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Sudan

„Wenn die jetzt versuchen, im Sudan eine Militärregierung 2.0 zu installieren, dann lautet die Antwort Revolution 2.0“ – ein Interview des LabourNet Germany

Die brotpreisdemos im Sudan - jetzt auch in der Hauptstadt 18.1.2018Nach fünf Tagen Dauer-Belagerung des Hauptquartiers der Armee in der Hauptstadt Khartum – in Nachbarschaft des Präsidentenpalastes gelegen – haben Kräfte, die bisher Bestandteil des Bashir Regimes gewesen sind, den Diktator abgesetzt. Die vieltausendfachen Freudenbekundungen darüber im ganzen Land nahmen gewaltig ab, als die militärische Übergangsregierung sich selbst im Fernsehen vorstellte und schon einmal für zwei Jahre im Amt bleiben wollte, inklusive Ausnahmezustand in den nächsten drei Monaten und einer nächtlichen Ausgangssperre. Durch die Vermittlung von zwei Lesern des LabourNet Germany konnten wir am Abend des 11. April 2019, genauer zwei Stunden vor Beginn der Ausgangssperre mit Hisham Boutawi telefonieren, der lange Jahre als Ingenieur bei der sudanesischen Eisenbahn gearbeitet hat und dort auch gewerkschaftlich aktiv war. Der 63 jährige Hisham (immer in der Hoffnung, die arabischen Namen und Bezeichnungen einigermaßen richtig zu treffen, trotz völliger Unkenntnis der Sprache) lebt in Omdurman, der zweitgrößten Stadt des Sudan, wie er selbst sagt, eigentlich ein besserer Vorort von Khartum. Und er mag nicht daran glauben, dass die ganzen Menschen im Sudan – „so wenig wie in Algerien“ – damit zufrieden sein werden, dass Gesichter ausgetauscht werden und das „System“ bleibt. Und legt Wert darauf, zu unterstreichen, dass er nur seine persönlichen Ansichten vertritt – die allerdings „im Prinzip jedenfalls viele teilen“. Eine zivile Übergangsregierung sei das, was er wolle, fasst er zusammen. Siehe das Interview von Helmut Weiss vom 11. April 2019:

Wie hast Du die Stunden zwischen der Ankündigung der „wichtigen Mitteilung“ die im Fernsehen kommen würde und der Bekanntgabe der Gründung der Übergangsregierung durch die Armee verbracht?

(Lacht) Na ja, so wie wohl fast alle: Immer den Blick auf dieses blöde Standbild und dabei andauernde Debatten darüber, was das zu bedeuten hätte. Wir haben uns dann bei einem Nachbarn getroffen und gemeinsam geschaut und gewartet, wobei es klar war: Je länger das dauert, desto mehr ist es ein Hinweis darauf, dass da verschiedene Gruppen miteinander um Einfluss kämpfen – denn die Absetzung von Bashir war ja da schon klar.

War das wirklich so, dass das allen klar war?

Aber ja doch, warum hätte sonst die Armee irgendetwas verkünden wollen – oder können. Und natürlich habe ich mich gefreut, haben sich alle gefreut – außer den Anhängern Bashirs natürlich, aber die gibt es in Khartum wesentlich mehr, als hier bei uns in Omdurman, da sind die schon seit Tagen auffällig still. Von hier aus sind dann, wie immer in den letzten Tagen, viele, meist jüngere Leute losgezogen, um sich an den Kundgebungen der Freude zu beteiligen. Die es übrigens, wie auch die Proteste in der ganzen Zeit, im ganzen Land gegeben hat – ich zum Beispiel und auch die Familie und die Nachbarn, von denen sich viele beteiligt haben, immer mehr eigentlich, waren nie in Khartum, sondern immer hier vor Ort – zumal ja dann die Losung ausgegeben worden war, kleinere Proteste in den Stadtteilen zu machen.

Zumindest in den internationalen Medien hat sich die Berichterstattung, vor allem seit der Belagerung des Hauptquartiers, weitgehend auf Khartum beschränkt – das entspricht also nicht der Wirklichkeit?

Na ja, teilweise, es war natürlich die mit Abstand größte und auch wichtigste Aktion, und da sind ja auch viele Menschen gestorben, getötet worden, aber es ist überall etwas passiert. Mein Bruder, der auch Ingenieur ist, aber in der Schifffahrt, und in Port Sudan lebt, hat mir erzählt, dass dort die Büros der NCP gestürmt wurden und Akten verbrannt, aber es gab auch Versuche, Gefängnisse zu öffnen oder Geheimdienstleute zu jagen. Versuche, die manches Mal glückten und andere Male nicht, wie es eben so ist. Der Hafen wurde ja auch bestreikt und das immer wieder.

Wenn Du mir jetzt so eine Vorlage gibst, muss ich eine der Fragen loswerden, die ich mir notiert habe: Welche Rolle spielt die Gewerkschaftsbewegung in diesem Kampf gegen das Bashir-Regime?

Oh ja, hast Du ein paar Stunden Zeit? Du weißt ja vermutlich, dass der Sudan traditionell eines der Länder in Afrika ist, in denen es recht starke Gewerkschaften gibt – sehr viel länger schon beispielsweise, als in Südafrika, nur um eine bekannte Gewerkschaftsbewegung zu nennen. Wobei Gewerkschaften und Bewegung in einem Wort schon mal ein eigenes Thema wären, das sich zu diskutieren lohnen würde, aber nicht jetzt. Auf der anderen Seite ist der Sudan immer noch ein Agrarland, das sollte man immer im Kopf haben. Nun ja, da es nun so war, dass seit Jahren die wirtschaftliche Situation der Leute immer schlechter wurde, und auch diese jetzige neue Welle von Protesten fing ja als Protest gegen Preiserhöhungen an, wie wir das schon mehrfach hatten, da war es gleichzeitig auch so, dass Gewerkschaften oder gewerkschaftsähnliche Gruppen – legal oder illegal ist da wirklich egal – eine besondere Rolle spielten, nämlich oftmals als Initiatoren.

Was bedeutet gewerkschaftsähnlich?

Nun, nimm beispielsweise die SPA (Sudanese Professional Association – d. Red.), die ja nun durch ihre vielen Aktivitäten sehr bekannt geworden ist, die ist auf eine Art eine Gewerkschaft und auf der andere Seite zur selben Zeit eine soziale und eine politische Bewegung. Anders als die traditionellen Gewerkschaften auch hierzulande, die sich ja meist auf die Durchsetzung unmittelbarer Interessen konzentrierten. Aber sie ist nicht die einzige, das ganze ist ja immer auch eine Reaktion auf die ewige antigewerkschaftliche Politik des Regimes, auf die ganz unterschiedlich reagiert wurde. Bashir hatte ja als eine seiner ersten Maßnahmen Gewerkschaften faktisch verboten, manche wurden real aufgelöst, andere bestanden mit allen Einschränkungen weiter – die Eisenbahnergewerkschaft im eigentlichen Sinn hat trotz allem nie vollkommen aufgehört zu existieren, da gab es immer eine entsprechende Arbeit, auch illegal.

Einst galten ja die Gewerkschaften im Sudan als von der Kommunistischen Partei geführt – gilt das heute auch noch?

Das galt ja noch nie für alle Gewerkschaften und heute schon gar nicht. Das galt für unsere Gewerkschaft bei der Eisenbahn, da ja, und auch in den Häfen, aber das war es auch vor allem – allerdings große und wichtige Gewerkschaften inmitten eines Meeres von kleinen. Auf die ganze Wechselgeschichte, welches Regime welche Maßnahmen zur Unterdrückung der Gewerkschaften – manchmal auch durch Kooptation – unternahm, gehe ich jetzt nicht ein, sonst dauert das wirklich stundenlang.

Jetzt lass mich dann mal nach der anderen Seite fragen. Also ein Regime wie Bashir und Co, die können sich doch nicht 30 Jahre halten nur mit Mord und Totschlag sozusagen, die brauchen doch auch Anhänger eine, sagen wir mal, Massenbasis. Gab es die und wie kam sie zustande und wurde gesichert?

Die gab es nicht nur, die gibt es noch, das kannst Du ja an den Gesichtern der neuen Junta sehen, die schon ewig zu denen gehörten, die von diesem System profitiert haben. Und da hast Du auch schon den besonderen sudanesischen Zugang zu den heutigen Problemen. Schau, es ist so: Ich bin ziemlich genau gleich alt, wie der unabhängige Sudan, 1956. Und frage mich jetzt einmal, wie viele Jahre ich erlebt habe, in denen es keinen Krieg in diesem Land gab, im Süden sowieso, bis zur Spaltung, aber auch im Westen und überall, immer Krieg. Und ein Militär, das auch jetzt noch mit Geld überschüttet wurde, da kann man gut leben und da bildet sich auch eine Entourage heraus, die mit lebt. Du findest auch hier in Omdurman keine einzige „bessere Straße“ – und hier ist nicht die ärmste Gegend – in der keine Offiziere wohnen – und ich rede von Offizieren, die es gibt, wie Sand am Meer und rede nicht von Soldaten, deren Sold ist gering. Aber das ist ja noch längst nicht alles: Die bürokratischen Apparate, die politischen Parteien des Regierungsbündnisses, die Sondereinheiten der Polizei und erst recht die vielen Milizen, diese besondere Plage des Landes, diese Räuberbanden, alle die lebten von diesem Zustand und lebten gut damit. Und dann gibt es die Fundamentalisten, die vom Regime „kooptiert wurden“, die dürfen doch kleine Mädchen haben – heiraten nennen die das. Mit 10 Jahren verheiratet werden – was glaubst Du, warum überall – und das ist keineswegs plötzlich – überall darauf gezeigt wird, wie viele Frauen sich an den aktuellen Protesten beteiligen und wie heftig? Denn das mit der Kinderheirat ist ja nur ein Beispiel, die Provokation Bashirs – manchmal denke ich, der ist dumm – ausgerechnet zum 8. März großzügig zu verkünden, Frauen würden aus den Gefängnissen entlassen, hat genau so gewirkt: Als ein Schritt, der weitere Proteste provoziert hat. Aber er hat ihnen ihre Scharia gegeben, und das finden die gut – und, da darf man sich nichts vormachen, das gilt auch für viele ganz normale Leute. Und dann gibt es auch noch die ganzen Landverkäufe der letzten Jahre, Land haben wir ja richtig viel und auch viel verkauft und davon haben viele, vor allem eben aus der Bürokratie, profitiert.

Landverkäufe? Wer an wen?

Nun ja, ich hatte ja schon gesagt, der Sudan ist immer noch ein Agrarland. Das zeigt sich in verschiedener Hinsicht – in erster Linie im Überleben der Bevölkerung, hier hat fast jeder was angepflanzt, irgendwo. Das ist wie in anderen Ländern Afrikas auch, würden nur die offiziellen Statistiken gelten, wären wir alle längst tot oder so. Im Sudan musst Du kein „urban gardening“ neu erfinden, das ist, ein bisschen anders, uralt. Aber eben auch das Regime ist auf die Idee gekommen, fruchtbares Land zu haben – kann man verkaufen. Oft genug zwangsweise enteignen, um es an Agrarunternehmen zu verkaufen, die ihre Waren in die Öl-Länder am Golf exportieren, während wir Mehl einführen müssen. An den Verkäufen und auch an den Exportgeschäften kann man sich bereichern, das tun nicht so wenige und die sind natürlich auch eine Stütze für das Regime.

Aber, wenn Du jetzt die Fundamentalisten als Stütze des Regimes bewertest: Es gibt doch auch religiöse Strömungen in der aktuellen Opposition, wie sieht es denn da aus und wie auch da nun bezüglich der vielen beteiligten Frauen?

Nun, der Sudan ist ein religiös geprägtes Land, immer noch, wenn auch viel weniger als früher. Selbstverständlich gibt es dementsprechend auch verschiedene religiös geprägte politische Strömungen, und davon sind auch welche in der aktuellen Oppositionsbewegung aktiv. Aber das ist ja ohnehin, darüber muss man sich voll im Klaren sein, ein Sammelsurium politischer Strömungen, von den Linken über Gutbürgerliche zu Religiösen, Nationalisten, was auch immer, die eine gemeinsame Forderung haben, dass dieses Militärsystem und sein ewiger Krieg aufhören sollen. Und ja, es gibt auch in der aktuellen Protestbewegung direkte Gegensätze, einer davon ist eben der zwischen Frauen, die für ihre normalen demokratischen Rechte kämpfen und kämpfen wollen und jenen, die sich die Frauenunterdrückung auf ihr religiöses Banner geschrieben haben. Und auch in den verschiedenen Regionen des Landes gibt es ein Konfliktpotenzial, das nur von einer zivilen Regierung behandelt werden kann, die nicht personifizierte Kriegsdrohung ist – schließlich haben die im heutigen Südsudan auch nicht als Separatisten begonnen, sondern wollten ursprünglich nur ihre Gleichberechtigung, die man ihnen verweigert hat, das kann man irgendwie mit den Kurden in der Türkei vergleichen.

Das mit dem Militär war ja in anderen arabischen Staaten auch nicht anders, und wenn ich sehe, wo das nebenan, in Ägypten geendet ist, einstweilen jedenfalls, frage ich mich schon, ob das ein Fortschritt wird?

Na ja, wenn es so bleibt, wie sie es jetzt verkündet haben, wird es ganz sicher kein Fortschritt, das ist wirklich Regime 2.0 sozusagen, und darauf muss dann mit einer Revolution 2.0 geantwortet werden, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Das ist dann genau so, wie gerade in Algerien. Lass mich aber auch noch eines sagen: Mir wird schon immer komisch, wenn man unser Land umstandslos als arabisch bezeichnet. Traf früher, als wir noch eins mit dem Süden waren schon gar nicht zu, aber heute auch nicht vollkommen. Und auch Muslime sind nicht alle, sondern geschätzt etwa 70% der Bevölkerung, das sind alles so einzelne Dinge, die man schon beachten muss, wenn man die Entwicklungen in einem anderen Land einigermaßen beurteilen will.

Ja, ich gebe zu, die Schemata wirken weiter, auch wenn man kritisch herangehen will an eine Entwicklung. Aber worauf läuft es hinaus? Was passiert jetzt?

Nun, das wird sich nicht zuletzt heute Nacht zeigen, also wenn die Ausgangssperre in Kraft tritt. Nämlich daran, wie viele sich trauen, dennoch weiter zu demonstrieren – wir werden das nachher tun, und zwar die ganze Nachbarschaft zusammen, darauf haben wir uns im Laufe des Tages vor dem Fernseher geeinigt, es muss sein, die dürfen damit nicht durchkommen, schon gar nicht mit dem Typen da: Die Leute aus Darfur nennen ihn mit vielen guten Gründen den Schlächter, das ist er, der hat dort gehaust und gemordet.

Ich kann ja nicht ganz glauben, dass sich das Weitere bereits in der ersten Nacht entscheidet, meinst Du wirklich?

Nun ja, wenn die sehen, dass viel weniger auf die Straßen kommen, werden sie vielleicht schon versucht sein, das mit einem Blutbad zu beenden. Versuchen, wohlgemerkt und vielleicht gelingt es ihnen sogar – vorübergehend. Denn eines darfst Du nie vergessen, zu dem was ich vorhin gesagt habe, dass ich noch nie Frieden erlebt habe in diesem Land: Ich habe auch noch keine Zeit erlebt, in der es im Sudan nicht größere oder kleinere Proteste gegeben hat, auch wenn sie verboten waren und verfolgt wurden, nie haben die Menschen damit aufgehört, etwas anderes, etwas Besseres zu wollen, wie sie es auch immer für sich bezeichnet haben.

Und wenn diese Junta sieht, dass immer noch gleich viele Menschen auf die Straße kommen, was passiert dann?

Dann wird es eine Art Abnutzungskampf, bei dem sie abwarten, bis sie zuschlagen können. Im Moment würde ich auch jeden internationalen Druck begrüßen, der auf diese Typen ausgeübt wird, denn wir brauchen eine zivile Übergangsregierung nach all den Jahren Militärregierung und Krieg, eine zivile Regierung aus verschiedenen Strömungen und einen Übergang zu einer wirklich demokratischen Gesellschaft für alle, eine ohne jeden Krieg. Dafür muss weiter mobilisiert werden, denn vor allem die jungen Menschen sind noch nicht resigniert, wie viele in meinem Alter es leider sind.

Hisham, vielen Dank für das Gespräch und die vielen Informationen.

Ich bedanke mich für die Gelegenheit, meine Menungen zu verbreiten.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=147320
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