Schwächere Gewerkschaften unter dem Druck von Digitalisierung und Rechtspopulismus
Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 25.11.2018
Auf dem WSI-Herbstforum 2018 (https://twitter.com/hashtag/wsihf18?src=hash&lang=de ) diskutierten Gewerkschafter über die Zukunft der Sozialpartnerschaft, die zwar noch „gepriesen“ wird, aber sehr einschneidend über sein Regelwerk als Tarifvertrag als Gesamtes im Schwinden begriffen ist. (https://www.magazin-mitbestimmung.de/artikel/WSI-Herbstforum+2018%3A+%22Wir+wollen+L%C3%B6sungsschritte+anbieten.%22@7896?issue=7937 )
Vor 100 Jahren – am 15. November 1918 – war das Stinnes-Legien-Abkommen (dazu Anke Hassel (https://www.boeckler.de/wsi_blog_116855.htm ) zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern geschlossen worden (vgl. dazu auch Volker Bahl über das Lohnverhandlungssystem der Weimarer Republik: Verbandsautonomie oder staatlich garantierte Verbandsgarantie: http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1978/1978-07-a-397.pdf ), in diesem Stinnes-Legien-Abkommen wurde vereinbart die Arbeitsbeziehungen durch Tarifverträge zu regeln. (http://www.taz.de/!5552216/ )
Dennoch war auf diesem Herbstforum niemand so recht zum Feiern zumute.
In die Zukunft greifend stand dieses Herbstforum unter dem Motto: „Interessenvertretung der Zukunft“. Da 55 Prozent der Arbeitnehmer heute nicht mehr tarifgebunden sind, – und die Tarifbindung nimmt weiter ab (https://www.iab-forum.de/tarifbindung-der-abwaertstrend-haelt-an/ ) – hat sich die Lohnstruktur in Deutschland insgesamt gespreizt, wie in keinem anderen Land. (Vgl. dazu Stephan Kaufmann und Eva Roth zu dem Problem Armut oder gerechte Ungleichheit: https://oxiblog.de/die-ungleichheit-ist-folge-falscher-politik-ist-das-so-mythen-und-fakten-zur-sozialen-lage-in-deutschland-teil-ii/ oder in ihrer gemeinsamen Studie „Mythen und Fakten zur Ungleichheit“ – als Überblick (https://www.rosalux.de/publikation/id/9150/ ) – und die gesamte Studie (https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Argumente/lux_argu_11_Gerechte_Armut.pdf )
Der WSI-Verteilungsbericht 2018 kann dazu dann nur lakonisch noch feststellen: Verfestigung an den Rändern bei den Einkommen in Deutschland (https://www.labournet.de/?p=139569).
Und ein Schritt zur Prekarisierung: Die Agenda 2010
Obwohl viele der Ansicht sind,das sei der „Schnee von gestern“,darf noch einmal auf den Einschnitt einer radikalen „Liberalisierung“ des Arbeitsmarktes durch die Hartz-Gesetzgebung hingewiesen werden.
Christoph Butterwegge hat sich die Wirkungen dieses Gesetzespaktes noch einmal jetzt ausführlich und sorgfältig vorgenommen („Hartz IV und die Folgen – Auf dem Weg in eine andere Republik) – und am Ende kommt er – so dicht ist die Beweisführung, dass kein Zweifel bleibt – zu dem Urteil: Schröders Agenda stellt ein umfassendes Regierungsprogramm zur Pauperisierung, Prekarisierung und sozialen Polarisierung dar. (http://www.fr.de/kultur/literatur/christoph-butterwegge-hartz-iv-die-grosse-soziale-entsicherung-a-487400 )
Und die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften gingen dazu noch seit 1990 zurück.
Die Rechtfertigung für dieses radikale Lohndumping in Deutschland war die „Legende vom kranken Mann Europas“, die durch den größten Niedriglohnsektor Europas (Schröder) (https://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/Hartz_I- IV_Einfuehrung_groesster_EU-Niedriglohnsektor.pdf ) ökonomisch gerettet werden musste.
Sehr gut hatten die Ökonomen Gustav Horn u.a. wie auch Michael Dauderstädt u.a. Wirkung der Hartz-Gesetzgebung im Zeitverlauf ökonomisch erforscht. (siehe Butterwegge, Hartz IV und die Folgen, Seite 108 f.)
Gustav Horn hatte zusammen mit Camille Logeay und Diego Stapff einen Zyklenvergleich des Konjunkturverlaufs zwischen 1998 und 2000 sowie des Konjunkturverlaufs zwischen 2004 und 2007 vorgenommen, dessen Ergebnisse im Hinblick auf die Arbeitsmarkteffekte der „Agenda“ überraschten: „Zwar ist die Beschäftigung (in Stunden) seit jüngstem sichtbar kräftiger gestiegen als im vorigen Aufschwung, jedoch hat die Zahl der Beschäftigten wegen der Flexibilisierung und Verlängerung der Arbeitszeiten weitaus weniger stark zugenommen als früher.“ (https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_20_2007.pdf )
So blieb als Fazit: Arbeitsmarktreformen zeigen bisher im Aufschwung kaum Wirkung!
Michael Dauderstädt und Julian Dederke haben die ökonomische Entwicklung in den acht Jahren vor der Agenda und den acht jahren nach der Regierungserklärung von Kanzler Schröder miteinander verglichen und dabei festgestellt, dass nur wenige Indikatoren auf positive Veränderungen durch die rot-grüne Reformpolitik hindeuten. (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/09197.pdf )
Zwar waren die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten höher, die Arbeitslosenquote niedriger, die Flexibilität (Zugänge und Abgänge) größer, der Exporüberschuss höher und das Haushaltsdefizit geringer.
Dagegen war die Investitionsquote niedriger, die Produktivitätszunahme geringer, das Reallohnwachstum und die Lohnquote niedriger,die Entwicklung der Lohnstückkosten ungünstiger, sowie die Verteilungsungleichheit (Gini-Koeffizient) höher… (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/09197.pdf )
Und der Aufschwung resultierte aus der starken Auslandsnachfrage dank günstiger Weltkonjunktur… (Zu diesem Problem siehe auch „Globale Ungleichgewichte im Aussenhandel und der deutsche Exportüberschuss“: http://www.bpb.de/apuz/175492/globale-ungleichgewichte-im-aussenhandel-und-der-deutsche-exportueberschuss?p=1 )
So kann man festhalten „Europas kranker Mann“ war Deutschland jedenfalls zu keiner Zeit – und muss als Gedöns qualifiziert werden. (heute sagt man „fake news“)
Es sei nur daran erinnert, dass Deutschland,als Schröder seine Agenda-Rede hielt, die USA bereits als Exportweltmeister abgelöst hatte.
Hartz-IV-Trauma überwinden – Sanktionen überflüssig machen: Das Garantieversprechen des Sozialstaates erneuern!
Nun hatte sich die SPD aufgemacht, das Sozialsystem zu reformieren – parallel mit den Grünen (https://www.tagesschau.de/inland/gruene-hartz-iv-101.html ). Und auch die SPD-Vorsitzende möchte jetzt dass die Sanktionen weitgehend entfallen. (http://www.fr.de/politik/andrea-nahles-spd-stoesst-hartz-iv-debatte-an-a-1623225 )
Und auch der DGB-Chef Reiner Hoffmann fühlt sich missverstanden, wenn er für Sanktionen bei Hartz IV sei. (http://www.taz.de/Gewerkschaften-diskutieren-ueber-Hartz-IV/!5549993/ )
Es gilt eben das „Garantieversprechen des Sozialstaats“ (Robert Habeck) muss erneuert werden. (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/die-gruenen-robert-habeck-abschaffung-hartz-iv )
Und dazu kommt die gleichzeitige politische Unfähigkeit weitere Raubzüge des Finanzkapitals nach der Finanzkrise 2008 (vgl. dazu Finanzkrise als Urmutter: https://www.labournet.de/?p=137510) durch Steuerbetrug politisch zu verhindern.(https://www.linksfraktion.de/themen/dossiers/cum-ex-skandal-geschichte-eines-organisierten-steuerraubs/ )
Aber Stephan Schulmeister sieht auf den Finanzmärkten „ein kommendes Beben“ – mit einem Zusammenbruch des neoliberalen, marktradikalen Dogmas auf uns zukommen. (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wie-wird-der-neoliberalismus-enden ) Lakonisch kann er nur noch feststellen, der Neoliberalismus ist am Ende. In zwei Szenarien denkt er über die Frage nach, ob er laut oder leise gehen wird? (Vgl. auch „Was ist gefährlicher: Die Klima- oder die Finanzkrise?“: https://www.labournet.de/?p=139694)
Kann es dennoch zu einer gemeinsamen Erzählung für Europa kommen?
(https://www.labournet.de/?p=127068)
Die Ausgangslage für Europa ist eine durch die neoliberale Doktrin betriebene Abstiegsgesellschaft. Dennoch muss die jetzt die Grundlage für Reformbemühungen sein. Und allzulange hatte Deutschland das europäische Sozialmodell – kurz zusammengefasst – mit seinem Modell des Exportüberschusses durch deutsches Lohndumping torpetiert. (http://archiv.labournet.de/diskussion/eu/sopo/bahl2.html)
Ein Scheitern des Euro jedenfalls würde enorme Wutenergien freisetzen, kann Schulmeister erkennen. (Vgl. dritter Absatz auf der Seite 3 bei https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wie-wird-der-neoliberalismus-enden )
Dieses Scheitern wird durch die Krise in Italien – nach dem Brexit – in gefährliche Nähe gerückt.
Konnte bei dem relativ kleinen – volkswirtschaftlich gesehen – Griechenland (vgl. Schuld der Griechen an der Finanz- und Eurokrise (https://www.labournet.de/?p=136253 ) noch die Legende gestrickt werden: die Griechen sind schuld! (vgl. dazu Stephan Schulmeister, „Prosperität“, Seite 32 ff. – sowie Rudolf Hickel: http://rhickel.iaw.uni-bremen.de/ccm/homepages/hickel/aktuelles/griechenland–wieder-abhaengig-von-den-finanzinvestoren.de ) – so wird dies bei der Größe einer Volkswirtschaft wie Italien jetzt problematisch.
Wie Hickel feststellt,konnte bei Griechenland noch eine systemische Eurokrise vermieden werden – auch wenn es Griechenland weiter mit dem Heraussparen aus der Krise weiter hin ziemlich „dreckig“ geht – ohne dass dafür eine Lösung angeboten wird.
Dies sollte sich nicht bei Italien wiederholen, denn hier muss die Beschäftigung gesichert werden, das Wachstum gefördert werden und die Gemeinschaftswährung stabilisiert werden, erklärt der DGB. (http://www.dgb.de/themen/++co++6af119ac-ae2a-11e0-7981-00188b4dc422 )
Ökonomisch-fiskalische Argumentation der italienischen Regierung verständlich.
Rudolf Hickel stört deshalb vor allem der dabei so deutlich – populistisch befeuerte – antieuropäischer Kurs der italienischen Regierung. Zunächst hält aber auch er die ökonomisch-fiskalische Argumentation der italienischen Regierung für verständlich. (http://www.dgb.de/themen/++co++01716f6c-d376-11e8-ad79-52540088cada )
Die Konjunktur darf – im Prinzip – nicht durch eine staatliche Schrumpfpolitik belastet werden. (http://rhickel.iaw.uni-bremen.de/ccm/homepages/hickel/aktuelles/italien-und-eu-im-clinch.de ) Der Fiskalpakt (vgl. als Systemkrise: https://awblog.at/fiskalpakt-als-systemkrise/ ) zwingt jetzt eigentlich die EU-Kommission die italienische Variante der Schuldenpolitik nicht zuzulassen, erklärt Rudolf Hickel.
Aber – auch ohne Änderung des Fiskalpaktes? – meint Rudolf Hickel, sollte die EU-Kommission ihre Regeln der Haushaltsdisziplinierung überdenken. Der Fiskalpakt dient nicht der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit. Deshalb sollten zukunftsrelevante Infrastrukturprojekte, die auch künftigen Generationen nützen, bei den Schuldengrenzen gar nicht angerechnet werden.
Aber die aktuelle Gefechtslage zwischen Italien und der EU schätzt Hickel realpolitisch so ein: Italien kann nicht parteiopportunistisch aus der aktuellen Regelungslage aussteigen und die Regeln außer Kraft setzen.
Jetzt muss es zu einer Verständigung mit der EU kommen. Jetzt Strafzahlungen einzutreiben, wäre andererseits eine Katastrophe. Gesucht werden muss ein ein zukunftsfähiger Kompromiss.
Das Regelwerk wird dabei vernünftig – für die ökonomische Entwicklung auch Italiens – umgebaut und Italien hält sich dann auch daran. (http://rhickel.iaw.uni-bremen.de/ccm/homepages/hickel/aktuelles/italien-und-eu-im-clinch.de )
Aber Hickel kennt auch die Unwägbarkeiten eines solche Kompromisszieles: Wie dieser Konflikt aus geht, ist kaum abzusehen. Populismus und Nationalismus sind schwer zu kalkulieren. Rudolf Hickels Sorge ist, die italienische Regierung wird bis an die Grenze eines Austritts aus der EU pokern. Die Folgen eines Wirtschaftskrieges nach der Auflösung des Euro hat ja Stephan Schulmeister zureichend beschrieben. (Vgl. Seite 3 f. „Enorme Wutenergien“: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wie-wird-der-neoliberalismus-enden )
„Digitalisierung“ und Populismus
Diese relativ schwachen Gewerkschaften (als gesamtes nicht als Leuchtürme wie z.B. in der Automobilindustrie mit der IG Metall – vgl. dazu auch in der weiteren IG Metall-Branche (https://www.igmetall.de/schwarz-weiss-buch-tarifbindung-30013.htm ) geraten durch die „Digitalisierung“ wie auch durch den Populismus besonders unter Druck.
Dazu macht jetzt der Übergang zur Digitalisierung den Gewerkschaften Sorgen (vgl. dazu (https://www.labournet.de/?p=137190 – auch Jürgen Urban „Digitalisierung als zweite große Transformation“: https://awblog.at/digitalisierung-als-zweite-grosse-transformation/ ), der noch von einer populistischen Polarisierung (AfD) in den Betrieben (vgl. dazu Dieter Sauer u.a.: https://hpd.de/artikel/arbeitswelt-und-gewerkschaften-afd-und-rechtspopulismus-15661 ) begleitet wird.
Ohne eine weitere – über den bisherigen Mindeslohn hinaus ( (http://www.mindest-lohn.org/ und https://www.boeckler.de/wsi-tarifarchiv_50804.htm ) – sowie das Ringen des DGB um den Mindestlohn (http://www.dgb.de/schwerpunkt/mindestlohn ) – politische, d.h. staatliche Stützung kann das Lohnniveau durch die Gewerkschaften allein nicht geschafft werden (vgl. das WSI-Tarifarchiv (https://www.boeckler.de/index_wsi_tarifarchiv.htm ), – z.B. bei der Tendenz der Arbeitgeber den Verband zu verlassen, um der Gültigkeit von Tarifvertzrägen zu „entkommen“, auch durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (https://www.finanztip.de/tarifvertrag/ und https://www.boeckler.de/veranstaltung_wsi_114317.htm ).
Und doch noch Europa gestalten – trotz Exportüberschuss aus Deutschland
Inzwischen problematisiert auch die Europäische Kommission den fortwährenden Exportüberschuss aus Deutschland, der zur Verschuldung der Importländer führt. Sehr unterschiedliche Bedingungen für die Gewerkschaften in Europa. Aber sehr unterschiedlich gestalten sich die Bedingungen für die Gewerkschaften in Europa. (http://www.iaq.uni-due.de/iaq-forschung/2018/fo2018-05.php )