöne Zeiten, als die Klimabewegung mit geeinter Stimme rufen konnte: »Tell the truth!« (Sagt die Wahrheit) »Follow the science!« (Folgt der Wissenschaft). Als wir uns als die Hüterin der gesellschaftlichen Wissenschaftlichkeit und moderner Rationalität feiern konnten. Als die Anderen immer die waren, die verdrängten, wie schlimm es um das Klima steht. Wie lächerlich unzureichend, gelegentlich gar kontraproduktiv alle real-existierende »Klimapolitik« ist. Und wie schnell nun gehandelt werden müsste. Wissenschaftliche Klimarationalität auf der einen, nationalegoistische Verdrängungsgesellschaft auf der anderen Seite. Klare Fronten.
Dumm nur, dass nach dem offensichtlichen Scheitern aller Klimapolitik im Sinne klimarelevanter, dauerhafter Emissionsreduktionen jetzt auch bei uns »Klimas« immer mehr Verdrängungsdiskurse stattfinden. Es ist im Grunde genau wie in der »traditionellen« Gesellschaft: Es geht darum, das Scheitern an den eigenen Ansprüchen zu verdrängen. So lebt es sich nämlich glücklicher. Und darum geht es ja: glücklich zu leben. Das aber wird immer schwieriger. Denn das Klima kollabiert. (…) Ich kenne Klimaaktivist*innen, die genau wissen, wie mies die Situation ist. Die sich aber mit der Wahrheit zurückhalten, weil sie glauben, es sei besser, den Leuten Märchen aufzutischen, da die Wahrheit die Menschen demotivieren könnte. (…) Für uns ist die Einstellung, es sei noch nicht zu spät, höchst gefährlich: Sie bedeutet, dass immer mehr von uns sich der Illusion hingeben, dass »von oben« noch irgendwelche Lösungen zu erwarten seien. Wer nicht sagt, wie mies die Situation wirklich ist, wird sich im besten Fall mit Allgemeinplätzen von der Art aufhalten, mit der man Kinder beruhigt. Aber wir brauchen keine Bevölkerung von eingelullten Kindern. Wir brauchen verantwortliche Erwachsene (nicht im Sinne des biologischen Alters), die wissen, was Sache ist. Und dementsprechend handeln.“ Artikel von Tadzio Müller vom 07.09.2023 in ND online - 60 Jura-Professoren fordern eine völker- und verfassungsrechtskonforme Klimaschutzpolitik: Effektive Maßnahmen gegen die Erderwärmung statt Verwässerung des Klimaschutzgesetzes!
„Berichte über Extremwetterereignisse in allen Erdteilen haben uns in den letzten Wochen noch einmal deutlich vor Augen geführt, welche Folgen die Klimaveränderung haben wird. Darum sind energische und wirksame Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes von größter Wichtigkeit für die Erhaltung der Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens. (…) Die Auseinandersetzungen und fachwissenschaftlichen Debatten zum Klimaschutz werden derzeit von Diskussionen über bestimmte Protestformen, wie z.B. Straßenblockaden, überlagert. Dabei sind insbesondere Forderungen nach einer Verschärfung straf- und polizeirechtlicher Reaktionen beunruhigend und in vielen Fällen verfassungsrechtlich fragwürdig, denn das Versammlungsrecht schützt auch Protestformen, die disruptiv wirken und von der Mehrheit als Störung empfunden werden. Vor allem aber lenken diese Debatten von den dringend nötigen Auseinandersetzungen über die konkrete Umsetzung der verfassungs- und völkerrechtlichen Klimaschutzpflichten ab. Vor diesem Hintergrund fordern wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Verfassungs- und Völkerrechts die gesetzgebenden Organe des Bundes auf, das Klimaschutzgesetz nicht abzuschwächen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein effektives Klimaschutzprogramm mit ausreichenden Maßnahmen zur Einhaltung der Klimaschutzziele und damit der völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zu beschließen.“ Forderungen von 60 Jura-Professoren beim Verfassungsblog am 31. August 2023 , die Ronen Steinke mit der Feststellung „Die Bundesregierung bricht anhaltend deutsches Recht“ kommentiert (Kommentar leider hinter Paywall) - Make Klimaaktivismus sexy again: die Zukunft des zivilen Ungehorsams
„… seit Monaten diskutieren wir darüber, ob die Aktionen der Letzten Generation “dem Klimaschutz schaden”, oder der Klimabewegung, oder dem gesellschaftlichen Klima, etc. Klar, diese Debatten werden primär geführt, um es sowohl der Verdrängungsgesellschaft, als auch der Klimabewegung zu erleichtern, ihr strategisches Scheitern an der Klimafrage noch weiter wegzudrängen (im Sinne der Projektion des eigenen Scheiterns auf andere Akteure). Und meine Antwort auf die Frage “schadet die LG dem Klimaschutz?” ist weiterhin die Gegenfrage: was meint Ihr, turnt Menschen eher vom Klimaschutz ab – dass er mit Sicherheit wahnsinnig teuer wird, eine fundamentale Transformation aller Lebensbereiche beinhaltet, viele alte Sicherheiten umstoßen wird (eben gerade, um das Umstoßen aller alten Sicherheiten zu vermeiden)…? Oder, dass ein paar hundert Menschen in orangenen Warnwesten dafür Straßen blockieren? You see, it’s really quite obvious. (…) ungehorsamer (Klima-)Aktivismus ist ziemlich… unsexy geworden, und, damit einhergehend, hat deutlich an gesellschaftlicher Legitimität verloren, vgl. die Zahlen von MiC. Das ist ein echtes Problem, denn während Unterstützung für Aktionen der Klimabewegung nicht bedeutet, dass es dann Klimaschutz gibt, ist es doch so, dass, je weniger Support es für unsere Aktionen und Aktionsformen gibt, desto weniger Menschen nehmen an diesen Aktionen teil, treffen wir auf mehr und aggressivere Gegenwehr der autobewehrten Hilfssherriffs des Normalwahnsinns, und ist es leichter für die repressiven Staatsapparate, uns aufs Korn zu nehmen.
All diese Themen waren beim Workshop zur “Zukunft des zivilen Ungehorsams” auf dem System Change Camp in Hannover präsent, bei dem eine große Zahl meist junger Aktivist*innen sich die Frage stellte, was die Probleme sind, die unsere Aktionen derzeit oft klein und oft ineffektiv enden lassen, und was mögliche Lösungswege wären. In der Diskussion wurde mir schnell klar, dass ein zentrales Element dessen, was die Tradition des zivilen Ungehorsams in Deutschland so einflussreich gemacht hat (vom global einzigartigen Atom- über den aus klimaperspektive zwar zu späten aber doch als Policymove der Bewegung zuzuschreibende Kohleausstieg über große Erfolge gegen Neonazis wie z.B. in Dresden), vielen nicht wirklich bewusst war. (…) beim zivilen Ungehorsam handelt es sich nämlich nicht bloß um taktisch effektiven Regelbruch, sondern gesellschaftlich legitimierbaren und deswegen taktisch effektiven Regelbruch. Ziviler Ungehorsam findet genau an der Grenze des Machbaren, an der Grenze zwischen bisher schon weithin legitimiertem Regelbruch (Beispiel: als weißer Bürgi in Berlin kiffen ist ein auch von den Cops meist akzeptierter Regelbruch; oder als schwuler Mann im Tiergarten öffentlichen Sex haben, same thing there), und bisher noch nicht legitimen Regelbrüchen statt, und versucht, diese zu verschieben. So eine Verschiebung lässt sich, abstrakt gesprochen, auf zwei Wegen erreichen: entweder nimmt man ein Konfliktfeld, in dem bestimmte Regelbrüche schon legitim sind, und radikalisiert in diesem die Aktionsform. (…) Alternativ nimmt man eine schon legitimierte Aktionsform, und dehnt sie auf ein neues Themenfeld aus, wie zum Beispiel Ende Gelände mit der 5-Finger-Taktik und dem Antikohlekampf. In jedem Fall ist die Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung zur Aktion ein zentraler Teil der Aktion. Ein wichtiger Grund, warum Ende Gelände für einen linksradikalen Akteur ungewöhnlich wenig Repression erleben musste, lag darin, dass ein erheblicher Teil der politischen und anderweitigen Ressourcen der Kampagne nicht nur in die Aktionsplanung floss, sondern in die Arbeit, unsere Aktionen gesellschaftlich zu legitimieren. (…) Sexy, d.h. gesellschaftlich nicht nur legitim sondern sogar attraktiv zu sein, bedeutete auch, dass es sehr schwer war, die Klimabewegung mit Repression zu überziehen (…) die Klimabewegung muss daran arbeiten, den Ungehorsam wieder zu legitimieren, damit wir überhaupt wieder erweitert handlungsfähig werden. Da sehe ich einerseits die LG in der Pflicht, die zumindest mehr Aufmerksamkeit auf leicht legitimierbare Aktionen wie z.B. vs. Yachten und Privatjets legen sollte, auch, wenn diese nicht ganz die zentrale Strategie der LG fortschreiben. Andererseits Fridays For Future, die ihren Klimastreik am 15.9. nicht nur passiv-reaktiv dazu nutzen sollten, zu zeigen, dass wir immer noch einige (nicht: viele) sind, sondern zu zeigen, dass wir ungehorsam und somit handlungsfähig sind, sie sollten einiges ihrer Legitimität für die Bewegung im allgemeinen nutzen, denn ohne “radikale Flanke” ist auch ein bestens aufgestellter moderater Flügel (which Fridays definitely isn’t) nicht nur ineffektiv – er ist auch einfach unsexy…“ Beitrag vom 10.08.2023 von und bei Tadzio (Friedliche Sabotage) - Privatjet und Porsche-Party: Die Letzte Generation nimmt die Verschwendung durch Superreiche ins Visier
„… Die Aktivist*innen der Letzten Generation haben ein neues Ziel für ihre Aktionen gefunden. Den Ressourcenverbrauch von Superreichen. »Ein Golfplatz in der Klimakrise ist wie eine Essensschlacht mitten in einer Hungersnot«, erklärt die Aktivistin Miriam Meyer, die bei der Aktion auf Sylt dabei war. Warum hat sich die Letzte Generation einen Golfplatz ausgesucht? Die Erklärung der Gruppe ist simpel: wegen des Ressourcenverbrauchs. »Der Wasserverbrauch eines mitteleuropäischen 18-Loch-Platzes, wie etwa dem Golfplatz Budersand auf Sylt, beträgt 35 000 Kubikmeter pro Jahr. Das ist der Wasserverbrauch von über 750 Deutschen pro Jahr.« Die Letzte Generation stört sich an den Emissionen der Superreichen, sie hat viele Zahlen, um ihre Kritik zu untermauern. Der Energieverbrauch der reichsten zehn Prozent ist etwa genauso hoch wie die finanziell schwächsten 40% der Deutschen zusammen verbrauchen.
Die Aktion auf dem Golfplatz, war nicht die erste in der neuen Kampagne der Letzten Generation. Am vergangenen Wochenende machten Aktivist*innen als ungebetene Gäste bei einer Jubiläumsshow zum 75. Geburtstag des Sportwagenherstellers Porsche auf sich aufmerksam. Pflanzenöl wurde auf der Fahrbahn der Autoshow vor dem Werk in Stuttgart-Zuffenhausen verteilt, die Anreise der 800 geladenen Partygäste durch Sitzblockaden verzögert. Auch auf Sylt war der Golfplatz nicht das erste Ziel der Letzten Generation. Die Bar des Fünf-Sterne-Hotels Miramar wurde mit Farbe besprüht, ein orangenes Pulver verteilt, das »die bedrohlichen Rauchschwaden, die seit gestern die New Yorker Metropole verhüllen« symbolisieren sollte. Auch einen Privatjet erwischte es schon auf der Insel, er wurde komplett mit oranger Farbe eingesprüht.
Ist das ein Strategiewechsel der Letzten Generation oder nur eine Erweiterung der Protestmöglichkeiten, wie sie die Gruppe auch schon bei Aktionen in Museen und Kunstausstellungen gezeigt hatte? »Straßenblockaden sind nach wie vor ein großer Teil unseres Widerstands«, stellt Hendrik Frey von der Letzten Generation im Gespräch mit dem nd klar. Wer also gehofft hatte, in Zukunft von »Klimaklebern« verschont zu werden, wird enttäuscht…“ Artikel von Sebastian Weiermann vom 16.06.2023 im ND online , siehe auch:- Was wollen Sie schützen, Kanzler Scholz? Sylt: Golfplatz zum Naturschutzgebiet erklärt
„Unterstützer:innen der Letzten Generation renaturieren gerade eine Golf-Bahn des Golfplatzes Budersand auf Sylt…“ Beitrag vom 15. Juni 2023 in untergrund-blättle.ch - Letzte Generation „renaturiert“ Golfplatz auf Sylt
„Aktivisten gruben einen Teil des Rasens auf dem Golfplatz um und pflanzten Setzlinge und Blumen. Mit ihrer Aktion wollen sie die reichsten Bürger kritisieren…“ Artikel von Eva Maria Braungart vom 14.06.2023 in der Berliner Zeitung online - „Golfplatz renaturiert…“ Thread von Letzte Generation vom 14. Juni 2023 mit Fotos, siehe auch deren Homepage
- Was wollen Sie schützen, Kanzler Scholz? Sylt: Golfplatz zum Naturschutzgebiet erklärt
- Warum Klimaaktivistin Lena Schiller verurteilt wurde – und nicht Olaf Scholz. Und warum der Prozess zeigt, dass unser Rechtssystem versagt.
„Amtsgericht Tiergarten in Berlin, Raum 4100. Das Strafverfahren gegen die Klimaaktivistin Lena Schiller endet. Richterin Wermter verurteilt sie zu 50 Tagessätzen à 50 Euro. Neben der Strafzahlung von 2.500 Euro muss sie auch die Kosten des Verfahrens tragen. Die Sitzung dauerte rund 1,5 Stunden. Lena Schiller konnte schon vor der Verhandlung wissen, dass ihre Chancen, Recht zu bekommen, eher gering sind – es ist ja nicht der erste Prozess, der gegen Aktivisten der „Letzten Generation“ geführt wird. Fast täglich gibt es Strafverfahren an Berliner Gerichten. Bundesweit sollen es laut Medienberichten bereits Anfang November letzten Jahres 2000 gewesen sein. Trotzdem kämpft Lena Schiller im Prozess um Anerkennung und die Rechtmäßigkeit ihres Protests. Sie vertritt sich dabei selbst und trägt allein sechs Beweisanträge vor – alle ausführlich begründet, rechtlich mit Paragrafen und Gerichtsurteilen untermauert. Doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Und am Ende mahlen die Mühlen des Rechtssystems. Urteil: schuldig. Der 43-jährigen Therapeutin, Gründungsmitglied einer gemeinnützigen NGO und Mutter von vier Kindern, wird von der Staatsanwaltschaft Nötigung und Widerstand vorgeworfen. Die Richterin folgt dieser Ansicht. (…) Die Klimaschützerin wird in Berufung gehen, wie viele andere auch, und ist bereit, die Klage bis zum Europäischen Gerichtshof zu tragen. Keineswegs ein hoffnungsloses Unterfangen. Es gibt durchaus Juristen , die die rechtliche Lage anders bewerten , als Richterin Wermter im konkreten Fall, und die Sitzblockaden als legitimen Ausdruck der Versammlungsfreiheit bewerten. (…) Unser Rechtssystem, das zeigen die Proteste der „Letzten Generation“, ist keineswegs unparteiisch und unpolitisch. Es steht in der Klimakrise auf der falschen Seite. So wird das planetare Unrecht nicht nur nicht von Gerichten sanktioniert und bestraft. Es ist nicht einmal justiziabel. Oder sollte man sagen: noch nicht – siehe Nürnberger Prozesse. Aber dann könnte es zu spät sein. Forderungen und konkrete Vorschläge für einen internationalen Gerichtshof für Klimaverbrechen und Ökozide gibt es bereits. Auch national könnte eine derartige Institution eingerichtet werden. Worum es dort gehen sollte, deutet UN-Generalsekretär António Guterres an: „Die Fakten [hinsichtlich des Zusammenbruchs von Ökosystemen] liegen auf dem Tisch und sind unbestreitbar. Dieser Verzicht auf Führung [beim Klimaschutz] ist kriminell“. Es ist aus schlichten Gerechtigkeitsgründen so: Wenn Lena Schiller verurteilt wird, dann sollte sich auch Olaf Scholz vor Gericht verantworten müssen. Besser heute als morgen. Am besten aber sollte die Bundesregierung umgehend der Wissenschaft, dem Pariser Klimavertrag, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den Forderungen von Klimaschützer:innen und -bewegungen wie der „Letzten Generation“ folgen. Wenn nicht, werden weitere Störungen folgen, daran ändern auch Gerichte nichts. Am Ende unumkehrbare klimatische, die wir auf jeden Fall vermeiden sollten. Auf die Frage der Richterin, ob sie weiter an Sitzblockaden teilnehmen will, antwortete Lena Schiller, dass sie das nicht ausschließen könne.“ Beitrag von David Goeßmann vom 6. Mai 2023 in Telepolis – ist in der Tat ein ziemlich wichtiges – aber gottlob auch umstrittenes – Rechtsproblem, was über das Thema „Klima“ hinausgeht… - Ziviler Gehorsam, nicht Ungehorsam ist unser Problem
„Die „Letzte Generation“ steht am Pranger, zu Unrecht. Regelbruch und Widerstand sind das Schwungrad des historischen Fortschritts. Warum Medien und Politik Ungehorsam nur in der Vergangenheitsform feiern.
Die friedlichen Sitzblockaden der Klimaprotestgruppe „Letzte Generation“ werden immer wieder in Medien zum Teil stark kritisiert. Ihnen wird vorgeworfen, die Gesellschaft zu terrorisieren, illegal zu handeln, den Autoverkehr willkürlich zu stören und die Falschen zu treffen, Rettungskräfte zu behindern, die Bevölkerung zu spalten, während die Aktionen keinen Effekt auf die Politik hätten, sondern Bürger:innen von Klimaschutz entfremden würden. Die Vorwürfe im Einzelnen zu prüfen – manche sind falsch, manche scheinheilig – würde an dieser Stelle zu weit führen. Einige Anmerkungen von mir dazu finden Sie hier .
Was in der Debatte, in der Fragen der Legitimität, Legalität und Effektivität oft wild und unrechtmäßig vermischt werden, dabei fast nie auftaucht, ist die zentrale Rolle, die ziviler Ungehorsam für geschichtlichen Fortschritt bis heute gespielt hat – und auch in der Klimakrise spielen muss. (…) Zinn würde angesichts der Menschheitskrise und des Unrechts von Regierungen, mit vollem Wissen über die Folgen auf Kurs zu bleiben, wohl sagen: Nicht die „Letzte Generation“ ist unser Problem, sondern der Mangel an Ungehorsam gegen dieses planetare Verbrechen. Und der Glaube daran, dass die Lösung der Menschheitskrise im politischen, störungsfreien Normalbetrieb ablaufen werde – was in Sicht auf die letzten Jahrzehnte und die vielen Massendemonstrationen, Petitionen und politischen Offensiven eher ein frommer Wunschtraum ist. Den Klimaaktivist:innen bläst sicherlich ein rauer Wind ins Gesicht, wie vielen Ungehorsamen zuvor in der Geschichte. Aber mutige Aktionen, bei denen friedlich Protestierende bereit sind, wegen ihrer Gewissensentscheidung sogar ins Gefängnis zu gehen, können Sogeffekte erzeugen. Zu beobachten sind jedenfalls einige Solidarisierungen, die nicht nur von anderen Gruppen innerhalb der Klimabewegung ausgehen. (…) Wenn aber die Mehrheitsbeschaffung für das dringend Notwendige politisch weiter verweigert bzw. von Lobbys blockiert wird, und danach sieht es aus, wird es in Zukunft mehr Ungehorsamsaktionen geben müssen – und meiner Vermutung nach wohl auch geben, um die politisch Verantwortlichen auf diese Weise unter Druck zu setzen.“ Beitrag von David Goeßmann vom 27. April 2023 in Telepolis - Letzte Generation und Fridays for Future: Streit ums Klima – und um Protestformen
„… In der Klimabewegung gibt es grundlegenden Streit. Die Bewegung Fridays for Future (FFF) hat den Aktivist*innen der Letzten Generation vorgeworfen, mit ihren Protestaktionen die Gesellschaft zu spalten. »Die Klimakrise braucht gesamtgesellschaftliche Lösungen und die finden und erstreiten wir nur gemeinsam und nicht, indem wir Menschen im Alltag gegeneinander aufbringen«, sagte FFF-Sprecherin Annika Rittmann der Deutschen Presse-Agentur. Die Kritik bezog sich vor allem auf die Aktionsformen der Letzten Generation wie Blockaden oder das Festkleben auf Straßen. Von diesen Aktionen seien insbesondere Pendler betroffen, die auf ein Auto angewiesen seien, so Rittmann weiter. Dieser Kritik schloss sich auch die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen an. (…) Fridays for Future sei es gelungen, sehr viele Menschen auf die Straßen zu bringen, die die Breite der Gesellschaft repräsentiert hätten, sagte Mihalic weiter. »Zustimmung reicht jedoch nicht aus«, kommentiert der Bewegungsexperte und Klimaaktivist Tadzio Müller im nd-Gespräch. »Die Aktionen der Letzten Generation irritieren die Menschen – und nach dem Scheitern anderer «Hebel» könnte das eine Motivation sein, endlich etwas gegen die Klimakatastrophe zu unternehmen«, so Müller weiter. (…) Immer deutlicher wird, dass FFF und die Letzte Generation anderen Ansätzen folgen. Während erstere versuchen, die breite Bevölkerung und alle Altersgruppen zu erreichen und zu überzeugen, versuchen letztere durch ihre Aktionen, den gesellschaftlichen Ablauf zu stören und vor allem den Verkehr zu unterbrechen. Damit eckt die Letzte Generation zwar immer wieder an, ist aber medial durchaus erfolgreich. Ihr gelingt es, dass der Kampf gegen die Klimakatastrophe auf der Tagesordnung bleibt. Für Tadzio Müller kommt die Kritik von FFF daher auch zur Unzeit. »Es ist ein schlechtes Statement zum falschen Zeitpunkt«, sagt er dem »nd«. »Gerade vor einer so groß geplanten Aktion öffnet die Kritik von FFF dem politischem Gegner Tür und Tor. Dadurch wird die Klimabewegung in vermeintlich gute und schlechte Demonstranten gespalten.« Für Müller kann die Klimabewegung jedoch nur ohne Spaltung stark sein. »In Lützerath haben wir gesehen, dass wir gemeinsam als politische Macht stark sein können.« Müller fordert von FFF eine Entschuldigung und ein Statement, dass die Klimabewegung zusammensteht. Unterstützung bekam die Letzte Generation unlängst von unerwarteter Seite. Eine Gruppe von mehr als 240 Politikern, Wissenschaftlerinnen, Geistlichen und Intellektuellen hat die Selbstbezeichnung aufgegriffen und sich in einem Appell an Kanzler Olaf Scholz gewandt: »Wir alle gehören zur ersten Generation, die die Folgen der Erderhitzung spürt. Wir sind die Generation, die es so weit hat kommen lassen. Und wir gehören zur letzten Generation, die aufhalten kann, was uns droht: der globale Verlust unserer Kontrolle über die menschengemachte Klimakrise.« Im Ziel scheint sich die Klimabewegung durchaus einig – über die Mittel wird weiter diskutiert.“ Artikel von Christopher Wimmer vom 13. April 2023 in Neues Deutschland online - Sind wir kaltherzige, irrationale Klima-Ignoranten? Die Macht der Klimaschmutzlobby ist fragil
„Wie konnte es soweit kommen, dass wir wie die Lemminge Richtung Abgrund laufen? Haben uns fossile Lobbys und korrumpierte Politik derart fest im Griff? Warum die Chance auf eine Wende nie günstiger war als heute.
Gestern gingen wieder viele Hunderttausend Menschen beim globalen Klimastreik auf die Straßen. Nicht nur in Deutschland, wo allein 240 Protestaktionen angemeldet wurden und die Veranstalter 220.000 Demonstrierende zählten , sondern überall auf der Welt, von Bangladesch bis Kenia . In Deutschland stand beim Streik vor allem die Verkehrswende im Fokus. Die Allianz von Klimastreikenden mit Verdi-Warnstreikenden hält Nikolaus Piper in der Süddeutschen Zeitung jedoch für absurd. Die Forderung nach mehr Lohn für Zug- und Busfahrer:innen sei klimaschädlich: „So streiken Verdi und Fridays for Future die Verkehrswende kaputt“, heißt es in der Schlagzeile. Es scheint der SZ entgangen zu sein, dass der Autoverkehr seit Jahrzehnten Unsummen erhält und die Schiene vernachlässigt wird . Die Verkehrswende ist bis heute von der Auto- und Öl-Lobby erfolgreich blockiert worden. Die aktuelle Intervention von Verkehrsministers Wissing in Brüssel ist nur ein weiteres Beispiel für diese Verhinderungspolitik. Infolgedessen ist der Treibhausgas-Ausstoß im Straßenverkehr über 30 Jahre nicht nur nicht gesunken, sondern angestiegen und macht einen beträchtlichen Teil der Gesamtemissionen aus. Aber klar, die Lohnforderungen von ÖPNV-Angestellten sind schuld. (…) Vielmehr sieht es im Moment so aus, als ob wir – trotz Aufbegehrens in Teilen der Gesellschaft, vor allem innerhalb der jüngeren Generationen –, wie die Lemminge in den Abgrund laufen.
Wie konnte es so weit kommen?
Zuerst einmal: Die fossilen Industrien haben den Kurs Klimakollaps durchsetzen können und verteidigen ihn bis heute recht erfolgreich. Sie sind eine Schurkenindustrie. Sie haben ihren Einfluss, ihre ökonomische Macht, in politische Macht umgemünzt. Sie haben verheimlicht, gelogen und Propaganda gegen die Energiewende gemacht. Versagt haben sie aber eigentlich nicht. Ihr Geschäftsmodell sind nun einmal die fossilen Rohstoffe. Versagt hat unser politisches System: also Parteien, Parlamente, Regierungen. Politiker:innen werden ja von uns gewählt, um das Gemeinwohl zu wahren. Doch sie sind der Schurkenindustrie gefolgt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon ist: Unser politisches System ist ziemlich dysfunktional und tendiert dazu, Profite über Mensch und Natur zu stellen. Ein anderer ist: Konformismus. Menschen mit Privilegien verhalten sich in Machtsystemen meist stromlinienförmig. Versagt haben aber nicht nur Politiker:innen, versagt haben wir alle, versagt hat unser Verständnis von Politik und Demokratie. Wir sind ja nicht nur wegen der Stärke der fossilen Energiekonzerne auf Crashkurs, sondern wegen der Schwäche der Zivilgesellschaft. Wir haben versagt, die Schurken in die Schranken zu weisen und die Politik zu drängen, das Notwendige zu tun. (…) Verantwortlich für die blockierte Energiewende sind vor allem die, die Meinungsmacht besitzen. Also die „klugen Köpfe“, die intellektuell-politische Klasse, die oberen 20 Prozent, die gute Universitäten besucht haben. Sie koordinieren Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne der wirklich Mächtigen. Es sind Journalistinnen, Politiker und Intellektuelle, Richterinnen, Verbandsfunktionäre und Managerinnen. (…) Sie haben den politischen Kurs legitimiert, in Worten und durch Taten. Alles gut belegbar. Als Taktgeber haben sie Klimaschutz diskreditiert, Energie-Pioniere als Spinner bezeichnet und an den Rand gedrängt. Andere, tatsächlich die meisten, haben geschwiegen, von der Seitenlinie zugeschaut und beim Grünwaschen mitgemacht. Am Ende haben sie auf die dummen Bürger:innen gezeigt, die für Klimaschutz einfach nicht zu gewinnen seien. Selbst die, die mehr Klimaschutz wollen, haben ihre Stimme in der politischen Öffentlichkeit viel zu oft gedämpft. Wissenschaftliche Politikberater, Umweltverbände, Umweltjournalisten oder Kirchenleute, die angeblich die Schöpfung bewahren wollen. (…) Daraus die Lehre „Bringt doch ohnehin nichts“ zu ziehen, wäre jedoch eine fatale und auch falsche Schlussfolgerung. Die eigentliche Botschaft ist: Fortschritt ist möglich, wenn Bewegungen sich bilden, die organisiert kämpfen, aus Fehlern lernen und immer mehr an politischem Einfluss gewinnen. Die Chancen für eine Wende sind heute so günstig wie nie. Das ist der große Erfolg des jahrzehntelangen Kampfs für Klimaschutz. Das zeigt sich auch an der Klimaschmutzlobby. Sie ist heute angeschlagen und in der Defensive. Natürlich, sie hat weiter Geld. Damit kann man einiges machen: Politik unter Druck setzen und auch kaufen. Man kann damit Meinung manipulieren, den Energiewende-Prozess verlangsamen. Aber ihnen schwimmen die Felle weg. Warum kommt heute kaum eine Werbung mehr ohne den Hinweis auf Klimaneutralität aus? Ganz einfach: Die Verschmutzer haben Panik. (…) Dass Fridays for Future und die Gewerkschaft Verdi miteinander bei einem Klimastreik kooperieren, ist ein gutes Zeichen. Die arbeitende Bevölkerung und Gewerkschaften müssen mit ins Boot geholt werden, wie auch die Kirchen und andere Verbände. Das wird nicht leicht werden, es wird Konflikte geben. Aber ein echter Green New Deal ist letztlich ein historisches Konjunktur- und Jobprogramm…“ Kommentar von David Goeßmann vom 04. März 2023 in Telepolis , siehe zum aktuellen Hintergrund:- unser Dossier: Betriebsräte der ÖPNV-Unternehmen für den Ausbau des Nahverkehrs für die Verkehrswende – zusammen mit der Klimabewegung
- Ein Freitag für die Verkehrswende sorgt für kreative Weiterbildung zum so restriktiven deutschen Streikrecht…
- und Bremsklotz Deutschland: EU verschiebt Abstimmung über Verbrenner-Aus
- Strategie der radikalen Flanke 2.0: Klimaungehorsam für Alle!
„Liebe Leute, Lützerath “worked”. Die Klimabewegung ist wieder eine Bewegung, sie flattert mehr nicht einflügelig und ungeliebt über den deutschen Autobahnen, sondern hat wieder einen radikalen, und einen moderaten Flügel – und das spannende daran ist: beide Flügel sind seit Lützerath ungehorsam. Das macht uns wieder strategiefähig, und beginnt, die Frage zu beantworten, wie wir im Kontext des unausweichlichen, eigentlich jetzt schon laufenden transnationalen Großangriffs der Verdrängungsgesellschaft auf die Klimabewegung reagieren werden: mit. Mehr. Klimaungehorsam! Einerseits vom cool-ungehorsamen, andererseits vom störend-ungehorsamen Flügel. (…) Anders gesagt, die Frage “sollen, und wenn ja, wie können wir die ‚Grünen‘ für Lützerath bestrafen?” ist nur eine Unterkategorie der viel wichtigeren, der zentralen Frage: welche strategischen Schlussfolgerungen zieht die Klimabewegung aus Lützerath, wie nutzen wir den Aufwind, den wir auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung bekommen haben, um weiter Bewegungsmacht aufzubauen, und somit die Umsetzung unserer Positionen durch die eigene Praxis und durch welche Partei auch immer dann und dort an der Regierung ist, zu ermöglichen?
Die Klimabewegung nach Lützerath
Zuerst zur Prämisse der Frage, also der Aussage, dass “Lützerath” die gesellschaftliche Breite und Kraft der Klimabewegung nicht nur wieder unter Beweis gestellt, sondern sie sogar erweitert hat. Da wäre zuerst der empirisch messbare “Lützerath Effekt”: der Anteil der Bevölkerung, dessen klimapolitische Erwartungen von “keiner Partei” abgeholt werden, stieg von 12% auf 17% an, was andeutet, dass die (potenzielle) gesellschaftliche Basis der Klimabewegung sich deutlich erweitert hat. (…) However, seit Lützerath sind wir wieder stärker in der Lage, Klimaaktivismus als eine nicht nur vernünftige, sondern hoffnungsvolle, gar inspirierende Sache zu framen (darzustellen), weil dieser Diskurs in der Bevölkerung nun wieder einen Nährboden findet: die Bilder aus Lützerath sprachen einfach eine zu deutliche Sprache. Auf der einen Seite die stabile Einigkeit der Bewegung, die sich, wie der Hambi gezeigt hat, aus der gemeinsamen Verteidigung eines physischen Ortes zwar nicht notwendigerweise ergibt, aber doch deutlich einfacher herzustellen ist, als dies bei einem Kampf für eine Policy zum Beispiel der Fall ist; auf der anderen Seite das klare Framing: Leben vs. Tod, Gut vs. Böse, vernünftig vs. normalwahnsinnig. (…)
Wenn also (nur?) in der gemeinsamen Verteidigung eines Ortes gegen den fossilkapitalistischen Normalwahnsinn eine geeinte, beliebte, und in der Breite ungehorsame Klimabewegung entstehen kann – bedeutet dass dann nicht, ist es dann nicht für die Klimabewegung absolut notwendig, Widerstandsnester zu schaffen, Orte, an denen wir geeint stehen, und von der Gesellschaft als “die Guten”, als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Rationalität gesehen werden können? Dies wäre genau die Art von Arbeit, die zum Beispiel Ende Gelände, Fridays For Future und die seit dem Hambi stetig stärker und zentraler werdenden anarchistischen Teile der Klimabewegung gut unter sich aufteilen könnten – zum Beispiel in der Bekämpfung von Autobahnneubauten (wie z.B. bei der Berliner A100, oder dem Kampf um den #Fecherbleibt in Frankfurt), oder des Neubaus fossiler Gasinfrastruktur – während die Letzte Generation weiter ihre Strategie der Störung der gesellschaftlichen Normalität fährt…“ Beitrag vom 2.2.20234 in Friedliche Sabotage , Blog von Tadzio Müller- Siehe auch unser Dossier: Wer regiert NRW? Kohlekonzern RWE torpediert mit Umwallungsarbeiten in Lützerath
- Klimaschutz statt Repression gegen “Letzte Generation”: Weihnachten im Knast, Aufruf zur Selbstanzeige, 2 Petitionen und Unterstützung durch GrundrechtlerInnen
- Klimaschutz statt Repression: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt auch im Umgang mit der ›Letzten Generation‹!
„Mit dem Vorwurf der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« nach § 129 StGB fahren die Strafverfolgungsbehörden schweres Geschütz gegen gewaltfreien Klimaprotest auf, der mit der Einhaltung der Klimaschutzziele ein verfassungs- und völkerrechtlich legitimiertes Anliegen verfolgt. Angesichts der weitreichenden Grundrechtseingriffe, die durch diesen Vorwurf gerechtfertigt werden, halten wir die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Neuruppin nach § 129 StGB gegen Menschen aus der Bewegung ›Letzte Generation‹ für unverhältnismäßig. Die strafrechtliche Verfolgung von Mitgliedern der Bewegung ›Letzte Generation‹ hat eine neue Qualität erreicht. Am vergangenen Dienstag, den 13.12., kam es zu elf Hausdurchsuchungen und der Beschlagnahmung von Handys, Laptops und Plakaten. Der Vorwurf lautet »Bildung einer kriminellen Vereinigung« gemäß § 129 Abs. 1 StGB, außerdem Störung öffentlicher Betriebe (§ 316b StGB), Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und Nötigung (§ 240 StGB). Medienberichten zufolge wurden Ermittlungen gegen insgesamt 34 Beschuldigte in acht Bundesländern eingeleitet, nachdem seit Mai bei mehreren Protestaktionen an der PCK-Raffinerie in Schwedt Ventile zugedreht und der Öl-Zufluss damit kurzzeitig unterbrochen worden sein soll. Zwei Wochen vor den Hausdurchsuchungen hatten mehrere Landesminister auf der Innenministerkonferenz Ermittlungen nach § 129 StGB gefordert.
Anfangsverdacht der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« bereits fraglich
Die Unterzeichnenden kritisieren dieses Vorgehen, denn bereits das Vorliegen des Anfangsverdachts bezüglich der Bildung einer kriminellen Vereinigung erscheint zweifelhaft. Der Tatbestand setzt voraus, dass eine Gruppe die Begehung von schweren Straftaten bezweckt, von denen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Das trifft auf das Festkleben an Straßen, Gemälden und Flughäfen als bislang wichtigster Protestform der ›Letzten Generationen‹ schon im Ansatz nicht zu. Ob Sitzblockaden und andere Formen des zivilen Ungehorsams überhaupt strafbares Verhalten darstellen, ist fraglich – Gerichte und Staatsanwaltschaften haben die wertungsoffenen juristischen Fragen der Verwerflichkeit und eines rechtfertigenden Klimanotstandes zuletzt unterschiedlich beantwortet und Protestierende vereinzelt freigesprochen. Jedenfalls aber haben die mit den Sitzblockaden verbundenen Vorwürfe kein ausreichendes Gewicht, um Vorwürfe nach § 129 StGB begründen zu können. (…) Für die strafrechtliche Bewertung des Gesamtbildes ist außerdem entscheidend: Die Bewegung agiert nicht im Verborgenen, sondern trägt ihre Ziele und Methoden sowie die Identität der Beteiligten in die Öffentlichkeit. Dort, wo die gewählten Protestformen des zivilen Ungehorsams die Grenzen zur Strafbarkeit überschritten haben, stellen sich bislang alle Aktiven den Strafverfahren. All das spricht entscheidend gegen die Annahme einer kriminellen Vereinigung. (…) Leider reihen sich die Ermittlungen in andere staatliche Maßnahmen gegen die ›Letzte Generation‹ ein, wie die wahrscheinlich verfassungswidrige Anordnung eines 30-tägigem Gewahrsams in Bayern. In ihrer Gesamtheit erwecken diese Maßnahmen den Eindruck einer Instrumentalisierung des Ordnungs- und Strafrechts für die Delegitimierung und Einschüchterung von unliebsamem Protest. Das ist eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig. Repression sollte nicht die Antwort des Staats auf eine Klimabewegung sein, die den Erhalt unser aller Lebensgrundlagen einfordert und an die Einhaltung von Gesetz und Recht erinnert…“ Gemeinsame Erklärung des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, von Green Legal Impact e.V., Lawyers4Future, ClientEarth, der Humanistischen Union und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. als Pressemitteilung vom 22.12.2022 auf der Webseite des RAV , siehe auch: - Keine Kriminalisierung von friedlichem Protest: Klimaaktivist:innen freilassen!
Petition von Georg Kurz an Nancy Faeser, Bundesinnenministerin und Innenministerkonferenz - Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung: »Letzte Generation« ruft Unterstützer zur Selbstanzeige auf
„Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat die Klimaaktivisten der »Letzten Generation« im Verdacht, eine kriminelle Vereinigung zu bilden. Nun geht die Gruppe in die Offensive und ruft zur Selbstbezichtigung auf. (…) Nun geht die Gruppe in die Offensive. Sie hat für alle Unterstützerinnen und Unterstützer eine E-Mail vorbereitet und auch ein Onlineformular vorbereitet, über das die Selbstanzeige direkt verschickt werden kann. Die Mail trägt den Betreff: »Selbstanzeige für § 129 kriminelle Vereinigung, Aktenzeichen 326 Js 14549/22«. Im Text heißt es dann: »Ich sehe mich als Mitglied und Unterstützer:in der ›Letzten Generation‹ und möchte daher, dass Sie mich in Ihre Prüfungen einbeziehen.« Und weiter: »Nach meinem Rechtsverständnis erfüllt die ›Letzte Generation‹ die rechtlichen Anforderungen zur kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB nicht. Dennoch lade ich Sie ein, gegen mich zu ermitteln, um das gerichtlich prüfen zu können.« Auf der Seite wird darüber informiert, eine Selbstanzeige sei »nicht ohne Risiko«, schon ein Ermittlungsverfahren könne »unangenehme Konsequenzen, wie zum Beispiel Hausdurchsuchungen mit sich bringen«. Dann folgt die Anregung: »Wenn du dir vorstellen kannst, mit uns gemeinsam das Risiko der Kriminalisierung einzugehen, im verzweifelten Versuch, unsere Lebensgrundlagen zu schützen, dann bekenne dich zu deiner Unterstützung, indem du dich selbst anzeigst!«…“ Meldung vom 23.12.2022 beim Spiegel online , siehe dazu ihre Homepage und Twitter-Account sowie die Petition auf change.org : „Werde Teil der kriminellen Vereinigung “Letzte Generation”“ - „Letzte Generation“ in Bayern: Aktivisten bleiben Weihnachten im Gefängnis
„In München sind zehn Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ nach Blockadeaktionen in längerfristigen Polizeigewahrsam genommen worden. Das Amtsgericht hat die Anordnung bereits überprüft und bestätigt, wie die Polizei am Donnerstag mitteilte. Die Aktivisten im Alter von 18 bis 50 Jahren müssen nun teilweise bis zum 5. Januar in Gewahrsam verbringen…“ AFP-Meldung von José-Luis Amsler am 22.12.2022 in der Berliner Zeitung online
- Klimaschutz statt Repression: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt auch im Umgang mit der ›Letzten Generation‹!
- Ende Gelände kündigt massiven Widerstand gegen fossiles Rollback an: Proteste bei Eröffnung von LNG-Terminal in Wilhelmshaven + Aktionen gegen die Räumung von Lützerath
„Anlässlich der Eröffnung des ersten Flüssiggas-Terminals in Wilhelmshaven am heutigen Samstag hat das Aktionsbündnis Ende Gelände massiven Widerstand gegen ein Rollback bei der Nutzung fossiler Energien angekündigt. Es gab sowohl eine Protestaktion in Wilhelmshaven gegen den Ausbau von Infrastruktur für Flüssiggasimporte als auch Solidaritätsaktionen in mehreren deutschen Städten gegen den drohenden Abriss des Dorfes Lützerath am Braunkohletagebau Garzweiler. Mit den verschiedenen Aktionen will das Bündnis für Klimagerechtigkeit die grundsätzliche Abkehr von den fossilen Energien Öl, Kohle und Gas forcieren. (…) Dazu Charly Dietz, Pressesprecherin von Ende Gelände: „Wir sind mitten in der Klimakrise. Aber statt endlich aus Öl, Kohle und Gas auszusteigen und eine radikale Energie- und Wärmewende einzuleiten, erleben wir ein massives Comeback fossiler Energien. Heute geht in Wilhelmshaven das erste deutsche LNG-Terminal an den Start. Dabei ist Gas ein Brandbeschleuniger der Klimakrise. Zehn weitere Flüssiggas-Terminals sollen folgen und können bis 2043 jährlich mehr Gas nach Deutschland schaffen, als derzeit verbraucht wird. Wir werden uns dem Import von LNG entschieden entgegenstellen. Wer so skrupellos unsere Zukunft verfeuert, muss mit massivem Widerstand der Klimagerechtigkeitsbewegung rechnen.“ (…) Dazu Dina Hamid, Pressesprecherin von Ende Gelände in Nordrhein-Westfalen: „Es ist völlig klar, dass hinter dem fossilen Rollback die Profitinteressen der Energiekonzerne stehen. Während in der aktuellen Krise viele nicht mehr wissen, wie sie ihre Energierechnung bezahlen sollen, machen RWE und Co. auch dieses Jahr wieder Rekordgewinne. Daher kämpfen wir in Lützerath nicht nur für Klimagerechtigkeit, sondern auch für die Vergesellschaftung von Energiekonzernen und einen grundlegenden Systemwandel. Für uns ist klar: In einem System, in dem Profite und nicht Bedürfnisse zählen, kann es keine soziale Gerechtigkeit geben.“ (…) Für Januar hat das Bündnis zu Massenaktionen gegen die Räumung des bedrohten Dorfes Lützerath aufgerufen.“ News vom 18. Dezember 2022 von und bei Ende-Gelände.org- Siehe auch unser Dossier: Wer regiert NRW? Kohlekonzern RWE torpediert mit Umwallungsarbeiten in Lützerath
- Vorwurf kriminelle Vereinigung: Durchsuchungen bei Aktivist*innen der „Letzten Generation“ – rechtsstaatliche Minimalstandards über Bord geworfen
- Vorwurf kriminelle Vereinigung: Durchsuchungen bei Aktivist*innen der „Letzten Generation“
„Bei Aktivist*innen der „Letzten Generation“ soll es Hausdurchsuchungen gegeben haben. Der Vorwurf: „Bildung einer kriminellen Vereinigung.“ Die Klimaaktivist*innen der Gruppe „Letzte Generation“ vermeldeten am Dienstagvormittag auf Twitter , dass es Hausdurchsuchungen bei elf Personen aus ihrer Bewegung gegeben habe. Ab fünf Uhr morgens seien Wohnungen durchsucht worden, unter Angabe des Vorwurfs der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Die Aktivist*innen schreiben, dass elektronische Geräte wie Laptops und Handys konfisziert wurden, außerdem Plakate. Der Staatsanwalt Cyrill Klement bestätigte den Einsatz. Es gehe um elf Objekte im gesamten Bundesgebiet. Als Grund nannte er die mehrfachen Attacken von den Klimaaktivist*innen auf Anlagen der Raffinerie PCK Schwedt. Unter anderem durchsuchte die Polizei die Wohnung der Aktivistin Carla Hinrichs, die auch bereits in mehreren Talkshow-Formaten über ihren Aktivismus gesprochen hat. Sie schrieb dazu auf Twitter: „Und jetzt? ja, das ist beängstigend, wenn die Polizei deinen Kleiderschrank durchwühlt. Aber denkt ihr ernsthaft, dass wir jetzt aufhören werden?“ Die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ werteten die Durchsuchungen als „Einschüchterungsversuch“, der sie nicht stoppen werde. „Wir stehen mit Gesicht und Namen für das, was wir tun – wenn der Wunsch nach Informationen besteht, braucht es keine Hausdurchsuchung.“…“ Artikel von Linda Gerner vom 13.12.2022 in der taz online , siehe auch: - Strafverfolgung der Letzten Generation: Die Hilflosigkeit des Staates
„Gegen die Letzte Generation wird wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Losgetreten wird damit eine Eskalationsspirale. Erst vergangenes Jahr hat das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung bescheinigt, dass sie in einer ihrer elementarsten Aufgaben versagt – die durch die Klimakrise bedrohten Lebensgrundlagen der Bürger:innen zu schützen. Doch offenbar denkt die Ampelregierung nicht einmal daran, sich auf den Hosenboden zu setzen und ihre Hausaufgaben zu machen. Stattdessen schlägt die Staatsgewalt nun gegen jene zu, die die Regierung an ihr Versagen erinnern: Die stets vollständig friedlich agierenden Aktivist:innen der Letzten Generation. (…) Das Vorgehen entblößt deshalb in erster Linie nur die Hilflosigkeit des Staates. Die Letzte Generation soll so eingeschüchtert werden, dass sie ihre Aktionen einstellt. Die bittere Ironie ist: Losgetreten wird damit nur eine weitere Eskalationsspirale…“ Kommentar von Timm Kühn vom 14.12.2022 in der taz online - Klimabewegung im Visier: „Letzte Generation“ als „kriminelle Vereinigung“ verfolgt
„Am heutigen Dienstag, 13. Dezember 2022, fand frühmorgens eine bundesweite Razzia gegen Mitglieder der Klimaschutzorganisation „Letzte Generation“ statt, bei der elf Objekte durchsucht wurden. Anlass waren die Ermittlungen nach §129 StGB, mit denen die Staatsanwaltschaft Neuruppin die Aktivist*innen als „kriminelle Vereinigung“ verfolgen will. Dieser Repressionsschlag ist ein neuer Höhepunkt in der grotesken Hetzjagd gegen die Klimagerechtigkeitsbewegung, in der sich Politik, Behörden und Medien seit Wochen zu übertreffen versuchen. Gerade die „Letzte Generation“, die ihren Forderungen mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Straßenblockaden Nachdruck verleiht, war in den vergangenen Wochen zum staatlichen und bürgerlichen Hauptfeindbild geworden. Nachdem ihnen die Schuld an einer Verkehrstoten zugeschoben worden war, übertrumpften sich Politiker*innen und Medien in absurden Vergleichen und bezeichneten die Aktivist*innen als „terroristisch“. Vor allem in Bayern folgten schwere Polizeimaßnahmen gegen Blockierer*innen, unter anderem mehrwöchige Präventivhaft gegen Dutzende von Mitgliedern der „Letzten Generation“. (…) Der Durchleuchtungsparagraf 129 ermöglicht nicht nur die heutigen Hausdurchsuchungen, von denen auch mehrere Aktivist*innen betroffen waren, die derzeit in Präventivhaft sitzen, sondern auch umfassende Überwachungsmaßnahmen, durch die die staatlichen Organe besseren Einblick in die Strukturen bekommen wollen. Damit ist eine neue Ebene der Angriffe gegen die „Letzte Generation“ erreicht. (…) „Aktuell gibt es kaum eine Repressionsmaßnahme, vor der die staatlichen Organe in ihrem Kampf gegen die Klimagerechtigkeitsbewegung zurückscheuen. Selbst rechtsstaatliche Minimalstandards werden dabei über Bord geworfen. (…) Wir solidarisieren uns mit den von Repression Betroffenen und fordern die Einstellung der laufenden Verfahren sowie die Freilassung aller inhaftierten Aktivist*innen.““ Bundesvorstand von Rote Hilfe am 13.12.22
- Vorwurf kriminelle Vereinigung: Durchsuchungen bei Aktivist*innen der „Letzten Generation“
- München schränkt per Allgemeinverfügung weitere Klimaproteste ein, sofern die versammlungsrechtliche Anzeigepflicht nicht eingehalten ist
„Aufgrund der jüngsten Aktivitäten der Klimaaktivist*innen untersagt die Landeshauptstadt München per Allgemeinverfügung zur präventiven Gefahrenabwehr im gesamten Stadtgebiet der Landeshauptstadt sämtliche Versammlungen in Zusammenhang mit Klimaprotesten in Form von Straßenblockaden, bei denen sich Teilnehmende fest mit der Fahrbahn oder in anderer Weise fest verbinden, sofern die versammlungsrechtliche Anzeigepflicht nicht eingehalten ist. Die Allgemeinverfügung ist ab dem 10.12.2022, 00.00 Uhr wirksam und bis vorerst zum Ablauf des 08.01.2023 gültig. Dieses Verbot erstreckt sich auf alle Straßen, die für Rettungseinsätze und Gefahrenabwehrmaßnahmen besonders kritisch sind, sowie alle Bereiche der Bundesautobahnen, inklusive Autobahnschilderbrücken. Die betroffenen Straßen ergeben sich aus der Auflistung, die der Allgemeinverfügung angehängt ist. Das bedeutet, dass sowohl das Veranstalten von als auch die Teilnahme an solchen Versammlungen und Protestaktionen verboten ist. Der Aufruf zur Teilnahme an einer untersagten Versammlung ist strafbar. Das mit der Allgemeinverfügung ausgesprochene Verbot dient dazu, die Freihaltung der Hauptrouten der Einsatz- und Rettungsfahrzeuge im Stadtgebiet jederzeit zu gewährleisten und möglichen Schaden für Leib und Leben abzuwenden, der aufgrund von Verzögerungen bei Einsatzfahrten entstehen könnte. In Abstimmung mit dem Polizeipräsidium München erachtet das Kreisverwaltungsreferat die hiermit einhergehende Einschränkung des Versammlungsrechts aufgrund der Erfahrungen in den letzten Tagen als erforderlich. Die am Montagmorgen am Stachus stattgefundene Versammlung war bislang die einzige Protestaktion, die im Vorfeld medial angekündigt worden war. Die Versammlungsbehörde und das Polizeipräsidium München haben daraufhin versucht, dem hohen Gut der Versammlungs- und Meinungsfreiheit einen angemessenen Raum zu geben und dabei gleichzeitig durch entsprechende Auflagen die Erfordernisse der Gefahrenabwehr umzusetzen, wie dies stets bei allen anderen Versammlungen praktiziert wird. Diese Reglementierungen wurden von den Aktivist*innen gänzlich missachtet und jegliche Kommunikation mit den Behörden ausdrücklich abgelehnt…“ Pressemitteilung der Stadt München vom 9. Dezember 2022- Zu Details in der rechtlichen Argumentation siehe die 24-seitige Allgemeinverfügung der Landeshauptstadt München vom 9. Dezember 2022
- Grundrechtekomitee, Rote Hilfe und die Aktionsgruppe „unfreiwillige Feuerwehr“ kritisieren die Haftbedingungen von Klima-Aktivist*innen und fordern deren sofortige Freilassung
„Die Aktionsgruppe „unfreiwillige Feuerwehr“ hatte das Kohlekraftwerk Jänschwalde in Brandenburg am 19. September 2022 blockiert. Als Folge mussten zwei Blöcke des Kraftwerks für einige Stunden heruntergefahren werden. Nach der Räumung der Blockade und 30 Stunden in Gewahrsam verhängte das Amtsgericht Cottbus gegen vier Personen, die sich weiter weigerten, ihre Personalien anzugeben, Untersuchungshaft. Zwei der Inhaftierten kamen frei, nachdem sie ihre Identität angegeben haben. Ava und Ralph sind weiterhin in Haft. Sie wurden wegen der Kraftwerksblockade inzwischen zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Die Verteidigung hat erneut Haftbeschwerde beim Amtsgericht Cottbus eingereicht. Ihre Haftbeschwerden gegen die U-Haft hatte das Gericht zuvor abgelehnt. Die Gefangenen sitzen in der JVA Luckau-Duben und Cottbus-Dissenchen unter menschenunwürdigen und rechtswidrigen Bedingungen. Statt den üblichen fünf Tagen waren sie drei Wochen in Quarantäne und eine Gefangene musste zwei Wochen auf einen akuten Arzttermin warten. Briefe kamen entweder gar nicht an oder nur sehr verspätet. Veganes Essen wird ihnen mit der Begründung verwehrt, dass es eine Mangelernährung sei. Die vegetarische Essensalternative im Knast beinhaltet Fisch. Immerhin haben es die Inhaftierten geschafft, sich dagegen zu wehren und zumindest den Fisch vom Speiseplan zu streichen. Die JVA Luckau-Duben verwehrt Ava, mit ihrer Verteidigung zu telefonieren. Auch dagegen geht ihre Anwältin nun juristisch vor. „Es ist skandalös“, erklärt der Bundesvorstand der Roten Hilfe, „dass der Kontakt zur Verteidigung eingeschränkt wird. Anrufe an Kontaktpersonen werden mit der Begründung verweigert, dass sie ja keine Namen haben, auf die man eine Telefonrechnung ausstellen könnte. Avas Anwältin muss deshalb für jedes Gespräch extra aus Chemnitz anreisen. Am Anfang waren Telefonate mit der Verteidigerin möglich, doch es hörten jedes Mal Justizangestellte mit – unüberwachte Telefonate, wie sie das Anwaltsgeheimnis vorsieht, wurden so verhindert. Hier fällt die Maske der Rechtsstaatlichkeit, das Recht auf ein faires Verfahren ist klar verletzt.“„Es schockiert uns, mit welch massiver Repression auf Leute reagiert wird, die sich für einen lebenswerten Planeten einsetzen. Diese Energie sollte lieber investiert werden, um die Ursachen des Protests zu beheben und die fortschreitende Klimakatastrophe aufzuhalten“, so Britta Rabe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie. (…) „Befeuert werden diese Hetzkampagnen auch durch Medien, die Aktivist*innen als „Extremisten“ bezeichnen. Die Klimakrise lässt sich nicht durch die Kriminalisierung von Protesten aufhalten, sie ist real. Sie fordert einen radikalen Wandel in vielen Lebensbereichen und sofortiges entschiedenes Handeln“, so Mike Dahlsen, ein Aktivist der „unfreiwilligen Feuerwehr“.“ Pressemitteilung vom 8.12.2022 beim Grundrechtekomitee , siehe:- „+++ Gefängnisbericht +++
19 Menschen Letzten Generation wurden am 26.11.2022 aus der JVA in München freigelassen. Bei 13 von ihnen wurde ein Unterbindungsgewahrsam von 30 Tagen angeordnet. Wie war es im Gefängnis und was muss jetzt passieren?…“ Thread von Letzte Generation vom 11.12.22 zum Video bei youtube
- „+++ Gefängnisbericht +++
- Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“? / Anmerkung zum „Rechtfertigenden Notstand“ nach § 34 StGB von Armin Kammrad / …
- Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“?
„… In München wurden am 3. November 2022 die an einem Protest Beteiligten, die sich auf der Fahrbahn festgeklebt hatten, festgenommen und wegen Nötigung und Verstößen gegen das Versammlungsgesetz angezeigt. Nachdem sie ihre Protestaktion wiederholten, wurden sie in Gewahrsam genommen. Vor dem Ermittlungsrichter gaben sie an, ihre Aktionen fortsetzen zu wollen. Mehrere Ermittlungsrichter bestätigten die gegen insgesamt ein Dutzend Protestierende angeordnete Gewahrsamsdauer von 30 Tagen. Auch wenn nicht alle Einzelheiten der Proteste und Ingewahrsamnahme bekannt sind und insofern bei der Bewertung des polizeilichen Vorgehens natürlich Zurückhaltung geboten ist, drängt sich hier aber auch die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen auf. (…) Ein längerfristiger präventiver Gewahrsam verstößt aber gegen das Grundrecht der Freiheit der Person i.V.m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (BVerfGE 109, 190/220). Denn für keines der Schutzgüter des Gewahrsams ist erforderlich, dass sich dieser über mehr als wenige Tage erstreckt. Weder für die Beseitigung einer hilflosen Lage noch für die Durchsetzung von Maßnahmen wie einer Identitätsfeststellung oder eines Platzverweises sind mehr als wenige Tage erforderlich. Dies gilt auch für den Sicherheitsgewahrsam zur Unterbindung befürchteter Straftaten. (…) Das Vorgehen gegen die Protestierenden aus München ruft aber selbst dann rechtliche Bedenken hervor, wenn man die Regelung für verfassungs- und konventionskonform hielte. (…) Die pauschale Ausschöpfung der Höchstgrenze des Gewahrsams im Fall des Vorgehens gegen Aktivistinnen der Münchener Klimaproteste ist von der – ohnehin rechtlich bedenklichen – Rechtsgrundlage im bayerischen Polizeigesetz nicht gedeckt.“ Beitrag von Ralf Poscher und Maja Werner vom 24. November 2022 im Verfassungsblog , siehe dazu: - Verfassungsrechtler und Richter hält Proteste der Bewegung „Letzte Generation“ für gerechtfertigt
„Viele, vor allem junge Menschen, sind wegen der Klimapolitik frustriert. Sie greifen zu immer radikaleren Protestmitteln auch in Rheinland-Pfalz. Ist das angemessen? (…) In Rheinland-Pfalz ist die Bewegung noch schwach. Aber auch hier werden die Proteste ausgeweitet, sagt Micha Frey aus Kusel, der schon länger dabei ist. Die Aktionen würden immer gewaltfrei bleiben, aber künftig könnten auch Flughäfen lahmgelegt werden. „Wir haben nur noch ganz wenige Jahre Zeit, um einen Klima-Kipppunkt zu verhindern. Und deshalb brauchen wir jetzt unignorierbaren Protest, der stört und die Gesellschaft aufrüttelt“, rechtfertigt er die Aktionen, die als Nötigung, Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch geahndet werden. Auch Micha Frey hat wegen seines Protests schon im Gefängnis gesessen. Doch nicht immer werden die Demonstranten und Demonstrantinnen verurteilt. Das Amtsgericht in Flensburg hat einen jungen Mann unter Berufung auf „gerechtfertigten Notstand“ §34 StGB freigesprochen. Aber genauso wie die Proteste selbst ist auch dieses Urteil umstritten. (…) Der rheinland-pfälzische Verfassungsrechtler und Richter am Verfassungsgerichtshof, Michael Hassemer, erkennt im Klimawandel durchaus eine Notstandssituation, die sich in absehbarer Zeit noch verschärfen werde. Die Proteste hält er für gerechtfertigt. „Die Konsequenzen, die der Menschheit durch das Unterlassen von Klimaschutzmaßnahmen entstehen, sind jedenfalls so gravierend, dass Rechtsbeeinträchtigungen durch Protest bis zu einem gewissen Maß durch Notstand gerechtfertigt und darum hinzunehmen sind.“ (…) Hassemer betont gleichzeitig, jeder Fall müsse einzeln betrachtet werden. „Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung wird jeweils darauf zu achten sein, wie schwer der jeweilige, durch den Protest verursachte Rechtsgutseingriff ausfällt“, erklärt er. „Wenn man sich auf der Straße festklebt, geht ja erst mal nichts kaputt, und wir leben in einem Land der Falschparker und Rettungsgassenverweigerer.“…“ Beitrag von Jeanette Schindler vom 24. November 2022 in SWR aktuell und dazu: - Ergänzende Anmerkung zum „Rechtfertigenden Notstand“ nach § 34 StGB vom 26 November 2022 von Armin Kammrad
„Bezüglich obiger Meldung, ist die ablehnende Haltung des CDU-Landtagsabgeordnete Helmut Martin zu Michael Hassemers Interpretation von § 34 StGB noch aufschlussreich: Martin unterstellt Hassemer nämlich nicht nur eine Anbiederung an die Grünen, sondern interpretiert den „Rechtfertigenden Notstand“ auch völlig falsch, wenn er glaubt: „So lange unsere Verfassungsorgane intakt und arbeitsfähig und Staat oder innere Ordnung nicht in Gefahr sind, liegt kein Notstand vor.“ Bloße Unzufriedenheit damit, wie Regierung und Parlament große Aufgaben lösten, rechtfertige noch keine Notstandslage.“
Dass mit der Unzufriedenheit ließe sich u.U. in der Tat noch so allgemein interpretieren. Allerdings nur, wenn § 34 StGB Satz 2 zutrifft, der darauf verweist, dass eine Berufung auf diesen Paragraphen nur möglich ist, „soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“. Der CDUler Martin nimmt hierzu jedoch gar nicht Stellung, sondern verweist auf den – seiner Meinung nach – intakten und arbeitsfähigen Staat und die Verfassungsorgane, was aber bei § 34 StGB gar nicht der entscheidende Punkt ist, lautet § 34 StGB Satz 1 doch: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.“ Zwar relativierte die bisherige Rechtsprechung jene Rechtsgüter, die eine notständische Verteidigung durch Berufung auf § 34 StGB rechtfertigen. „Eine Ausnahme gilt“, nach dem StGB-Kommentar von Thomas Fischer jedoch, „für das höchstwertige Rechtsgut des menschlichen Lebens; dieses ist ein saldierenden Abwägung nicht zugänglich…“ Und um etwas anders geht es den Protestierenden der Letzten Generation erklärtermaßen nicht, als den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, der nach GG Art 20a Ziel staatlichen Handelns sein müsste.
Martins Verweis auf die Intaktheit der „inneren Ordnung“ geht auch in sofern am Thema vorbei, und schließt bestenfalls Rechtfertigungen nach dem, besonders von rechts teilweise bemühten, Widerstandsrecht nach GG Art. 20 Abs 4 aus. Zu dessen Entstehung merkte Karl-Peter Sommermann einmal treffend an, dass sich aus der parlamentarischen Beratung zur Notstandsregelung zum 24. Juni 1968 entnehmen lässt, „dass ein wesentliches Motiv des verfassungsändernden Gesetzgebers war, dem der Notstandgesetzgebung gegenüber kritischen Teil der Bevölkerung zu signalisieren, dass es insgesamt um die Sicherung der freiheitlichen Ordnung und nicht um die Schaffung von unkontrollierter Macht gehe“ („Kommentar zum GG“, München 2005, Band 2, S.140). Bei Martins Verweis auf die intakte „innere Ordnung“ fehlt schlicht die Schutzverpflichtung „auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, also das Grundrecht von GG Art. 2 Abs. 2, was als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe bei der Pandemie ständig in den Mittelpunkt gerückt wurde – und was mit dem Zustand der „inneren Ordnung“ nur in sofern etwas zu tun hat, wie der Schutz des Lebens vorrangig sein soll. Allerdings auch bezüglich dem Klimakatastrophen, die in manchen Länder des Südens bereits katastrophale und tödliche Gegenwart sind.
Schließlich lässt sich der Rechtsprechung zu § 34 StGB auch entnehmen, dass alle anderen Rechtsgüter dem Lebensschutz nachgeordnet sind, so natürlich auch das ungehinderte Weiterkommen im Verkehr. Wer sich die Frage der oben zitierten Angemessenheit solcher Protestformen stellt, sollte auch Hassemers Hinweis auf die „Falschparker und Rettungsgassenverweigerer“ beachten. Die Gleichsetzung von Verkehrsbehinderungen mit den Protesten der Letzten Generation ist zwar naheliegend, aber rechtlich fraglich, weil hier der Lebensschutz als besonders Schutzgut fehlt. Anbetracht der aktuellen Klimaproblematik müsste § 34 StGB angemessen interpretiert (und u.U. auch ergänzt) werden. Betrifft der durch Klimakatastrophen verursachte Notstand nicht nur einen eingrenzbaren Personenkreis, sondern die Allgemeinheit im Land und außerhalb. Eine Ausdehnung von § 34 StGB auf das Völkerrecht erscheint deshalb naheliegend (wobei beim Klima allerdings noch andere strafrechtlich relevante Bereich betroffen sind). Beispielsweise stellt das Völkerstrafgesetzbuch mit § 7 Abs. 1 Pkt. 2 VStGB die Absicht unter Strafe, „eine Bevölkerung ganz oder teilweise zu zerstören, diese oder Teile hiervon unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“. Warum sollte dies nicht auch beim Kampf ums menschengemachte und menschengerechte Klima keine rechtliche Rolle spielen? Auf politisch verschuldete zerstörerische Lebensbedingungen durch fehlenden Klimaschutz bezogen, stellt sich so natürlich auch die Systemfrage: Ist es nicht die kapitalistische Art des Wirtschaftens, die auch bei der natürlichen Umwelt Leben zerstört? Zumindest liegt menschrechtlich betrachtet die Ausdehnung von Widerstand und Protest beim Klima näher als deren Eingrenzung.“ Anmerkung zum „Rechtfertigenden Notstand“ nach § 34 StGB von Armin Kammrad vom 26 November 2022 – wir danken! - Flughafen blockiert: Völlig überzogene Reaktionen
„Die Aufregung ist mal wieder groß. Am gestrigen Donnerstag blockierten Mitglieder der Letzten Generation vorübergehend den Berliner Flughafen, in dem einige sich – fernab rollender Flugzeuge – auf die Startbahnen setzten und andere darauf mit Fahrrädern herumfuhren. Nach eineinhalb Stunden war alles vorbei. Die Reaktionen darauf könnten aufgeregter kaum sein, und ein Vergleich mit dem Schweigen, das für gewöhnlich die meisten rechtsextremen Brandanschläge und Morde zum Beispiel im unmittelbar an den Flughafen angrenzenden Berliner Bezirk Neukölln begleitet, lässt in die Abgründe des deutschen Bürgertums blicken. Bei der CSU zum Beispiel überschlägt man sich fast: Der ehemalige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, der stets seine schützende Hand über den Diesel-Betrug der deutschen Automobilindustrie hielt, wie seine Vorgänger und Nachfolger die Bahn verkommen ließ, Autobahnen baute und dazu noch Hunderte Millionen Euro im Maut-Desaster versenkte, nennt auf Twitter die Aktivistinnen und Aktivisten „Klima-Kriminelle“ die „weggesperrt“ werden müssten. Vielleicht so, wie bei ihm zu Hause in Bayern. Dort sitzen derzeit 13 Personen nach Straßenblockaden in Polizeihaft, ohne dass sie einen fairen Prozess gehabt hätten. Sozusagen in Administrativhaft, wie sie Großbritannien früher in seinen Kolonien angewandt hat. Erst Anfang Dezember sollen sie entlassen werden. (…) Aber auch sozialdemokratische Politikerinnen und Politiker meinen, auf der Welle der populistischen Hetze gegen Klimaproteste mitschwimmen zu müssen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bezeichnete in einem Tweet die BER-Blockade als „erneute Eskalation“ und nennt die Klimaschützer „Straftäter“. Ihre Aktionen würden gesellschaftliche Akzeptanz für den „Kampf gegen den Klimawandel“ zerstören. (…) Und es fragt sich natürlich, welchen „Kampf gegen den Klimawandel“ die SPD-Ministerin meint. Etwa die Arbeitsverweigerung ihre liberalen Kabinettskollegen im Verkehrsministerium? Oder den Einsatz ihres Chefs für neue Erdgasförderung im Senegal? Oder das Engagement ihre grünen Kollegen im Wirtschaftsressort für Frackinggas aus den USA und den Abbau von Braunkohle im Rheinland? Oder soll vielleicht mit den martialischen Reden einfach nur die Räumung in Lützerath und die verschärfte Repression vorbereitet werden, mit der man der Klimabewegung begegnen will, wenn diese sich nicht endlich mit der Untätigkeit der Regierung abfindet?“ Kommentar von Wolfgang Pomrehn vom 25. November 2022 in Telepolis - Hausdurchsuchungen in Leipzig nach „Letzte Generation“-Aktion in Dresdner Gemäldegalerie
„Es sind die bundesweit ersten Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit Aktionen der „Letzten Generation“: Seit den frühen Morgenstunden durchsucht die sächsische Polizei die Wohnungen von Klimaaktivist/-innen in Leipzig. Die Maßnahme bezieht sich auf eine Aktion der „Letzten Generation“ am 23. August in der Gemäldegalerie „Alte Meister“ in Dresden. Damals hatten sich zwei Mitglieder der „Letzten Generation“ am goldenen Rahmen der Sixtinischen Madonna festgeklebt, ein drittes Mitglied hatte die Aktion gefilmt und ins Netz gestellt. (…) Dass im Laufe des Tages oder in naher Zukunft weitere Durchsuchungsmaßnahmen oder andere Maßnahmen im Rahmen der Ermittlungen folgen, deutete der LKA-Sprecher an. „Das muss ja auch noch nicht alles sein“, so lautet das Statement des LKA am Donnerstagmorgen gegenüber LZ. (…) Dass die Polizei aufgrund des Vorwurfs von Sachbeschädigung Hausdurchsuchungen durchführt, bezeichnet das LKA als angemessen. (…) Die „Letzte Generation“ nahm am Vormittag öffentlich Stellung zu der Razzia. Man werde sich nicht von Hausdurchsuchungen aufhalten lassen. „Die entscheidende Frage ist nicht, was diese drei Zuhause haben, sondern wie wir überleben jenseits der planetaren Grenzen.“ Der 29-jährige Beschuldigte sitze im Münchner Gefängnis, weil er nicht aufgehört habe, zu warnen. „Unsere Lebensgrundlage wird vernichtet und die Bundesregierung erlässt nicht mal die einfachsten Maßnahmen: Tempolimit, 9-Euro-Ticket. Wir werden nicht aufhören, die überlebenswichtigen Fragen zu stellen.“ (…) „Mit ihrer Aktion in der Dresdner Gemäldegalerie verdeutlichen die entschlossenen Bürger:innen, dass die weltweit voranschreitende Klimakatastrophe unignorierbar ist“, hieß es etwa von Seiten der „Letzten Generation“, nachdem sich die zwei Aktivist/-innen an Raffaels Sixtinischer Madonna in der Dresdner Gemäldegalerie festgeklebt hatten.“ Artikel von Luise Mosig vom 24. November 2022 in der LeipzigerZeitung online
- Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“?
- Kein Wetter für Klimaproteste? Ein paar Gedanken zur Transformation des Wetters zum politischen Faktor „Vorbeugende Aufstandsbekämpfung – auf diesen etwas in Vergessenheit geratenen Begriff brachten linke Zusammenhänge in den vergangenen Jahren all die Polizeigesetze, die derzeit gegen Klimaschützer Anwendung finden. 30 Tage Knast müssen 13 Aktivisten der „Letzten Generation“ im sogenannten Präventivgewahrsam erdulden, da laut richterlichem Beschluss Gefahr bestehe, dass sie sich erneut an Blockadeaktionen in München beteiligen könnten. (…) Eingebettet sind diese repressiven Vorstöße in eine rechte Medienkampagne, bei der Klimaaktivisten für Verkehrsunfälle in den Staus verantwortlich gemacht werden, bei den Blockadeaktionen entstehenden. Hinzu kommen offensiv in den Medien verbreitete Umfragen, laut denen ein Großteil der Bevölkerung die Protestformen der „Letzte Generation“ ablehnt. (…) Im letzten Sommer auf der Nordhalbkugel, als die Flüsse Europas trocken lagen, als die Feuer wüteten und als die Hitze immer mehr Todesopfer forderte, wäre ein solches Vorgehen gegen die Klimabewegung unmöglich gewesen. Die durch Hetzkampagnen generierten Mehrheiten, die sich nun hinter den Rufen nach härterem Strafen manifestieren, wären schlich nicht zustande gekommen, als die Bundesrepublik unter der inzwischen üblichen sommerlichen Hitzewelle und Feuersaison litt (Der einstmalige „Sommer“). Mit einer Repressionskampagne im November, also in der dunklen Jahreszeit, die früher „Herbst“ hieß, nachdem im Oktober angenehme, weit über den historischen Durchschnittswerten liegende Temperaturen herrschten, nutzt die Rechte schlicht ein Zeitfenster zur Schaffung neuer, autoritärer Fakten. Die Entdemokratisierung und das Einüben neuer Repressionsmethoden müssen etabliert werden, bevor das nächste Extremwetterereignis, die nächste Hitzewelle und Dürre die Menschen mit aller Macht daran erinnern, dass die Klimakatastrophe weiter munter voranschreitet. Das Wetter ist somit zu einem politischen Faktor geworden – es bringt schlicht Vorteile, die Witterung bei relevanten Themen zu berücksichtigen. Das liegt vor allem daran, dass die jahrzehntelange Argumentationskette, wonach Klima und Wetter zwei verschiedene Dinge seien, nicht mehr greifen kann. Zu deutlich manifestiert sich die Klimakrise in den konkreten Wetterphänomenen, als dass diese Halbwahrheit, die von Klimaleugnern gerne instrumentalisiert wurde, noch greifen könnte (Kein einziges extremes Wetterereignis weist sich ja selbst als Folge der Klimakrise aus). Die Repression der Klimabewegung muss zu einer Jahreszeit erfolgen, wenn die Bevölkerung sich Sorgen darum macht, wie die Wohnung zu heizen ist, ohne in Privatinsolvenz zu geraten. (…) Das Festkleben auf den Straßen, das die „Letzte Generation“ praktiziert, ist eine aus dem Mut der Verzweiflung geborene Protestform, und sie kontrastiert mit der geradezu entwaffnenden politischen Naivität der Gruppe, die schlichte Appelle an die politischen Funktionsträger richtet, die Klimakrise doch zu lösen. Selbst der Verfassungsschutz musste trotz der aktuellen rechten Kampagne schlicht feststellen, dass diese Gruppe nicht „extremistisch“ ist, da sie schlicht „Funktionsträger zum Handeln auffordert“. Das Problem bei dieser Herangehensweise besteht aber darin, dass die politischen Funktionsträger aufgrund der obig genannten kapitalistischen Systemwidersprüche nicht in der Lage sind, der Klimakrise sinnvoll zu begegnen. Ohne Systemtransformation, ohne Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs ist eine Bekämpfung der Klimakrise unmöglich. Der Kapitalismus ist außerstande, effektive Klimapolitik zu betreiben. (…) Der Kampf um die Aufrechterhaltung der krisenbedingt schrumpfenden demokratischen Manövrierräume ist allein schon deswegen notwendig, damit nicht irgendwann die Suche nach Systemalternativen zur kapitalistischen Dauerkrise als „extremistisch“ eingestuft und mit „Präventivhaft“ bedacht wird. zumindest das Wetter dürfte bei diesem Unterfangen auch künftig leider mitspielen.“ Beitrag von Tomasz Konicz vom 18. November 2022 bei konicz.info
- „Das wird hier unfassbare Schmerzen auslösen“: Wann darf die Polizei gegen Klimaktivisten Gewalt anwenden?
„… „Die letzte Generation“ klebt sich aus Protest gegen zaghafte Klimaschutzpolitik auf Deutschlands Straßen fest. Ob darin eine strafbare Nötigung liegen kann, inwieweit Aktivisten gar wegen Totschlags oder fahrlässiger Tötung verantwortlich sind, wenn infolge ihres Protests Rettungsfahrzeuge steckenbleiben, das alles wird aktuell heiß diskutiert. In den juristischen Fokus der Öffentlichkeit rücken jetzt aber auch die Polizeieinsätze, bei denen Demonstranten von der Straße losgelöst und weggetragen werden. Anlass bietet ein Video, das kürzlich bei Twitter veröffentlicht wurde. Zu hören ist das Gespräch eines Berliner Polizisten mit einer Anhängerin der „letzten Generation“, die sich am 9. November auf der Danziger Straße in Prenzlauer Berg festgeklebt hatte. Der Beamte kündigt in dem Video an, er werde jetzt unmittelbaren Zwang anwenden, wenn sie nicht freiwillig aufstehe und mit ihm mitgehe, das werde „wehtun“. Die Demonstrantin entgegnet, sie würde sich „wegtragen lassen“. Der Polizist erwidert, das werde nicht funktionieren, er werde stattdessen einen „Handbeugehebel“ ansetzen, das werde am Handgelenk „unfassbare Schmerzen auslösen“ und „sehr wehtun“, ob sie nicht freiwillig mitkommen wolle. Ein auf dem Video nicht erkennbarer Dritter erklärt, „das mildeste Mittel wär wegzutragen“, was der Beamte mit Berliner Charme quittiert: „Sie erklären mir nicht meinen Job!“ (…) Nicht nur bei der Entscheidung, ob ein Platzverweis ausgesprochen wird, oder aber bei der Auswahl des Zwangsmittels, sondern gerade auch bei der Anwendung von Zwangsmitteln sind Behörden an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. Dieses rechtstaatliche Prinzip hat mindestens genauso freiheitssichernde Bedeutung wie die Grundrechte. Es ist auch sehr viel älter und vor allem vom Preußischen Oberverwaltungsgericht als Schranke polizeilicher Befugnisse entwickelt worden. Gerade in Berlin sollten Polizeibeamte sich damit also eigentlich auskennen. Wegen der Grundrechtsintensität des unmittelbaren Zwangs ist die Art und Weise seiner Anwendung gesetzlich gesondert geregelt. Ausdrücklich heißt es in § 4 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin (UZwG Bln), dass dabei von den möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenigen zu treffen sind, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigen. Eine Maßnahme des unmittelbaren Zwanges darf nicht durchgeführt werden, wenn der durch sie zu erwartende Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht (§ 4 Abs. 2 UZwG Bln). Die hierzu erlassenen Ausführungsvorschriften betonen deshalb noch einmal ausdrücklich: „Durch unmittelbaren Zwang kann die betroffene Person insbesondere in ihren Rechtsgütern wie Leib, Leben, Freiheit und Eigentum sowie ihren sonstigen Rechten schwerwiegend beeinträchtigt werden. Auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist deshalb vor und bei Anwendung unmittelbaren Zwanges besonders sorgfältig zu achten.“ (Nr. 15 AV Pol UZwG Bln) (…) Beamte, die die gesetzlichen Grenzen des unmittelbaren Zwangs missachten, können sich wegen Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 Satz 1 StGB) strafbar machen. Bleibt es bei einer Drohung mit „unfassbaren Schmerzen“, wäre zumindest an eine (versuchte) Nötigung im Amt zu denken (§ 240 Abs. 1 und 4 Nr. 2 StGB). Polizisten, die gerne unnötige Schmerzen androhen, begehen zudem ein Dienstvergehen von erheblicher Schwere. Sie stellen ihre charakterliche Eignung dergestalt in Frage, dass eine disziplinare Ahndung in Betracht kommt (§§ 5 Abs. 1, 13 Abs. 1 DiszG Bln)…“ Beitrag von Patrick Heinemann vom 14. November 2022 bei Legal Tribune Online - Richterlicher Widerstand: Ein Amtsrichter verweigert einen Strafbefehl gegen eine Aktivistin der Letzten Generation – die Klimakrise rechtfertige Protest
„Von überall schallen derzeit Rufe, härter gegen die Letzte Generation vorzugehen. Dabei sind in den Berliner Gerichten bereits 174 Verfahren anhängig, in denen den Aktivist:innen der Gruppe meist Nötigung und häufig auch Widerstand vorgeworfen wird. Doch vereinzelt regt sich offenbar auch unter den Richter:innen Widerstand dagegen, Klimaaktivismus mit Strafen zu begegnen. So hat ein Richter des Amtsgerichts Tiergarten einen Antrag der Staatsanwaltschaft für einen Strafbefehl abgeschmettert und sich dabei ausdrücklich auf die Klimakrise bezogen. In der Begründung des Beschlusses von Anfang Oktober, der der taz vorliegt, heißt es, die Klimakrise sei eine „objektiv dringliche Lage“ und „wissenschaftlich nicht zu bestreiten“. Bei einer Bewertung des Protestes sei das nur „mäßige politische Fortschreiten“ der Klimamaßnahmen zu berücksichtigen. Die Handlungen der Beschuldigten, die für dreieinhalb Stunden die Kreuzung am Frankfurter Tor blockiert haben soll, seien „nicht verwerflich“. Den Vorwurf des Widerstands verwarf er, weil sich an den Asphalt zu kleben keine Gewalt darstelle. Auch sei Polizist:innen das Bepinseln einer Hand zuzumuten. Auch den Vorwurf der Nötigung verwarf er. Demonstrationen seien „lästig, aber für den demokratischen Rechtsstaat unerlässlich“. Unter anderem bewertet der Richter die Blockade als „nicht verwerflich“, da keine Rettungswege blockiert wurden und an der Kreuzung regelmäßig mit Staus zu rechnen sei. Auch betreffe das Anliegen der Aktivistin „alle Menschen, also auch die durch die Blockade betroffenen Fahrzeugführer“. (…) Der Beschluss, über den zuerst die Süddeutsche Zeitung berichtete, ist ein Novum. Gewöhnlich beantragt die Staatsanwaltschaft ein schriftliches Urteil in Form eines Strafbefehls, dem die Richter:innen stattgeben. Erst nach Einspruch der Aktivist:innen kommt es überhaupt zu einer Verhandlung. In diesem Fall verwarf der Richter den Strafbefehl völlig. Da die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt hat, wird der Fall nun vor dem Landgericht verhandelt. (…) Am Mittwochmorgen kletterten Aktivist:innen auf das Brandenburger Tor und rollten ein Banner aus; auch die Straßenblockaden gingen weiter.“ Artikel von Timm Kühn vom 10. November 2022 in der taz online - Klimaproteste: Im Fadenkreuz der Verdrängungsgesellschaft
„Die Verdrängungsgesellschaft fühlt sich gestört von Menschen, die unnachgiebig und mit Mitteln des zivilen Ungehorsams auf die drohende Klima-Katastrophe hinweisen. Sie baut bis in höchste Regierungskreise ein neues Feindbild auf – und attackiert Versammlungsfreiheit und Demokratie. Das ist gefährlich. (…) Man sollte über die Art und Weise und die Adressat:innen des Protestes der Letzten Generation diskutieren, man muss diese Gruppe und ihren verbissen-humorfreien Habitus nicht gut finden, man kann ihre Strategie für grundfalsch halten. Man kann aber auch einfach nüchtern und anerkennend feststellen: Die Klimakrise ist das drängendste Problem der Menschheit, die Ampel-Regierung verfehlt die Klimaziele krachend – und die Letzte Generation macht darauf unübersehbar gewaltfrei aufmerksam. Es sind Proteste, die man nicht einfach umarmen oder ignorieren kann, so wie das mit den bunten, netten Großdemos von Fridays for Future leider zu oft passiert ist. Es sind Proteste, die stören und verstören, die nerven und irgendwie nicht aufhören wollen. Doch die Protestform des zivilen Ungehorsams ist der Dramatik der Situation angemessen. Man wundert sich doch fast, dass angesichts des apokalyptischen Szenarios, auf das die Menschheit mit Scheuklappen zusteuert, nicht schon ganz andere Aktionen auf der Tagesordnung stehen. (…) Die Methode des Zivilen Ungehorsams ist klar und unmissverständlich. Wer sich über die Störungen echauffiert, will entweder über die eigene Unfähigkeit zur Lösung der Klimakrise hinwegtäuschen, hat ein Problem mit demokratischem Protest generell – oder Klimaprotest im Besonderen. Um das zu kaschieren, reden Anhänger:innen der Verdrängunsgesellschaft von einem blockierten Rettungswagen. Und reiben sich dabei erfreut die Hände, dass sie endlich draufhauen können. Endlich hat man einen Sündenbock, auf den man einprügeln kann, weil er die ignorante Routine stört. (…) All jenen, die Zeter und Mordio gegen demokratische Proteste schreien, sollten wir den Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes entgegenhalten, diesen Richterspruch, der die Versammlungsfreiheit und damit die Demokratie in Deutschland als Ganzes stärkte. Dort heißt es, Versammlungen seien „ein Stück ursprünglich–ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“. Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts wirke dem Bewusstsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegen. Und nein, es geht im Brokdorf-Urteil nicht nur um angemeldete Demonstrationen…“ Kommentar von Markus Reuter vom 11. November 2022 bei Netzpolitik.org - Auf Hetze folgt Härte. Klimaschützer der »Letzten Generation« in sogenannter Präventivhaft. CSU und andere fordern »deutlich härtere Strafen«
„Es scheint, als hätten bürgerliche Journalisten und Politiker ihr Lieblingsthema in diesem Herbst gefunden: die Proteste der Klimaschutzgruppe »Letzte Generation«. Auch am Wochenende ging die Debatte um deren Aktionen weiter. Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Abgeordneten im Bundestag, forderte in Bild am Sonntag härtere Strafen für die Aktivisten, die sich immer wieder mit den Händen auf Straßen festkleben, um den Autoverkehr zu blockieren. »Klimaprotest darf kein Freibrief für Straftaten sein«, polterte Dobrindt auf Nachfrage des Boulevardblatts. Es brauche »deutlich härtere Strafen für Klimachaoten, um einer weiteren Radikalisierung in Teilen dieser Klimabewegung entgegenzuwirken und Nachahmer abzuschrecken«. Die Entstehung einer »Klima-RAF« müsse verhindert werden. Im von der CSU regierten Bayern sitzen unterdessen Mitglieder der »Letzten Generation« in sogenannter Präventivhaft. Sie wurden nach Klebeaktionen auf dem Stachus genannten Karlsplatz in München, einem wichtigen Knotenpunkt der Landeshauptstadt, festgenommen. Nach Angaben der Gruppe vom Sonnabend wurden 13 Aktivisten von der Polizei in Gewahrsam genommen. Neun von ihnen säßen seit Freitag abend in der Justizvollzugsanstalt (JV) Stadelheim, bei acht solle der Gewahrsam bis 2. Dezember andauern. Zwei Aktivisten seien entlassen worden, bei vier weiteren sei der Verbleib unklar, heißt es in der Mitteilung. (…) Dass ein Polizeigewahrsam von bis zu zwei Monaten verhängt werden kann, wurde durch die viel kritisierten Verschärfungen des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes möglich. Es ermächtigt die Polizei, Personen in Gewahrsam zu nehmen, um die »unmittelbar bevorstehende Begehung« einer Straftat zu verhindern. Der Publizist Kerem Schamberger aus München, der sich am Kampf gegen die Gesetzesänderungen beteiligt hatte, kritisierte das Vorgehen der bayerischen Beamten am Sonntag im Gespräch mit jW. Es sei bezeichnend, dass es erneut Bayern sei, das »mit voller Härte gegen die Aktivisten vorgeht«…“ Artikel von Kristian Stemmler in der jungen Welt vom 7.11.2022 , siehe dazu:- „‼Jakob Beyer und 5 andere Menschen werden nach richterlicher Entscheidung ins Gefängnis verbracht werden und bis 02.12. eingesperrt bleiben. Urteile zu 8 weiteren Menschen stehen noch aus. Sie hatten in #München für ein Tempolimit und bezahlbare Bahntickets protestiert.“ Tweet von Letzte Generation vom 4.11.22
- Klima schützen ist kein Verbrechen – Solidarität mit der Letzten Generation
„Jedes Jahr sterben tausende Menschen durch Fahrzeuge auf deutschen Straßen, jeder einzelne Tod ein Schicksalsschlag. Am 31. Oktober gab es einen weiteren dieser furchtbaren Unfälle: Eine 44-jährige Radfahrerin wurde von einem Betonmischer überfahren. Wir trauern um diesen Menschen. Den Angehörigen und Freund*innen gilt unser Mitgefühl. Springerpresse und GdP, AfD und selbst die Innenministerin instrumentalisieren jetzt diesen schrecklichen Unfall, um die Aktionen der Letzten Generation, um Klimaaktivismus im allgemeinen zu diskreditieren und kriminalisieren. Die Tatsache, dass sich die vor Ort behandelnde Notärztin auch ohne eine Verspätung des Spezialfahrzeugs gegen dessen Einsatz entschieden hätte, fand dabei keinerlei Eingang in die öffentliche Diskussion, obwohl der Berliner Senat darüber bereits am Tag nach dem Unfall informiert war. Die Delegitimierung von zivilem Ungehorsam geht einher mit einem brutalen Shitstorm inklusive Morddrohungen gegen Klimaaktivist*innen…“ Solidaritätserklärung zum Mitzeichnen - Präventivhaft gegen Klimaaktivisten? Das ist rechtswidrig
„In München sitzen zehn Demonstranten seit Tagen ein. Ihr Vergehen? Sie haben den Verkehr für 90 Minuten behindert. Wie ein Passus, einst ersonnen im Kampf gegen islamistische Terroristen, nun Anwendung findet für friedliche Demonstranten…“ Kommentar von Ronen Steinke vom 6. November 2022 in der Süddeutschen Zeitung online (ab da leider im Abo) - Siehe zum Hintergrund unser Dossier: Erneut verschärft: Polizeiaufgabengesetz Bayern
- „Hört auf, Notfälle zu instrumentalisieren – Debatte um „Letzte Generation“ und Klimastreiks werde missbraucht „Telepolis dokumentiert: „Ihr wollt ja nur weiter meckern“, schreibt ein Rettungssanitäter in Berlin. Debatte um „Letzte Generation“ und Klimastreiks werde missbraucht. Zahlreiche Beispiele aus Arbeitsalltag.
Nach wie vor wird in Medien und Politik kontrovers über die Blockade der Berliner Stadtautobahn berichtet, in deren Folge offenbar ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr zu spät zu einem Unfallort gekommen ist. Im Zuge dieser Diskussion hat sich nun auf dem Kurznachrichtendienst Twitter ein Rettungssanitäter zu Wort gemeldet. Seine Kommentare erscheinen, wieder dort üblich, anonym, also unter Pseudonym. Telepolis hat das Account daher begutachtet und kommt zu dem Schluss, dass die Informationen authentisch sind. Der Tweet wurde zudem von zahlreichen anderen Medien zitiert. Die Tweets wurden redigiert, akzentuierende Großschreibungen gefettet. (…) Tagtäglich stecken wir Rettungskräfte im Stau fest. Jeden einzelnen verdammten Einsatz!!! Die Gründe sind mit weitem Abstand folgende: Falschparker:innen. Zweite-Reihe-Parker:innen. Baustellen. Fehlende Rettungsgassen. Generell viel zu viele Autos auf viel zu wenig Platz. Wenn jetzt hier auf einmal die ganzen Menschenfreunde herkommen und sich berufen fühlen, etwas zum Schutz der Patient:innen zu tun: … dann klärt die Leute über die korrekte Rettungsgasse auf … ahndet endlich Falschparken … fahrt nicht allein mit einem Auto in die Stadt. Hier die Schuld bei den Klima-Aktivist:innen zu suchen, ist respektlos dem Unfallopfer gegenüber, heuchlerisch, verlogen und hetzerisch. Und auch die Berliner Feuerwehr, die sich jetzt ganz empört hinstellt, könnte da selbstkritisch rangehen…“ Beitrag der Redaktion Telepolis vom 04. November 2022 - Warum „Klimachaoten“ das Bundesverdienstkreuz bekommen sollten: Ohne zivilen Ungehorsam kein historischer Fortschritt
„Die „Letzte Generation“ hat neue Straßenblockaden angekündigt. Teile der Medien diffamieren die Bewegung als „extremistisch“, RAF-affin und anti-demokratisch. Warum das geschichtsvergessen und falsch ist. Ein Kommentar.
Die Aktivist:innen der Klimagruppe „Letzte Generation“ haben für diese Woche neue Blockaden auf Berliner Zu- und Ausfahrten von Autobahnen angekündigt. Sie fordern u.a. ein Tempolimit und bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr. In der Berliner Tageszeitung B.Z. heißt es: „Die Klima-Chaoten sind zurück!“. Von Anbeginn an lösten die Gruppe der „Letzten Generation“ und ihre Aktionen zum Teil heftige Kritik aus. Die Protestbewegung ist aus dem Hungerstreik der „Letzten Generation“ vor der Bundestagswahl 2021 hervorgegangen. (…) Der Journalist Hajo Schumacher verglich den Hungerstreik mit RAF-Terror und Geiselnahmen in den 1970er Jahren und forderte, dem Protestcamp in der Nähe des Kanzleramts jegliche Öffentlichkeit zu verweigern, indem man ihm „die Internetzelle direkt übern den Zelten abdrehen“ solle. Seitdem gilt die Klimagruppe „Letzte Generation“ in Teilen der Medien als extrem, abgehoben, irrational und demokratiefeindlich. Vor allem, seit ab 2022 die Aktivist:innen begannen, sich auf Zufahrten zu Autobahnen erst in Berlin, dann in ganz Deutschland zu kleben. Der Co-Vorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen Omid Nouripour nannte Blockaden wie die von den Aktivist:innen ausgesprochenen Ultimaten als nicht vereinbar mit Demokratie. Die Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sprach sich für eine strafrechtliche Verfolgung aus, was die Berliner Staatsanwaltschaft ablehnte. (…) Die Deutsche Polizeigewerkschaft stellte in einer Pressemitteilung Ende Februar 2022 fest, dass es sich um „staatsfeindliches Handeln“ halte und daher der Verfassungsschutz auf die Aktivist:innen angesetzt werden sollte. Immer wieder werden in den Medien seitdem Extremismusforscher zitiert und interviewt, die der Klimabewegung „Züge einer Sekte“ mit ihrem „absoluten Wahrheitsanspruch“ attestieren. Sie sehen „Parallelen zwischen der Entstehungsgeschichte der Terrororganisation RAF und der Radikalisierung einiger Klimaaktivisten“. (…) Vielmehr werden bei der „Letzten Generation“ doppelte Standards anlegt, während der Ernst der Lage de facto nicht zur Kenntnis genommen wird und ein magischer Glaube an eine Kursänderung der Regierungen im politischen Normalbetrieb, also mit Umweltlobbyismus und ein paar Demonstrationen wie bisher, vorherrscht. Vor allem sollte man sich fragen, ob diejenigen, die Blockaden und zivile Ungehorsamsaktionen nicht nur in Deutschland, sondern seit Jahrzehnten weltweit für Klimaschutz ergreifen, legitime Gründe haben und ernsthafte Ziele verfolgen. In einer neuen Studie für die Zeitschrift Nature rufen sogar Klimawissenschaftler:innen zu mehr zivilem Ungehorsam auf , um deutlich zu machen, wie tief wir „in der Scheiße“ stecken…“ Kommentar von David Goeßmann vom 10. Oktober 2022 in Telepolis - Verzicht: Wer, worauf, wofür?
„Weniger Konsum für Umwelt, Klima und mehr „Zeitwohlstand“ kann eine gute Sache sein – für Einkommensgruppen, die dafür Spielraum haben. Was aber aktuell gefordert wird, ist Frieren für geopolitische Machtspiele. Bei Amazon gibt es fast alles: Sogar T-Shirts mit dem Aufdruck „Stressed, depressed, but well dressed“ können bei dem Online-Versandhandelsgiganten bestellt werden. Für ein Augenzwinkern ist sich der Kapitalismus nicht zu schade, wenn er schon so offensichtlich seine Glücksversprechen nicht einlösen kann. So lässt sich auch den Desillusionierten noch etwas verkaufen. „Gestresst, depressiv, aber gut angezogen“ sind einige westliche Menschen, die trotz ihrer psychischen Probleme noch „funktionieren“ und ihren Job behalten. Sie outen sich nur nicht alle, wenn sie ihn behalten wollen. (…) Vielleicht werden solche T-Shirts auch eher in Schule, Uni oder Psychiatrie getragen – oder von Berufstätigen in der knapp bemessenen Freizeit. Kostenpunkt: 19,95 Euro. Wer sich die Misere auch selbst nicht eingestehen will, kann stattdessen High-Tech-Spielzeug, Seidenkrawatten oder Nagellack in allen Regenbogenfarben bestellen, solange das Geld reicht, um sich für den Stress und die verkaufte Lebenszeit zu belohnen – im ungünstigsten Fall als Ersatzbefriedigung für nicht gepflegte Sozialkontakte und vergeblich erträumte Beziehungen. Das kann funktionieren, solange die Energiepreise nicht so hoch sind, dass das Gehalt restlos für die reinen Lebenshaltungskosten draufgeht. So wurde jedenfalls bisher ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung in reichen Industrieländern bei der Stange gehalten. Viele machte und macht das nicht glücklich – und die Ersatzbefriedigung beruht auf knallharter Ausbeutung von Mensch und Natur, vor allem im Globalen Süden. So gesehen ist Konsumkritik berechtigt, wenn sie nicht zu undifferenziert daherkommt – und bei allem Elend in anderen Teilen der Welt noch zwischen deutscher High Society, deutscher Mittelschicht und deutschen „Working Poor“ unterscheidet. (…) Daran krankte auch der Vorschlag des „wirtschaftswissenschaftlichen Dissidenten“ Niko Paech, sowohl die Industrieproduktion als auch die übliche Wochenarbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich zu halbieren, um das Klima zu schützen. (…) Mit einem Professorengehalt oder vergleichbarem Einkommen macht das Sinn. (…) Wer sich aber schon jetzt trotz Vollzeitarbeit am Ende des Monats fad und ungesund ernähren muss, weil die Miete für das kleinste Kabuff den größten Teil seines Einkommens frisst, wäre sehr bald obdachlos, wenn die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich halbiert würde. Der neue Zeitwohlstand könnte den Verlust der Wohnung nicht aufwiegen. (…) Professor Paech unterschätzt aber die Macht- und Eigentumsfrage. Er sieht das Problem nicht im Kapitalismus, sondern ausschließlich im Wachstumswahn, der auch im Realsozialismus nicht hinterfragt worden sei. (…) Nicht wegen der Klimakrise, sondern wegen geopolitischer Machtspiele von vorgestern wird neuerdings in Deutschland Verzicht gepredigt, wie es sich wählbare Parteien zuvor sehr lange nicht getraut hätten. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) stimmte schon im Juni auf „Jahre der Knappheit“ ein, die nicht ihn selbst treffen dürfte. (…) Dabei geht es nicht um die Zukunft der Welt und auch nicht wirklich um die Zukunft der Ukraine, sondern eher um die Ukraine als heroische, leidensfähige Stellvertreterin des Westens und der Nato im Kräftemessen mit Russland. (…) Aber wie soll das Klima davon spürbar profitieren, wenn ausgerechnet die Rüstungsindustrie volle Auftragsbücher hat und russisches Gas erst mal nur durch andere fossile Energieträger ersetzt wird? Verzicht auf überflüssigen Konsum wäre jedenfalls besser vermittelbar, wenn es dafür durch andere Faktoren mehr Lebensqualität gäbe – etwa durch mehr freie Zeit und weniger Zukunftsängste. (…) Selbst in den USA sorgt es für Kopfschütteln, dass in Deutschland die Bereitschaft, zu frieren, verlangt wird, während es immer noch kein Tempolimit gibt. Ein gesundes Verständnis von Lebensqualität ist das nicht.“ Beitrag von Claudia Wangerin vom 16. September 2022 bei Telepolis - Organisierung auf Augenhöhe. Proteste allein führen nicht aus der Krise
„… Die Menschen, die am meisten unter der Energiekrise leiden, sind die, die auch am meisten unter den Folgen der Klimakatastrophe zu leiden haben. (…) Solange die deutsche Klimabewegung es nicht schafft, genau diese marginalisierten Menschen zu erreichen, ist es keine Klimagerechtigkeitsbewegung. Solange die deutsche Klimabewegung es nicht schafft, für Klimareparationen für Länder des Globalen Südens einzustehen, haben wir keine Klimagerechtigkeitsbewegung. Diesen Herbst kann sich entscheiden, ob wir als Linke es nicht nur schaffen, über unsere Kernthemen hinaus geschlossen zu kämpfen, sondern auch, wie wir mit den Menschen umgehen, für die diese Krise den finanziellen Ruin bedeutet und eben nicht nur eine ökonomische Anstrengung. Ob wir es schaffen, nicht nur Parolen zu rufen, sondern auch materielle Entlastung zu organisieren. Ob wir es schaffen, in ihre Räume zu gehen, mit Menschen zu sprechen, die nicht unsere Sprache sprechen, uns mit unseren Nachbar*innen, der Frau an der Supermarktkasse, dem Postboten und der Reinigungskraft zusammenzuschließen. Denn ihnen müssen wir die Lüge vom »Wohlstand« im Kapitalismus nicht erklären – mit ihnen müssen wir uns auf Augenhöhe organisieren.“ Artikel von Lakshmi Thevasagayam vom 15.09.2022 im ND online - Der notwendige Bruch. Die Klimabewegung braucht antikapitalistische Leitplanken für ihre kommenden Aktionen „Die Klimabewegung sollte keine Angst vor dem Vorwurf des Radikalismus haben. Angesichts der zivilisationsbedrohenden Dimensionen der Klimakrise ist es eine Frage des blanken kollektiven Überlebenswillens, dieses monströse Problem zu lösen. Es liegt auf der Hand, dass der globale Kapitalismus in seinem uferlosen Wachstumszwang außerstande ist, den Ressourcenverbrauch und die Emissionen zu senken. Empirisch ist dies längst belegt, da im 21. Jahrhundert die globalen Emissionen von CO2 nur um den Preis von Weltwirtschaftskrisen kurzfristig abgesenkt werden konnten, um infolge anschließender Konjunkturmaßnahmen umso rascher wieder anzusteigen. Die gesamte Welt wird zum bloßen Brennstoff dieses irrationalen Verwertungskreislaufs gemacht. Mehr noch: Da Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, lassen Produktivitätssteigerungen den Ressourcenhunger der kapitalistischen Profitmaschine ansteigen, da der Wert der einzelnen Ware sinkt und mehr Waren produziert werden müssen, um den Verwertungskreislauf erfolgreich abzuschließen (hieraus resultiert die Tendenz, dass viele Produkte so produziert werden, dass sie schneller kaputt gehen). Die Klimakrise ist eine kapitalistische Klimakrise. Ohne Überwindung des Kapitals besteht keine Hoffnung auf ein Abwenden der drohenden Klimakatastrophe. Radikal sein bedeutet zuallererst zu sagen, was Sache ist. Der Kampf gegen die kapitalistische Klimakrise muss angesichts der rasch ablaufenden Zeit mit offenem Visier geführt werden. Es gilt, den Menschen offen zu sagen, dass nachhaltiger Klimaschutz, also die Linderung der Klimakrise nur bei Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs möglich ist. Der Klimakampf muss somit als ein Transformationskampf in eine postkapitalistische Gesellschaft geführt werden. Die Überwindung des amoklaufenden Verwertungszwangs des Kapitals ist das absolute Minimum. (…)
Die so abstrakt scheinende Vision einer klimafreundlichen und ressourcenschonenden postkapitalistischen Gesellschaft ergibt sich aus den konkreten Notwendigkeiten des Klimaschutzes. Die Forderungen einer antikapitalistischen Klimapolitik dürfen sich nicht um die irrationale Zwangslogik des erodierenden und maroden Spätkapitalismus scheren, sie müssen sich an den objektiven, wissenschaftlichen Notwendigkeiten des Klimaschutzes orientieren, wie auch an technologischen Möglichkeiten der Gesellschaft. Die Produktivkräfte, die der Kapitalismus hervorbrachte, würden hierbei die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen.
Konkret heißt das, auch den gegenwärtigen Ängsten der Lohnabhängigen zu begegnen: Dem Totschlagargument des Arbeitsplatzerhalts in fossilen Industrien müsste beispielsweise damit begegnet werden, dass die Reproduktion von Menschen nicht mehr an die Reproduktion von Kapital in ihren Arbeitsplätzen gekoppelt sein darf. Denn die stellt die Lohnabhängigen im Spätkapitalismus vor die tragische Wahl, zwischen dem sozialen Überleben und dem drohenden Klimakollaps wählen zu müssen. Ähnliches gilt für die Mahnungen zur Finanzierbarkeit von Klimaschutzmaßnahmen, denen mit der Zuspitzung und Ausdehnung der Sozialisierungs- und Enteignungsdebatte zu begegnen wäre. (…) Die Krise als Maxime emanzipatorischer Praxis zu begreifen, bedeutet also, sich zu fragen, in welcher Form die spätkapitalistische Gesellschaft in den zwangsläufigen Transformationsprozess eintreten wird. Soll es eine autoritäre, rassistische, polizeistaatlich verwaltete Oligarchie mit absurden sozialen Abgründen sein, in der die fossile Industrie sich ihre Parteien kauft, oder ein eher egalitäres, bürgerlich-demokratisches Gemeinwesen, in dem auch weiterhin Spielräume für radikale Kritik und Praxis gegeben sind? Eine progressive Bewegung, getragen von der Einsicht in die Notwendigkeit der Systemtransformation, würde somit um die Herstellung von Bedingungen kämpfen, die diese Transformationsdynamik in eine emanzipatorische Richtung lenken könnten. Die Maxime einer solchen Postpolitik bestünde einerseits in dem Bemühen, den Zivilisationsprozess aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, und andererseits im Kampf um eine Überwindung der destruktiven kapitalistischen Eigendynamik…“ Artikel von Tomasz Konicz am 12. August 2022 im ak online - Nicht mehr nur besetzen: Mit Ende Gelände hat sich eine der größeren Klimaprotestgruppen entschlossen, fossile Infrastruktur zu zerstören
„… „Wir haben diesmal beschlossen, gemeinsam weiterzugehen und fossile Infrastruktur außer Betrieb zu nehmen“, sagt Sina Reisch, Sprecherin von Ende Gelände vor Ort. „Und das auch länger, als wir da sind.“ Früher hat die Bewegung zwar den Betrieb zum Beispiel von Tagebauen auch schon zeitweise pausieren lassen. Die Aktivist:innen hinterließen damals aber alles so, wie sie es vorgefunden hatten. Nach der Aktion liefen die Kohleförderbänder einfach wieder an. Lange Jahre schloss der sogenannte Aktionskonsens, also die selbst festgelegten Protestregeln von Ende Gelände, auch Gewalt gegenüber Gegenständen aus, genauso wie die gegenüber Menschen. Letzteres ist heute noch der Fall. Sachbeschädigung wird von der Bewegung heute nicht mehr abgelehnt. Außerdem hat sich der Fokus von der Kohle auf Erdgas verschoben, seit es ein Kohleausstiegsgesetz gibt. (…) Auch bei Fridays for Future wird immer wieder diskutiert, ob das Protestformat der Massendemo nicht gegen ein radikaleres eingetauscht werden müsse – vor allem, wenn die Massen ausbleiben. Während einzelne Ortsgruppen wie in Frankfurt am Main auch schon Blockaden organisiert haben, sieht die Tendenz auf Bundesebene eher anders aus. Für den 23. September hat Fridays for Future den nächsten globalen Streik angekündigt – also die üblichen Demos in verschiedenen Großstädten auf der Welt…“ Artikel von Michael Trammer, Michael Schlegel und Susanne Schwarz vom 13.8.2022 in der taz online („Klimabewegung Ende Gelände: Sommer, Sonne, Sachbeschädigung“), siehe auch:- Klimabewegung: Aktiv an Orten, wo es dem Kapital wehtut
„Im Hamburger Klimacamp werden die richtigen Fragen gestellt. Es wird aber auch deutlich, wie schwer es ist, beim Großteil der Bevölkerung Gehör zu finden (…) Um Ausbeutung und Unterdrückung zu bekämpfen, muss man sich nur vergegenwärtigen, dass Millionen Menschen in Deutschland unter Energiearmut leiden, sie haben nicht genug Geld für Gas und Strom. Sie haben auch allen Grund, sich vor den Zumutungen zu fürchten, die im Winter auf sie zukommen. Die Bundesregierung, die die Lasten der Energiekrise auf alle Menschen verteilen und gleichzeitig die Reichen steuerlich entlasten will, warnt schon vor sozialen Protesten. Eine Klimabewegung müsste darauf vorbereitet sein und sich fragen, was sie wie dazu beitragen kann, dass es zu keiner Spaltung zwischen Klimabewegung und sozialer Bewegung kommt. (…) Warum nicht jetzt gemeinschaftlich einen Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs und eine Fortsetzung des Neun-Euro-Tickets fordern? Was bisher fehlt, sind Menschen, die die Initiative für solche Bündnisse ergreifen. Wäre ein „System-Change-Camp“ nicht der geeignete Ort dazu? Es geht um die Kooperation von Umwelt- und sozialer Bewegung. Der Kampf für den Erhalt des Neun-Euro-Tickets könnte dazu den Anlass bieten. Hier liegen die Themenfelder einer Klimabewegung, die an Orte gehen will, die dem Kapitalismus wehtun…“ Beitrag von Peter Nowak vom 12. August 2022 in telepolis - Siehe zum Hintergrund unser Dossier: Aktionstage 9.-15. August 2022 in Hamburg: „System Change Camp & Ende Gelände 2022“ – Das System ist die Krise! Raus aus dem fossilen Amoklauf!
- Klimabewegung: Aktiv an Orten, wo es dem Kapital wehtut
- [Radio-Feature] Glitzer im Kohlestaub. Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie
„Im 2022 veröffentlichten Buch Glitzer im Kohlestaub – Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie versammeln in mehr als 60 Beiträgen Aktivist*innen ihre Rückblicke auf Aktionen und Diskussionen der Klimagerechtigkeitsbewegung. Sie legen ihre politischen Überlegungen dar und geben einen durchaus selbstkritischen Einblick in das Zusammenleben in Klimacamps, besetzten Dörfern und Wäldern. Die Aktivist*innen wissen, dass weder der von der Politik eingeschlagene Weg noch das vorgelegte Tempo geeignet sind, die sich vollziehende Klimakatastrophe mit all ihren »Nebenwirkungen« wie bspw. dem Artensterben, den weltweiten Hungerkatastrophen und Kriegen zu verhindern. Deshalb besetzen sie Wälder wie den Hambacher oder Dannenröder Forst, setzen sich auf Tagebaubagger in der Lausitz oder in Garzweiler, blockieren Zufahrtsgleise zu Kohlekraftwerken, kämpfen um den Erhalt von Dörfern wie Lützerath, springen vor Kreuzfahrtschiffen ins Wasser, um sie am Auslaufen zu hindern, oder sabotieren Maschinen und anderes Gerät, das für den Ablauf des zerstörerischen Geschäfts nötig ist. Das Radio Feature collagiert ein Interview mit Zucker im Tank zu verschieden Facetten der Klimagerechtigkeitsbewegung mit eingelesen Auszügen aus dem Buch sowie Sounds von Aktionen…“ Podcast vom 25.07.2022 beim Radio Nordpol – siehe mehr zum Buch hier weiter unten - Widerstand gegen die Versorgungskrise: Wie verbinden wir ihn mit dem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen? „… Wir befinden uns in einer Zeit, in der eine Krise die nächste jagt. Gerade kommen wir aus der Coronaviruskrise heraus, da geraten wir in die Preissteigerungskrise. In den meisten Ländern sind die Steigerungsraten unterschiedlich, aber in einigen Ländern steigen sie um 7 bis 10 Prozent. Und sie werden weiter steigen. Die wichtigsten Preissteigerungen betreffen die Energie, die fossilen Brennstoffe, und die Lebensmittel, insbesondere Getreide. Das sind Preissteigerungen, die die Arbeiterklasse und die Armen am härtesten treffen. Angeblich sind diese Preissteigerungen auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen, aber ihre Wurzeln reichen weit eher in die Klimakrise zurück. Zunächst zum Energiepreis. Seit sechs Jahren sind die Investitionen in fossile Brennstoffe rückläufig, weltweit. Der Grund dafür ist, dass die Investoren und die Banken wissen, dass sie in zehn oder zwanzig Jahren die fossilen Brennstoffe aufgeben müssen. Es dauert vierzig Jahre, bis Unternehmen mit ihren Investitionen Gewinne machen. Gleichzeitig gehen die Investitionen in erneuerbare Energien seit fünf bis sechs Jahren zurück. Das liegt daran, dass erneuerbare Energien immer billiger werden. Man sollte meinen, dass dies mehr Investitionen anzieht, weil sie billiger sind. Nein, das ist Kapitalismus. Als Wind- und Solarenergie billiger wurden, strich die Regierung die Subventionen. Ohne Subventionen gibt es aber viel weniger Gewinn. Und da erneuerbare Energie sehr billig ist, ist der Gewinn sehr gering. Die Investitionen in fossile Brennstoffe sind also rückläufig, die Investitionen in erneuerbare Energien sind rückläufig. Experten haben darauf gewartet, dass die Preise wieder nach oben gehen. Der Ukrainekrieg war der Kipppunkt. Das gleiche bei den Nahrungsmitteln: Die Klimakrise bedeutet, dass es überall auf der Welt Probleme mit der Ernte gibt. Auch hier handelt es sich um ein langfristiges Problem, das noch lange andauern und sich weiter verschärfen wird. Und auch hier ist der Ukrainekrieg ein Kipppunkt. Und dann gibt es noch Spekulation, Wucher, Marktmanipulation – all diese Dinge, aber die grundlegenden Probleme entstehen durch den Klimawandel. Weitere Probleme ergeben sich aus dem Coronavirus und den Unterbrechungen der Lieferkette. Das alles zusammen bedeutet, dass wir vor einer wirtschaftlichen Versorgungskrise stehen. (…) Wir werden auch Schuldenkrisen bekommen, weil die Länder des globalen Südens ihre Schulden plötzlich nicht mehr bezahlen können, weil ihre Schulden durch den Zinsanstieg so stark zunehmen. Es gibt also eine Schuldenkrise, und der IWF kommt und sagt, ihr müsst alle Subventionen kürzen. Einige von euch werden sich daran erinnern, wie der arabische Frühling 2011 begann. Er begann, weil die Menschen hungrig waren. Wir haben jetzt viel Erfahrung damit, was geschieht, wenn die Menschen Hunger haben und die Energiepreise steigen. In vielen Ländern kommt es zu Preisunruhen, aber auch zu großen Energieprotesten. (…) Die größte Bewegung der letzten vierzig Jahre war der arabische Frühling. All das, was daraus auf europäischen Plätzen und bei Occupy in den USA entstanden ist, kommt jetzt im Sudan, im Irak und im Libanon wieder zum Vorschein. Ich habe zwei englische Freunde, die in Kairo waren, kurz bevor die Bewegung auf dem Tahrirplatz begann. Jeden Abend gingen sie in die Straßen von Kairo, und da waren diese großen Menschenmengen, die durch die Straßen zogen, ohne Parolen, ohne politische Organisationen. Meine Freunde fragten, was sie da tun, und sie sagten: Wir wissen es nicht, aber unsere Familien haben Hunger. Wir können uns das Brot nicht leisten, wir bewegen uns, bis etwas passiert. So begann der Tahrirplatz. In diese Zeit treten wir jetzt wieder ein, und in der Zeit des Klimawandels wird es wieder und wieder so sein. Wir werden dieses Jahr nicht alles richtig machen, aber wir können daraus lernen. In dieser Krise gibt es viele Gefahren für uns, für alle. Aber im Widerstand liegt auch Hoffnung.“ Aus der Rede von Jonathan Neale in der Soz Nr. 7/2022
- Greta-Beraterin: „Wir sind im Krieg. Kriminell ist, wer beim Klima nicht führt.“
Im Interview von David Goeßmann vom 13. Juli 2022 bei Telepolis erläutert die Klimastreik-Organisatorin Janine O’Keeffe ihre Haltung: „… Es gibt ein paar Leute, die Öl, Gas und Kohle besitzen. In einem Land wie Deutschland sind das vielleicht 200 Personen. Sie können damit Profite machen. Unsere Gesellschaft ist so aufgebaut, dass sie dieses Profitstreben möglich macht. Als Russland die Förderung reduzieren musste, sagte die fossile Brennstoffindustrie: „Okay, lasst uns etwas Spaß haben. Lasst uns dafür sorgen, dass wir Geld verdienen, diesmal sogar noch mehr.“ Die Wahrheit ist, dass die meisten Menschen verstehen, dass wir weniger Gas, Öl und Kohle verbrauchen müssen. Es handelt sich also um eine Art Ausverkauf der Industrie, um so viel Geld wie möglich zu verdienen, bevor die Investitionen endgültig entwertet und zu „stranded assets“ werden. Unsere Aufgabe ist es, Wege zu finden, wie man die fossilen Rohstoffe schneller entwerten kann. Wie können wir sicherstellen, dass sie im Boden bleiben und nicht genutzt werden. Denn unser Wirtschaftssystem und unsere Gesellschaft lassen das nicht zu. Vielleicht geschieht es in Deutschland durch die Verfassung, weil Richter gesagt haben, dass die Regierungspolitik in Sachen Klima nicht im Einklang mit der Verfassung steht. Das kann vielleicht einen Effekt haben. Aber im Wirtschaftssystem sieht man das noch nicht. (…) Generell denke ich, dass die gesamte Klimabewegung erwachsen werden muss. Sie muss akzeptieren, dass der Feind hunderte, wenn nicht tausende Male größer ist. Wir sind eine Bewegung seit „Silent Spring“ (ein Buch der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson aus dem Jahr 1962, das Umweltbewegungen inspirierte, Telepolis). Unsere Regierungen haben uns aber nicht zugehört. Selbst Fridays for Future und den Massenbewegungen hören sie nicht zu. (…) Seit Jahrzehnten sehen wir: Die Regierungen sind nicht in der Lage, das Klima zu schützen. Deshalb ist ziviler Ungehorsam so wichtig. Sei es ziviler Ungehorsam in Form von Streiks wie Fridays for Future, seien es Blockaden und Die-Ins wie Extinction Rebellion oder das Blockieren von Autobahnen wie bei Just Stop Oil, Letzte Generation, Restore the Wetlands oder Blockade Australia. Wir wissen aus der Geschichte: Demokratie gibt es nicht ohne zivilen Ungehorsam. Ungehorsam war entscheidend für das Wahlrecht, die Gleichstellung der Frauen oder für die Durchsetzung von Bürgerrechten. Jetzt muss Ungehorsam die Natur, unsere Lebensgrundlage, bewahren helfen. Wir müssen auf jeden Fall den Ökozid verhindern und gegen ein System opponieren, das ihn anheizt…“ - In direkter Klimaaktion: Politische Überlegungen zu Organisierung und direkten Aktionsformen in der Klimabewegung
„Die Fotografien der Klimabewegung zeigen oft Menschen in weißen Maleranzügen, die – wenn’s gut läuft – auf riesigen Kohlebaggern sitzen. Das ist eindrucksvoll und Teil erfolgreicher Massenaktionen. Die Ergebnisse direkter Aktionen dagegen sind selten Teil der Medienberichterstattung – auch weil sie selbst die Augen der Öffentlichkeit meiden. Dennoch gibt es direkte Aktionen in der Klimabewegung, und das gar nicht so wenige. Das zeigt das im Juni veröffentliche Buch »Glitzer im Kohlestaub. Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie«, herausgegeben von »Zucker im Tank«, einer aktivistischen Gruppe, deren Hauptziel es ist, »Menschen zu direkten Aktionen gegen den fossilen Kapitalismus zu ermutigen und zu befähigen«. Aus der Arbeiter*innenbewegung kommend, beinhalten direkte Aktionen ein relativ breites Spektrum an Möglichkeiten. Oft werden militante Aktivist*innen jedoch mit der Gewaltfrage konfrontiert, was aber nicht zwangsläufig zutrifft, wie Schienenblockaden etwa mit Betonklötzen seit den Castor-Tagen der Anti-AKW-Bewegung zeigen. Doch es geht im Buch neben klassischer Bildungsarbeit und Organisierung auch um Sabotageaktionen, die ebenfalls bereits einen Platz im Repertoire der Aktionsformen der Klimabewegung haben. So wurde aus »Salz in der Suppe«, wie militante Aktivist*innen ihre Aktionsformen in früheren Bewegungen gerne betitelt haben, in der Klimabewegung »Glitzer im Kohlestaub«. »Aktuell wird heiß diskutiert, ob da noch mehr gehen könnte. Da die bisherigen Maßnahmen der Bewegung der kapitalistischen Zerstörungswut recht wenig Einhalt gebieten konnten, ist diese Debatte zu begrüßen«, heißt es im Buch. Gesammelt haben die Herausgeber*innen mehr als 60 Texte zu den Wurzeln der Klimabewegung, ihrer Entwicklung und zum aktuellem Stand. Hinzu kommen spannende Aktionsberichte und vielfältige Einblicke in Waldbesetzungen in Deutschland, die im Buch generell einen großen Raum einnehmen. Gleiches gilt für die von Tagebauen bedrohten Dörfer und deren Widerstand, auch hier mit Rückblicken wie etwa die Besetzungen im brandenburgischen Lacoma. (…) Und so kommen die Herausgeber*innen zu dem Schluss: »Was nützt es uns, wenn wir es zwar schaffen würden, den Klimawandel zu begrenzen, aber der ganze restliche kapitalistische, ausbeuterische und rassistische Mist einfach weitergeht? Dann würde die Menschheit nur von der einen Krise in die nächste schlittern. (…) Unsere Solidarität gilt allen, die emanzipatorische Kämpfe führen – weltweit, ganz egal, innerhalb welcher staatlich konstruierten Grenzen ihr Kampf stattfindet.«“ Rezension von Haidy Damm vom 11. Juli 2022 von „Glitzer im Kohlestaub“ in neues Deutschland online – das von Zucker im Tank herausgegebene Buch erschien beim Verlag Assoziation A zum Preis von 19,80 Euro (416 Seiten) - Umweltschutz der 99%: Wenn Welten aufeinandertreffen. Die ökologische Frage schafft keine politische Einigkeit „Den grossen Klimabewegungen der letzten Jahre ist es gelungen, das Thema der Umweltzerstörung und der Klimakrise ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Gleichzeitig wurde deutlich, dass es nicht einen Umwelt- respektive Klimaschutz gibt. Zwischen den liberalen Klimaschutzpolitiken, die auf Marktmechanismen setzen, den offen rassistischen Politiken des ‚Heimatschutzes‘, wie sie Rechtsextreme vertreten, den sozialdemokratischen Forderungen nach einem Green New Deal oder den dezidiert kapitalismuskritischen Ansätzen bestimmter Teile der Klimabewegung sind die Unterschiede offensichtlich. Die Herangehensweisen unterscheiden sich vor allem dahingehend, inwiefern sie soziale Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheiten perpetuieren oder aufbrechen. So wird deutlich, dass Klima- und Umweltschutz grundlegende politische Fragen aufwerfen. Es geht mit anderen Worten um Klimagerechtigkeit, wie der kürzlich erschienene Bericht des Weltklimarates IPCC noch einmal deutlich aufzeigt. Das herkömmliche Bild eines politisch neutralen Umweltschutzes verliert sichtlich an Plausibilität. Klima- und Umweltzerstörung sind somit keine isolierten Probleme. Die Frage, wie wir uns zu unseren nicht-menschlichen Umwelten verhalten, tangiert jeden einzelnen Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Die Idee eines Umweltschutzes der 99% umfasst eine emanzipatorische Politik, die über verschiedene soziale Kämpfe den dringend nötigen „Systemwandel“ herbeiführen soll. Wie das aussehen könnte, zeigt ein eindrückliches Beispiel aus Frankreich. (…) Der Widerstand gegen den Bau des Flughafens von Notre-Dame-Des-Landes nördlich von Nantes gehört zu den prägendsten westeuropäischen Umweltbewegungen der letzten Jahrzehnte. (…) Die Gegner:innen und Befürworter:innen des Flughafens vertraten zwei unterschiedliche Gesellschaftsprojekte, zwei inkompatible Vorstellungen der Landnutzung und des Zusammenlebens. Auf der einen Seite stand ein produktivistisches Modell, das bereit ist, artenreiche Ökosysteme und Lebensräume dem Profitstreben zu opfern. Auf der anderen Seite verteidigten die Aktivist:innen eine solidarische Form des Zusammenlebens, die auf gemeinschaftliche und ökologische Nutzformen des Landes setzt. (…) Dieser „Konflikt der Welten“, wie die Philosoph:innen Léna Balaud und Antoine Chopot es nennen, macht deutlich, dass es sich bei der Klima- und Umweltfrage um eine „Systemfrage“ handelt. Ohne einen Bruch mit der Logik des grenzenlosen Wachstums scheint eine Lösung der Klimakrise und der Umweltzerstörung immer unwahrscheinlicher. Während Regierungen und internationale Institutionen die Lösung der Klimafrage weiterhin mehrheitlich im Rahmen der bestehenden wachstumsorientierten Institutionen suchen, fordern zahlreiche Bewegungen und Ansätze eine radikale Verschiebung der Prioritäten: Statt Wachstum um jeden Preis soll es um eine bedürfnisorientierte, solidarische, auf Fürsorge und Demokratie setzende Form des Wirtschaftens und Zusammenlebens gehen. (…) „Soziale“ Konflikte um demokratische Mitbestimmung, Geschlechtergleichheit, Antirassismus, soziale oder internationale Solidarität sind der Umweltfrage keineswegs äusserlich. Der Umweltschutz der 99% ist unweigerlich einer intersektionale Politik verschrieben, die Race, Class und Gender sowie anderen Herrschaftsverhältnisse bei der Aushandlung fürsorglicherer Weltverhältnisse ernst nimmt. Wie es die Klimagerechtigkeitsbewegung seit vielen Jahren fordert, soll Umweltschutz der 99% aus heterogenen Allianzen zwischen unterschiedlichen sozialen Akteuren und Bewegungen erwachsen, die gesellschaftliche und ökologische Missstände aus verschiedenen Seiten bekämpfen. Eben solche Allianzen sind in der ZAD von Notre-Dame-Des-Landes entstanden…“ Beitrag von Milo Probst vom 30. März 2022 bei geschichte der gegenwart
- Philosoph Robin Celikates zu Autobahnblockierer:innen: „Absichtlich rechtswidrig“
„Klimaaktivisten blockieren Autobahnen und wollen Flughäfen stilllegen. Ist das noch legitim? Der Sozialphilosoph Robin Celikates sieht genauer hin. (…) Das Wort „zivil“ wird manchmal so interpretiert, dass ziviler Ungehorsam gewaltlos oder friedlich sein muss. In Deutschland kann eine Sitzblockade – eigentlich ein paradigmatisches Beispiel für gewaltfreien Ungehorsam – jedoch als eine gewaltsame Nötigung aus Sicht des Strafrechts erscheinen. Moralische Helden wie Martin Luther King oder Gandhi, die heute für friedlichen Ungehorsam stehen, wurden zu ihrer Zeit als gewaltsame Terroristen diffamiert. Heute sieht man ähnliche Dynamiken. Für mich ist eine Blockade auf der Autobahn zunächst einmal eine friedliche Form des Protestes. Nur weil Leute auf zum Teil natürlich sehr unangenehme Weise in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, ist das nicht per se gewaltsam. Man muss also genau prüfen, was mit „friedlich“ und „zivil“ jeweils gemeint ist. (…) Die Aktivist:innen tragen die Verantwortung, ihre Gründe darzulegen und zu erklären, warum ziviler Ungehorsam der einzige Weg ist, dafür einzustehen. Der Ungehorsam kann sich ja sogar auf Prinzipien berufen, die im Grundgesetz verankert sind, wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit oder die Verantwortung für zukünftige Generationen. Über diese Prinzipien besteht erstmal kein Dissens. Nur haben die Protestierenden eine viel weitergehende Interpretation, zu was uns diese Prinzipien konkret verpflichten, und weisen darauf hin, dass die aktuelle rechtliche Lage und die politischen Verhältnisse weit hinter diesen Selbstverpflichtungen zurückbleiben.
[Zu sagen: Wir blockieren Autobahnen, bis das Essen-Retten-Gesetz steht. Ist das nicht Erpressung?]
Der Vorwurf trifft nicht. Erpressung heißt, anderen durch Androhung von Gewalt oder tatsächliche Gewalt etwas abzunehmen, um sich selbst zu bereichern. Die Aktivist:innen wollen ja kein Lösegeld von Olaf Scholz. Sie wollen, dass im allgemeinen Interesse der jüngeren Generationen gehandelt wird. Die Diffamierung als Erpressung, die man aus der Bild-Zeitung oder konservativen Kreisen kennt, geht an der Realität des Protestes vorbei. Die Aktivist:innen wollen die Politik zum Handeln bewegen, indem die Kosten durch Blockaden in die Höhe getrieben werden. Wenn man keine zusätzliche Überzeugungsarbeit leistet, riskiert man aber den Vorwurf der Nötigung. Deswegen muss man auch versuchen, zu überzeugen. Das wird bei den Leuten in den Autos natürlich schwer sein, auch wenn deren Reaktionen sicher gemischt sind. Es geht um die breite Öffentlichkeit. (…) Viele Errungenschaften der Demokratie, die wir heute für gegeben halten, sind Ergebnis genau solcher Kämpfe. Sie haben dazu geführt, dass heute Frauen gleiche Rechte haben wie Männer oder Migrant:innen mehr Rechte als vor ein paar Jahrzehnten. Sowas passiert meistens nicht aus Eigeninitiative des politischen Systems heraus, sondern muss auf den Straßen erkämpft werden. Daher ist ziviler Ungehorsam ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie, ja der Demokratisierung der Demokratie. Die Regierung soll ja auch nicht einfach nachgeben, sondern auf die inhaltlich richtige Argumentation eingehen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Das ist kein Eingeständnis von Schwäche. Frankreich ist auch nicht untergegangen, nur weil es dort ein Gesetz gibt, das das Wegwerfen von Lebensmitteln verbietet. (…)
Nicht alle Akteursgruppen haben dieselben Ressourcen. Es gibt Lobbyismus hinter den Kulissen, Sichtweisen, die an den Rand gedrängt werden, und Gruppen von Menschen, die nicht ernst genommen werden. Deswegen gehören Formen des Protests wie ziviler Ungehorsam, die den Staat daran erinnern, dass er eigentlich nur der Selbstregierung der politischen Gemeinschaft dient und nicht umgekehrt, wesentlich zur Demokratie und sind keine antidemokratischen Praktiken…“ Interview von Ruth Lang Fuentes vom 21.2.2022 in der taz online . Siehe auch:- Sozialer Protest muss ein Störfaktor sein. Klimaaktivist Tadzio Müller über die Aktionen der »Letzten Generation« und die Radikalität der Bewegung
Interview von Louisa Theresa Braun und Mischa Pfisterer vom 21.02.2022 im ND online
- Sozialer Protest muss ein Störfaktor sein. Klimaaktivist Tadzio Müller über die Aktionen der »Letzten Generation« und die Radikalität der Bewegung
- Von den Gelbwesten lernen. Wir müssen der Realität ins Auge sehen: Ohne Umverteilung werden wir die drohende Klimakatastrophe nicht abwenden können
„… Es steht schlecht um das Ziel, die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten. Eher steuern wir drei Grad an. Und wenn es so weitergeht, ist das Emissionsbudget eines 1,5-Grad-Kurses in sechs Jahren aufgebraucht. Zugleich fürchtet nach neuen Zahlen der UN weltweit eine große Mehrheit den Klimawandel. Was läuft falsch? Grundproblem ist hier die Vernachlässigung sozialer Ungleichheit. Ärmere fürchten zu Recht, die gegenwärtige Klimapolitik beschneide ihre Kaufkraft. Vor diesem Unwillen hat die Politik Angst. Aber wir können den Teufelskreis durchbrechen. Zehn Prozent der Weltbevölkerung sind – durch Konsum und Investments – für die Hälfte aller CO₂-Emissionen verantwortlich, die ärmere Bevölkerungshälfte für zwölf Prozent. Es geht hier nicht nur um arme versus reiche Staaten. In den USA emittieren die ärmeren 50 Prozent zehn Tonnen CO₂ pro Kopf und Jahr, die reichsten zehn Prozent hingegen 75, ein Verhältnis von mehr als sieben zu eins. In der EU steht es sechs zu eins: Die ärmere Hälfte kommt auf fünf Tonnen, das obere Zehntel auf 30. Ergo müssen die Reicheren den Löwenanteil beitragen und die Ärmeren eine Chance bekommen, eine 1,5- oder Zwei-Grad-Politik zu verdauen. Doch leider geschieht oft das Gegenteil. Das zeigten 2018 Frankreichs „Gelbwesten“. Die Regierung hatte die CO₂-Steuern in einer Weise angehoben, die ländliche Geringerverdienende hart traf, Reiche aber verschonte. Wer per Auto zur Arbeit muss, hätte draufgezahlt, während Flugbenzin für Trips der Reichen von der Steuererhöhung ausgenommen blieb. Der Protest war wütend, die Reform scheiterte. Genau dieses Muster ist weit verbreitet: eine Klimapolitik, die Ärmere um Einkommen und Job fürchten lässt – was die Wirtschaftslobbys als Argument benutzen, um den Wandel zu bremsen. (…) Wenn nun viele Staaten CO₂- und Energiesteuern einführen, ist aus dem französischen Fehler zu lernen. Ein positives Beispiel wäre British Columbia, die kanadische Öl-und-Gas-Provinz. Dort wurde 2008 eine CO₂-Steuer eingeführt, die Einnahmen gehen zu erheblichen Teilen direkt an Haushalte mit mittleren und kleineren Einkommen. Als Indonesien vor einigen Jahren die Subventionen für fossilen Treibstoff stoppte, war das anfangs wegen steigender Energiekosten bei den Ärmeren sehr umstritten. Akzeptiert wurde die Reform, als sich die Regierung entschloss, die frei werdenden Mittel in Gesundheits- und Sozialprogramme zu stecken. Neue Wege sind also gefragt. Wie wäre es etwa mit einer progressiven Vermögensteuer mit einem Verschmutzungsfaktor? Der Abschied von fossilen Energien ließe sich beschleunigen, indem man für entsprechende Unternehmen den Zugang zu Kapital verteuerte. Es ließen sich erhebliche staatliche Einnahmen generieren, die in grüne Energie, Innovation und sozialen Ausgleich fließen könnten. Am Ende wäre eine solche CO₂-Besteuerung wohl auch leichter durchzusetzen, weil nicht die Mehrheit, sondern ein zahlenmäßig kleiner Teil der Bevölkerung betroffen wäre. Es gibt viele Pfade dafür, das Umsteuern zu beschleunigen. Aber eines muss dabei anerkannt werden: Eine tiefgreifende Dekarbonisierung ist ohne erhebliche Umverteilung von Einkommen und Wohlstand nicht möglich.“ Artikel von Lucas Chancel in der Übersetzung von Velten Schäfer am 02.02.2022 in der Freitag 02/2022 - Kaputt machen, was den Planeten zerstört? Die Zeit läuft ab, nun debattiert die Klimabewegung über radikalere Aktionsformen – dabei sollten gerade jetzt andere Fragen im Mittelpunkt stehen
„Die Beschlüsse der UN-Klimakonferenz in Glasgow sind eine Katastrophe. Sie besiegeln den Kurs auf eine drastische und nicht umkehrbare Erhitzung der Erde, die das Überleben Hunderter Millionen Menschen und unzähliger Tier- und Pflanzenarten bedroht. Gleich, ob Kipppunkte im Klimasystem in zehn, 20 oder erst in 50 Jahren erreicht werden: Wir rasen auf eine Situation zu, die das Leben und auch die Bedingungen für kommunistische Utopien grundlegend verändern wird. Angesichts der düsteren Lage ist in der hiesigen Klimabewegung eine Debatte über die politische Ausrichtung in Gang gekommen. Zum einen wird über die taktische Frage der Aktionsformen gestritten, zusammengefasst: Muss die Klimabewegung zu radikaleren Mitteln greifen, um den Druck zu erhöhen? Zum anderen geht es um die strategische Orientierung: An wen richtet sich die Bewegung, wie glaubt sie, die Begrenzung der Erderwärmung erreichen zu können? (…) Sicher spricht viel dafür, dass die Klimabewegung ihr Protestrepertoire erweitert, und ja: Die Zeit läuft ab. Dennoch fällt auf, dass die Forderung nach militanten Aktionen vor allem darauf abzielt, den Staat oder sogar die Energiekonzerne selbst zum Handeln zu bewegen. Bei Andreas Malm heißt es explizit: Wenn der Staat nicht eingreife, müssten es andere tun – »nicht, weil Aktivist*innen die Abschaffung fossiler Brennstoffe erreichen können – die Macht hierzu haben nur Staaten –, sondern weil ihre Rolle darin besteht, den Druck hierfür zu verstärken.« Diese Aufrufe zu einem, nennen wir es militanten Reformismus erkennen zwar an, dass der Staat den Interessen der Unternehmen Vorrang einräumt und zum Umsteuern erst gezwungen werden muss. Sie blenden aber aus, dass der Staat gar nicht anders kann, als möglichst ideale Verwertungsbedingungen für das Kapital zu schaffen. Im Kapitalismus ist daher keine Politik denkbar, die wirtschaftliches Wachstum und steigenden Ressourcenverbrauch verhindert – und das wäre nötig, um den Ausstoß klimaschädigender Treibhausgase zumindest stabil zu halten.
Die Appelle für radikalere Aktionen gehen somit wichtigen grundsätzlichen Fragen aus dem Weg: Bis zu welchem Grad kann die Klimabewegung beim Klimaschutz auf den Staat hoffen, kann sie es überhaupt? Welcher Druck wäre nötig, um wirksamen Klimaschutz zu erzwingen – und wie soll er mobilisiert werden? Und wenn das keine aussichtsreiche Strategie ist: Was sind die Alternativen? (…)
Die Angry Workers betonen, dass nur selbstorganisierte Arbeiter*innen die Macht entwickeln können, Maßnahmen zur Beendigung der Klimakrise durchzusetzen – nicht, indem sie mehr Druck auf den Staat machen, sondern indem sie dafür kämpfen, die kapitalistische Verwertung aufzuheben.
Im Unterschied zur Initiative Klimaschutz und Klassenkampf bei Bosch, die auf Kooperation mit der IG Metall setzt, sehen die Angry Workers in den Gewerkschaften keine geeigneten Bündnispartner: »Die Existenz der Gewerkschaften ist vom Fortbestand des kapitalistischen Systems abhängig. Sie hängt von ihrer Aufgabe ab, die ›Jobs und Interessen ihrer Mitglieder zu schützen‹.« Ihre eigene Rolle sehen die Angry Workers, neben Analyse und dem Knüpfen von Kontakten zwischen Arbeitskämpfen und Klimabewegung darin, Arbeiterselbstorganisierung zu stärken und Klimaforderungen in betriebliche Kämpfe einzubringen, etwa mit Hitzestreiks gegen steigende Temperaturen.
Worauf bisher weder die Angry Workers noch die Münchener Gruppe eine Antwort haben, ist, wie die Aneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiter*innen in der knappen Zeit gelingen soll oder wie die Notwendigkeit eines Rückbaus vieler Industrien angegangen werden kann. Auch das Dilemma, dass nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch Arbeiter*innen von der erfolgreichen Verwertung des Kapitals abhängig sind, wird bislang nur in Ansätzen reflektiert. (…)
Von den vorgestellten Ansätzen bietet der ökosozialistische Vorschlag am ehesten die Basis für eine plausible strategische Orientierung. Allerdings muss er ergänzt werden um Fragen, die einige der anderen Vorschläge ins Zentrum stellen. Ein Umsteuern, das die Erderhitzung noch abbremsen könnte, ist mit dem kapitalistischen Wachstumszwang schlicht nicht vereinbar. Zu dieser Erkenntnis muss sich die Klimabewegung durchringen, will sie ihr Handeln nicht an Illusionen ausrichten, die an den Verhältnissen zerschellen und in Enttäuschungen enden müssen. (…)
Auch wenn es im Aktionsrepertoire der linken Teile der Klimabewegung näher liegen mag, Automessen zu blockieren, wäre es von großer strategischer Wichtigkeit, dass sie die Produktionsorte der klimaschädlichen Industrien aufsucht und dort nach Ansätzen für einen gemeinsamen Kampf mit denen sucht, die dort arbeiten. Gleichzeitig müssen in diese Kämpfe die Erkenntnisse der Degrowth-Bewegung einfließen, das heißt, die Klimabewegung muss sich am Beispiel einzelner Produktionszweige mit den stofflichen Seiten der Produktion und ihrer Umstellung oder ihrem Rückbau befassen…“ Artikel von Jan Ole Arps und Guido Speckmann aus dem ak 677 am 14. Dezember 2021 online - Klimabewegung: Sand im Getriebe der fossilen Industrie sein
„Ein Teil der Klimabewegung in Deutschland diskutiert über Sabotageakte. In Protestbewegungen gehörten über Demonstrationen hinausgehende Aktionen immer dazu. Wer Tadzio Müller kennt – vielen nd-Lesern dürften seine Kolumnen noch in Erinnerung sein – dürfte wissen, dass er gern provoziert. Mitte November gab Müller dem »Spiegel« ein Interview. Und sagte, es könnte im nächsten Sommer »zerdepperte Autoshowrooms, zerstörte Autos, Sabotage in Gaskraftwerken oder an Pipelines« geben. Der langjährige Umwelt- und Klimaaktivist geht davon aus, dass ein »kleiner Teil« der Klimabewegung in den Untergrund gehen und eine »grüne RAF« bilden könnte. Solche Schlagworte riefen erwartbar heftige Reaktionen in den Redaktionen der großen Zeitungen hervor. In vielen Artikeln und Kommentaren wurden Müllers Aussagen als Aufruf zu Mord und Totschlag, zu Terrorismus für das Klima gedeutet. Dass Müller eigentlich vor einer grünen RAF warnte, wurde gern übersehen. (…) Allerdings löste gerade der RAF-Vergleich bei vielen Aktiven von Fridays for Future und aus anderen Teilen der Klimabewegung Entsetzen aus. Zu explizit erschien vielen eine positive Bezugnahme auf Gewalt. Doch die Debatte über die Terrororganisation geht an dem Impuls vorbei, den Müller setzen wollte und der schon seit langer Zeit Teil der Bewegung für Klimagerechtigkeit ist. Dafür reicht ein Blick auf die erfolgreichen Kämpfe für Umwelt- und Klimaschutz in Deutschland. Als in den 1980er Jahren an vielen Orten gegen den Bau von neuen Atomkraftwerken protestiert wurde, war militanter Protest selbstverständlicher Teil der Aktionen. Ohne ihn hätten nicht Tausende Polizisten in Orten wie Brokdorf aufmarschieren und Bauplätze verteidigen müssen. Noch auffälliger wurde es später in den Auseinandersetzungen um das Atommülllager Gorleben. Tausende gingen immer wieder über die Regeln des Demonstrationsrechts hinaus, setzten sich auf die Gleise zum Zwischenlager und sabotierten die Infrastruktur, über die der radioaktive Abfall nach Gorleben gebracht werden sollte. Auch die Klimabewegung erregte zuerst nicht durch große, friedliche Demonstrationen Aufsehen, sondern durch Aktionen, die darüber hinaus gingen. So waren es bei den Aktionen des Netzwerks »Ende Gelände« jeweils nur ein paar Tausend Menschen, die im rheinischen Revier wie auch in der Lausitz mit ihren Körpern den Prozess der Kohleverstromung zeitweise zum Erliegen brachten. Abseits der Massenaktionen gab es immer wieder Angriffe auf die Infrastruktur der Kohlekonzerne. Im Rheinland brannten regelmäßig Pumpen, die den Grundwasserpegel so weit unten halten sollen, dass der RWE-Konzern ohne Probleme Kohle abbaggern kann. Und Waldbesetzer wie jene im Hambacher Forst warteten über Jahre nicht passiv darauf, dass sie vom Kohlekonzern und der Polizei geräumt werden. Sie leisteten aktiv Widerstand, auch durch die Konstruktion von schwer erreichbaren Baumhäusern…“ Artikel von Sebastian Weiermann vom 6. Dezember 2021 in neues Deutschland online , siehe auch: #friedlicheSabotage - Militanter Protest braucht Solidarität
„Ohne Unterstützernetzwerke kann militanter Protest von Klimaaktivist*innen nicht funktionieren, meint Cristina Yurena Zerr.
Die CO2-Emissionen steigen, es wird neue fossile Infrastruktur, etwa in Form von Ölpipelines, gebaut, die womöglich jahrzehntelang in Betrieb bleibt – in Deutschland, in den USA und an vielen anderen Orten auf der Welt. Angesichts dessen könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Umweltbewegung mir ihrer Taktik der strategischen und absoluten Friedfertigkeit gescheitert ist. Diese These stellt der schwedische Humanökologe und Marxist Andreas Malm in seinem 2020 veröffentlichten Buch »How to Blow Up a Pipeline« (»Wie man eine Pipeline in die Luft jagt«) auf. Angesichts eines brennenden Planeten müsse es der nächste Schritt der globalen Klimabewegung sein, Sabotage und Sachzerstörung an Luxusgütern und fossiler Infrastruktur in großem Stil zu betreiben. Das Buch fand in den USA große Beachtung. In Deutschland stößt der langjährige Umweltaktivist Tadzio Müller im »Spiegel«-Interview in ein ähnliches Horn, prognostiziert an eine bürgerliche Öffentlichkeit gerichtet, dass es in Zukunft verstärkt zu Sabotageaktionen aus der Umweltbewegung heraus kommen wird. Jedoch: Während der Aufruf zu radikaleren Widerstandsformen in der Klimagerechtigkeitsbewegung lauter wird , scheint die Auseinandersetzung mit den Folgen eine nachrangige Angelegenheit zu sein. Das zeigen Sabotageaktionen der US-Aktivistin Jessica Reznicek, die Malm lobend zitiert. Seit August sitzt die 40-Jährige wegen Sabotagen an der Dakota Access Pipeline (DAPL) im US-Bundesstaat Minnesota hinter Gittern. Sie wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, da ihre Taten als inländischer Terrorismus eingestuft wurden. Außerdem wurde Reznicek zu einer Geldstrafe in Höhe von 3,2 Millionen US-Dollar an den Pipeline-Konzern Energy Transfer verurteilt…“ Artikel von Cristina Yurena Zerr vom 06.12.2021 im ND online - Ziviler Ungehorsam und friedliche Sabotage
„Mit Olaf Scholz wird uns die SPD wieder verraten. Das Pariser Klimaabkommen ist gescheitert, „weiter so“ geht nicht mehr. Rational ist es, Widerstand zu leisten. Die Protestformen der sozialen Bewegungen müssen sich transformieren, ziviler Ungehorsam und friedliche Sabotage sollten dabei im Zentrum stehen. (…) Doch es bleibt keine Zeit mehr für unverbindliche Ankündigungen und schwammige Abmachungen. Da ändert auch die freiwillige Bekundung der Staaten nichts, im kommenden Jahr die jeweils eigenen Ziele zur Einhaltung der 1,5-Grad-Marke nachzuschärfen. Eher steht dies sinnbildlich für das Versagen und die leeren Versprechen. (…) Das große Versagen ist aber kein Versagen der Fridays-for-Future-Demonstrationen oder der Klimagerechtigkeitsbewegung. Es ist ein Versagen der Erwachsenen und jener, die gewählt worden sind, die Gesellschaft als Souverän adäquat zu vertreten. Den Aktiven ist es nicht zu verdenken, wenn sie ernüchtert und enttäuscht sind. Doch die daraus wachsende Wut und die zunehmende Hoffnungslosigkeit dürfen nicht zur Inaktivität führen. Alle sind dazu angehalten, sich Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen kann und muss. Die Jugendlichen von Fridays for Future haben bei ihren Protesten während der Koalitionsverhandlungen gezeigt: Auch sie können zivilen Ungehorsam leisten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Demonstrationen dürfen nicht verschwinden. Der zivile Ungehorsam darf nicht als Ersatz dienen. Große Proteste, die als Märsche kilometerlang kraftvoll und laut durch die Innenstädte ziehen, sind wichtig für eine Gesellschaft, will sie ihre Moral erhalten. Doch werden Demonstrationen allein die Regierung nicht zum konsequenten Handeln bewegen. Ziviler Ungehorsam in Form nicht angemeldeter Blockaden von Straßen, Ministerien oder Konzernfilialen hat mit den Massen, wie sie sonst auf Demonstrationen anwesend sind, ganz andere Potenziale. Es wird Zeit, stärker zu polarisieren. Dies muss dort stattfinden, wo es um den Fortbestand der menschlichen Zivilisation geht. Politiker:innen können sich dann nicht mehr mit einem Selfie stolz zwischen die Fridays-for-Future-Aktivist:innen auf ihren Protesten stellen. Massenhafter und symbolischer ziviler Ungehorsam wird sie auf andere Art herausfordern und sie vor die Wahl stellen, diesen Akt zu verurteilen oder sich auf die Seite der wissenschaftlichen Fakten zu stellen und der Zerstörung den Kampf anzusagen. Denn tausende junge Menschen, die die Gesundheit ihrer Körper in die Waagschale legen, werden sowohl ihre Eltern als auch die Entscheidungstragenden in ein moralisches Dilemma zwingen. (…) Das „Wie“ spielt wie bei allen Protestformen eine zentrale Rolle. Wie erwähnt, ist es eine Protestform von Extinction Rebellion, Konzernbüros zu besetzen. Neben dem Erregen von Aufmerksamkeit kommt es dabei mitunter auch zu einem zweiten Effekt. Der Tagesablauf der Einrichtung wird gestört. Noch mehr davon steckt in den Aktionen der Bewegung Ende Gelände, die in Kohlegruben und neuerdings auch an Erdgasanlagen mobilisiert und so an den Orten des Geschehens für Störung sorgt. Mit ihren Körpern besetzen die Aktivist:innen Zufahrtswege, Schienen oder Gerätschaften. Neben dem Erregen von Aufmerksamkeit ist es das Ziel, die zerstörerischen Abläufe zu unterbrechen. Wenn es auch nur für einen kurzen Zeitpunkt geschieht, so handelt es sich um verhindernden zivilen Ungehorsam. Der Weg zu friedlicher Sabotage zeigt sich hier am ehesten geebnet. Der Protestforscher und Sozialphilosoph Robin Celikates stellt klar, dass gewaltfreie Aktionen auch Aktionen sein können, die Gegenstände zerstören. Wichtig auch für ihn ist, dass keine Menschen zu Schaden kommen…“ Gastbeitrag von Tino Pfaff vom 01. Dezember 2021 bei den klimareportern - Aktivist Tadzio Müller im Interview: »Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF«
„Werden die Klimaproteste militant, wenn sie ohne Wirkung bleiben? Ja, aus Notwehr, warnt der langjährige Aktivist Tadzio Müller. Ob sich daraus eine Untergrundbewegung entwickle, habe die Gesellschaft in der Hand…“ Interview von Jonas Schaible vom 21.11.2021 im Spiegel online – leider im Abo, siehe daher den Twitter-Account von Tadzio Müller - Wie kann die Klimabewegung ihren Kampf eskalieren, um die Machtverhältnisse zu verändern?
„Welcher Strategien hat sich die Klimabewegung bedient und welcher bedarf es, um ihr zu einer besseren Durchsetzungsfähigkeit zu verhelfen? Ist es so, dass wir erfolglos bleiben, solange wir Umweltkrisen nicht auch an ihren sozialen und politischen Wurzeln bekämpfen? Sind Mittel der friedlichen Sabotage, für die die Autorinnen Payal Parekh & Carola Rackete den sympathischen Begriff der „Demontage mit Würde“ ins Spiel bringen, dazu geeignet? Brauchen wir einen Kader, der darin geschult ist, sich strategisch zu engagieren, um unsere Bewegung massiv auszuweiten? Die Vision der beiden ist auf jeden Fall verlockend: „Wählen wir die Taktiken, die zu unseren Träumen passen, und machen wir den fossilen Kapitalismus zur Geschichte!“
Wie kann die Klimabewegung ihren Kampf eskalieren, um die Machtverhältnisse zu verändern? Wir erinnern uns an den Moment, in dem jeder von uns klar wurde, dass es nicht ausreicht, wissenschaftliche Forschung zum Klimawandel zu betreiben oder zu unterstützen, sondern dass die Lösung der Klimakrise nur durch den Aufbau von Bewegungen erreicht werden kann, die kollektives politisches Handeln ermöglichen. (…) Wir befinden uns immer noch in der Gefahrenzone. Keine Regierung hat eine Politik auf den Tisch gelegt, die die Erderwärmung auf unter 1,5/2,0 °C begrenzen könnte. Unsere Gegner:innen sind gewaltig und werden nicht kampflos aufgeben. Die Klimakrise ist eine zu erwartende Folge der gegenwärtigen politischen Machtstrukturen, die in einem Wirtschaftssystem wurzeln, das unendliches Wachstum anstrebt und gleichzeitig die Ungleichheit vergrößert, indem es Reichtum und damit politische Macht und Einfluss in den Händen einiger weniger anhäuft. Solange Aktivist:innen die eskalierenden Umweltkrisen nicht an ihren sozialen und politischen Wurzeln anpacken, gibt es keine Chance, den Zusammenbruch der Umwelt aufzuhalten. Deshalb dürfen wir uns nicht scheuen zu sagen, dass der Kapitalismus inakzeptabel ist, und müssen ihn angreifen, um den Klimazusammenbruch zu verhindern. Genauso wichtig ist es, dass wir bereit sind, uns von Taktiken und Strategien zu trennen, die nicht mehr funktionieren, und stattdessen mit neuen zu experimentieren und sie stetig zu erneuern. Wir glauben, dass wir Folgendes tun müssen, um unsere Erfolgschancen zu erhöhen – wir können es uns nicht leisten zu verlieren. (…) Wir müssen Selbstreflexion betreiben: Sind wir bereit, einige unserer Praktiken zu ändern, um inklusiver zu werden? Sind wir bereit, einen intersektionellen Ansatz zu verfolgen und Umwelt- und soziale Bewegungen hinter einer breiteren Vision von sozialer Gerechtigkeit zu vereinen, um unsere Reichweite zu vergrößern und vielfältiger zu werden? Wenn wir diese Geschichte so erzählen können, dass sie das widerspiegelt, was viele Menschen erleben, können wir aus unserer Blase ausbrechen. Neue Menschen für die Bewegung zu gewinnen, bringt auch neue Vielfalt und neue Perspektiven und Ideen für Taktiken und Strategien. Hören wir uns die Ängste und Hoffnungen der Menschen an und bieten wir ihnen Möglichkeiten der Beteiligung, die für sie geeignet sind. (…) Erfolgreiche Bewegungen sind lebendig und atmen – das bedeutet, dass sie in der Lage sind, auf eine sich verändernde Situation zu reagieren und sich ihr anzupassen. Sind wir bereit, uns von Taktiken zu trennen, die nicht greifen, und haben wir den Mut, mit neuen zu experimentieren und sie immer wieder zu aktualisieren? (…) Die Klimakrise verschärft sich von Minute zu Minute, und es steht außer Frage, dass wir unsere Aktionen steigern müssen, aber wie sieht das in der Praxis aus? Welche Maßstäbe verwenden wir, um zu entscheiden, ob wir unsere Proteste zuspitzen und verschärfen und ob das erfolgreich war? Wir argumentieren, dass unsere größte Aufgabe derzeit nicht darin besteht, diejenigen zu radikalisieren, die sich bereits engagieren und an zivilem Ungehorsam teilnehmen, sondern die politisch Inaktiven einzubeziehen, die zwar glauben, dass der Klimawandel ein Problem ist, die aber nicht glauben, dass sie etwas bewirken können oder nicht wissen, wie sie etwas verändern können. Daher sollte unser Schlüsselindikator die „horizontale Eskalation“ sein, wie David Solnit es nennt, der Kunstorganisator und Aktivist für direkte Aktionen, der 1999 die WTO-Blockade in Seattle mitgestaltet hat. Wenn unsere Aktionen größer werden, von Dutzenden über Hunderte bis hin zu Tausenden von Teilnehmer:innen aus mehreren Gemeinschaften, dann haben wir eine horizontale Eskalation vollzogen. Aktionen, die dazu führen, dass Aktivist:innen sich zurückziehen oder Barrieren für neue Teilnehmer:innen schaffen, so dass die Aktionen kleiner werden, könnten als Deeskalation betrachtet werden. Sobald Menschen den Sprung in die Bewegung geschafft haben, ist es unsere Aufgabe, so viele Menschen wie möglich auf der Leiter des Engagements nach oben zu bringen. (…) Aus Sicht der Kampagnenarbeit stellt sich nicht so sehr die Frage, ob Sabotage legitim ist (was sie unserer Meinung nach ist, solange sie keine Menschen gefährdet), sondern wir müssen überlegen, ob Sabotage in dem Kontext, in dem wir uns gerade befinden, angemessen ist. Hilft sie uns, Macht aufzubauen und mehr Unterstützung in der Gesellschaft zu gewinnen? Wenn ja, wie sollte die Sabotage gestaltet werden und aussehen? (…) Die Klimakrise ist beängstigend, weil wir bereits einen Vorgeschmack auf ihre zerstörerische Kraft bekommen haben. Es steht viel auf dem Spiel, und die Veränderungen, für die wir kämpfen, sind für unser Überleben unerlässlich, denn sie betreffen alles und jeden, der uns wichtig ist. Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich nicht schnell genug, trotz der Anstrengungen, die viele von uns unternommen haben, um den Wandel zu bewirken. Dennoch haben wir Fortschritte gemacht: Die Industrie für fossile Brennstoffe hat einen Rückzieher gemacht und beginnt zu wanken. Die Frage ist nicht, ob die Gewinnung fossiler Brennstoffe der Vergangenheit angehören wird, sondern ob wir dies erreichen werden, bevor ein unumkehrbarer Klimakipppunkt erreicht wird. Aus diesem Grund müssen wir unsere Strategien schärfen und unsere Taktik mit viel Fantasie umsetzen. Wenn wir erfolgreich sind, können wir die Gesellschaft so umgestalten, dass sie gerechter, ausgeglichener und fairer wird. Wählen wir die Taktiken, die zu unseren Träumen passen, und machen wir den fossilen Kapitalismus zur Geschichte!“ Beitrag von Payal Parekh und Carola Rackete vom 25.10.21 in Pressenza Berlin - Kapital und Klima – Handbuch für Aktivisten: Matthias Martin Becker über die Krise des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Naturverhältnisses
„Das Buch des Wissenschaftsjournalisten Matthias Martin Becker bietet mehr, als der sprachlich etwas sperrige Untertitel verspricht. Es enthält nicht nur theoretisches Basiswissen über die kapitalistische Gesellschaftsformation und wie diese ihren Stoffwechsel mit der Natur Schritt für Schritt so sehr schädigt, dass er in der bisherigen Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Vielmehr diskutiert der Autor unter Rückgriff auf zahlreiche wissenschaftliche Studien und konkrete Fälle kapitalistischer Naturzerstörung sachkundig und allgemeinverständlich die Genese der Zivilisationskrise unserer Zeit, wie man ihr beikommen könnte (»ökosozialistische Wirtschaftsplanung«) und wie man gewiss bei ihrer Bewältigung scheitert (»technischer Fortschritt«, Naturbepreisung, Ökomärkte und -steuern). Becker erfindet das Rad nicht neu. Das ist bei einer Art Handbuch für Aktivisten und Einsteiger aber auch nicht nötig. Interessierte Leser werden auf bekannte Thesen und Begriffe der jüngeren sozial-ökologischen und ökosozialistischen Debatte stoßen, die der Autor wohl dosiert einfließen lässt und in einfachen Worten erklärt. Vereinzelt zeigt er auch deren Grenzen auf. So kritisiert er etwa das politische Strategiekonzept eines »Green New Deal« für dessen politische »Beliebigkeit«, seinen »Reformismus« und die »schiefe« Analogie zum historischen »New Deal«. Ohne zu groß ins Theoretisieren abzudriften, führt Becker zudem fachkundig in einzelne Diskussionen zwischen Sozialökologen und Ökosozialisten ein, beispielsweise über die Rolle der Arbeiterklasse im Kampf für Klimagerechtigkeit. Sein Fazit: »Ohne oder gar gegen die Arbeiterklasse ist eine Dekarbonisierung nicht machbar.« Außerdem müssten Arbeiter und Umweltaktivisten »die Arbeit ins Zentrum« ihres Kampfes rücken. Die gegenwärtige, doppelte Krise des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, vor allem in Form der Klimakrise, führt Becker darauf zurück, dass das »neoliberale Wachstumsmodell« in Anschluss an das fordistische ökonomisch erschöpft ist und ökologisch den Raubbau an der Natur auf die Spitze getrieben hat. (…) An mehreren Stellen thematisiert der Autor auch überzeugend, wie der »bürgerliche Umweltschutz« nicht nur Pseudoaktivität zwecks »Greenwashing« ist, sondern auch der Rechten und den Umweltsündern in die Hände spielt. Denn die vorherrschende Umweltpolitik trage durch ihren Fokus auf Steuern, Lebensstiländerungen und auf Schutz der verursachenden Unternehmen statt der Beschäftigten dazu bei, dass Teile der Gesellschaft eine generell ablehnende Haltung gegenüber Umweltpolitik einnähmen. Natürlich handelt es sich bei der Ad-hoc-Ablehnung auch um einen Kurzschluss. Neoliberale Umweltpolitik ist nicht identisch mit Umweltpolitik. Aber »kaum jemand vertraut der politischen Klasse, die den Umweltschutz im Mund führt«, insbesondere wenn er »sozial ungerecht« ist…“ Rezension von Christian Stache in der jungen Welt vom 9. August 2021 zu „Klima, Chaos, Kapital. Was über den Kapitalismus wissen sollte, wer den Planeten retten will“ von Matthias Martin Becker, erschienen 2021 im Papyrossa-Verlag Köln zum Preis von 14,90 Euro (184 Seiten) - Siehe auch die Beiträge zur Strategiedebatte im Dossier: “Fridays for Future”: Schulstreiks für mehr Klimaschutz