Anlässlich 100 Jahre Sozialpartnerschaft: Mehr Tarifbindung durch weniger Tarifsubstanz und Steuervorteile?
Dossier
„Rund um das Jubiläum 100 Jahre Sozialpartnerschaft bringen die Unternehmen eine Modularisierung von Tarifverträgen ins Spiel und verkaufen das als Mittel zur Stärkung der Tarifbindung. In Wahrheit würde es das »strukturelle Machtungleichgewicht« zwischen Kapital und Arbeit nur vergrößern. Wie reagieren die Gewerkschaften? (…) Geht man von einer Formulierung des WSI aus, laut der »Tarifverträge als Basisinstitution eines sozial eingebetteten Kapitalismus« gelten können, die »ein wesentliches Instrument zur demokratischen Gestaltung der Arbeitswelt« bieten und einer der wichtigsten Hebel gegen das »strukturelle Machtungleichgewicht« auf dem Arbeitsmarkt (Bundesverfassungsgericht) sind, zeigt der Trend in eine Richtung: in die eines immer mehr »entbetteten« Kapitalismus. Und wenig überraschend ist, dass die Unternehmen auf diesem Weg gern weitergehen wollen. Im Umfeld diverser Feierlichkeiten anlässliche »100 Jahre Sozialpartnerschaft« hat der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände eine »neue Tarifpolitik« gefordert, die dann auch zu mehr Tarifbindung führen könne. In Wahrheit würde sie die Tarifbindung noch weiter unterminieren, und zwar bezogen auf das einzelne Unternehmen selbst. (…) Dass Kramer gemeinsam mit dem DGB-Chef Reiner Hoffmann kurz nach seinem Vorstoß eine gemeinsame Erklärung zu »100 Jahre Sozialpartnerschaft – erfolgreich in die Zukunft« abgegeben hat, könnte vor diesem Hintergrund zu allerlei Nachdenken führen. (…) Ver.di-Chef Frank Bsirske hat nun bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Stinnes-Legien-Abkommens gegen die Baukasten-Vorschläge von Kramer klar Stellung bezogen…“ Artikel von Vincent Körner vom 17.10.2018 im OXI-Blog – siehe dazu Bsirskes „alternative“ Forderungen:
- Unheilige Allianz: Gesamtmetall-Präsident beschwört »Sozialpartnerschaft«. Ausnahmen für Tarifverträge gefordert (»modulare Tarifbindung«)
„Der Präsident des Unternehmerverbands Gesamtmetall, Rainer Dulger, denkt mit Schrecken an die Novemberrevolution: »In der Bevölkerung herrschten Hunger und Not, zugleich hatten die Unternehmer in den revolutionären Wirren eine Verstaatlichung zu fürchten«, sagte er der FAZ (Montagausgabe). Glücklicherweise hätten vorausschauende Gewerkschafter sich mit dem Kapital auf einen Pakt eingelassen: »Hier wurzelt das Grundverständnis der Tarifautonomie, die über so lange Zeit unsere Wirtschaft zum allseitigen Vorteil befriedet hat«, sagte Dulger. Allerdings fühlt sich der Unternehmerpräsident von den »Sozialpartnern« eingeengt; das Tarifsystem ist ihm eine Last – eine »Reform« müsse her. Denn die Tarifpolitik stecke wegen der Digitalisierung und der daraus folgenden individuelleren Arbeitsverhältnisse in einer Phase des Umbruchs. Vielleicht könne man den Umbruch auch partnerschaftlich gestalten? »Wie gut unsere Sozialpartnerschaft in Ernstfällen funktionieren kann, hat sich ja etwa im Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 gezeigt.« Vor zehn Jahren hatte die IG Metall zugestimmt, in vielen Industrieunternehmen auf Kurzarbeit umzustellen. (…) Deshalb beschwört Dulger die gute, alte Sozialpartnerschaft. Der IG Metall bot er an, den Tarifvertrag der Zukunft gemeinsam zu gestalten. Ein diskussionswürdiger Ansatz sei der Vorschlag der »Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände« (BDA): eine »modulare Tarifbindung«, bei der Betriebe anstelle des ganzen Flächentarifs nur einzelne »Bausteine« wählen könnten…“ Beitrag von und in der jungen Welt vom 20. November 2018
- Dialektik des Handschlags: Seit 1918 gilt die »Tarifautonomie« – manchmal ein zweischneidiges Schwert
„Sie wird häufiger beschworen als gelebt: die Tarifautonomie – das Recht der Gewerkschaften und Kapitalverbände, ohne Staatseinfluss Löhne und Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Hatte Letztere 1918 die Angst vor Enteignung bewogen, Gewerkschaften als Partner anzuerkennen, setzen viele Betriebe heute wieder auf Tariflosigkeit. Immer weniger schließen sich den Kapitalverbänden an oder nutzen die relativ neue OT-Mitgliedschaft – »ohne Tarifbindung«. So tragen Unternehmer entgegen allen Beteuerungen aktiv dazu bei, das Tarifsystem zu perforieren. Offenbar verliert ein Teil des historischen Zweckbündnisses das Interesse an Partnerschaft. (…) Wortreich wird überdeckt, wie brüchig das sozialpartnerschaftliche Arrangement ist. Besonders gern wird es hochgehalten, wenn staatliche »Einmischung« droht. Dabei ist Tarifautonomie schon immer relativ. Der Staat setzt nicht nur den Konfliktrahmen, in dem die Interessengegensätze von Kapital und Arbeit ausgetragen werden, er greift selbst direkt ein. (…) Setzt sich diese Entwicklung fort, könnten in 25 Jahren, wenn der nächste Geburtstag der Tarifautonomie begangen wird, wieder viel mehr Tarifverträge bestehen. Nur wären diese dann bloß noch ein Etikett, das nicht mehr hält, wofür Tarifbindung einmal stand: bessere Löhne und Bedingungen. Ein anderer Weg würde die Gewerkschaften stärken, statt Tarifverträge nach Kapitalgeschmack zu konfektionieren. So fordert der DGB von der Bundesregierung, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zu erleichtern, indem die gesetzliche Blockademacht der Kapitalverbände gebrochen wird. Auch eine erweiterte Nachwirkung von Tarifverträgen wäre ein Hebel, eine echte Tarifbindung zu fördern – wie auch wirksame Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen. Mit solchen Gesetzesänderungen könnte das Interesse der Arbeitgeberseite an tariflicher Partnerschaft dann schlagartig wieder erwachen.“ Beitrag von Ines Wallrodt bei neues Deutschland vom 17. November 2018
- Rechtsgutachten: Tarifautonomie durch Steuervorteile stärken [???]
„… Nur wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf Augenhöhe miteinander verhandeln, können sie einen Tarifvertrag abschließen, mit dem beide Seiten gut leben können. Entscheidend dafür ist, dass sie über eine starke Verhandlungsposition und eine breite Mitgliederbasis verfügen. Hier ist auch die Politik gefordert. Sie sollte die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband oder einer Gewerkschaft fördern. Das könnte zum Beispiel durch steuerliche Vorteile geschehen, erklärt Franzen in seinem Gutachten für das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Vor allem auf der Arbeitnehmerseite sind nach Ansicht des Juraprofessors größere Anreize gerechtfertigt. (…) „Die Steuerprivilegierung rechtfertigt sich aus der überragenden Bedeutung der Tarifautonomie für die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung Deutschlands“, schreibt Franzen. Die hierdurch verursachten Steuerausfälle seien für den Staat verkraftbar. Der Berechnung des Experten zufolge würde der Fiskus jährlich 1,2 bis 1,6 Milliarden Euro weniger einnehmen. Auf der anderen Seite hätten dadurch gerade Arbeitnehmer mit mittlerem Einkommen einen „spürbaren Entlastungseffekt“. Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 23. Oktober 2018 , zu den Details siehe die 86-seitige Studie „Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt“ von Martin Franzen und unseren Kommentar:- Wie kommt Martin Franzen auf die Idee, dass staatliche Eingriffe in die Tarifautonomie im Interesse der abhängigen Beschäftigten wären? Gerade was das Streikrecht betrifft, erhöhen solche Steuervorteile nur die Erpressbarkeit der Gewerkschaften durch den Staat. Was aus gewerkschaftlicher Sicht vor allem erforderliche wäre, ist die Legalisierung des politischen Streiks, weil der Gesetzgeber permanent eklatant in das eingreift, was nach Art. 9 GG den Gewerkschaften vorbehalten sein soll: Die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“.
- 100 Jahre Tarifautonomie – Bsirske fordert Privilegierung tarifgebundenen Arbeitsentgeltes
„Aus Anlass des 100–jährigen Bestehens der Tarifautonomie in Deutschland hat der Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) Frank Bsirske beim heutigen Festakt in Berlin die überragende Bedeutung der Tarifautonomie für die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung in der Bundesrepublik hervorgehoben und Verbesserungen angemahnt. Gerade angesichts der dramatischen Tarifflucht vieler Unternehmen sei es an der Zeit, die Tarifbindung deutlich zu stärken. So sprach sich Bsirske dafür aus, „einen Teil des tarifgebundenen Arbeitsentgeltes steuerfrei zu stellen und einen neuen Steuerfreibetragstatbestand vorzusehen, der etwa in der Größenordnung des drei- bis vierfachen des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrages bei einem Durchschnittseinkommen liegen sollte“. Dies entspräche einer Größenordnung von 1.300 bis 1.700 Euro im Jahr für Gewerkschaftsmitglieder. „Eine solche Regelung würde es tarifgebundenen Arbeitgebern ermöglichen, vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels mit der Tatsache zu werben, dass in ihren tarifgebundenen Betrieben Arbeitnehmer am Ende mehr rauskriegen als in anderen Unternehmen, die nicht tarifgebunden sind. Insofern ginge von einer solchen Regelung auch ein Anreiz zugunsten einer Tarifbindung des Arbeitgebers aus“, so der ver.di-Vorsitzende…“ ver.di-Pressemitteilung vom 16.10.2018
- Der Widerspenstigen Zähmung. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände erneuern ihre Sozialpartnerschaft – warum eigentlich?
„Es ist eine auf den ersten Blick innovative Forderung, die ver.di-Chef Frank Bsirske aufstellt. Er spricht sich für einen neuen Steuerfreibetrag für Gewerkschaftsmitglieder in tarifgebundenen Unternehmen aus. Konkret würde das einem Betrag von 1300 bis 1700 Euro im Jahr entsprechen. Die Forderung ist Konsens im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). (…) Ingo Kramer warb in der »FAZ« vorige Woche für eine Neuausrichtung der Tarifpolitik. Es sollten verstärkt »modular aufgebaute Tarifverträge« vereinbart werden: Unternehmer sollten nehmen, was sie für ihren Betrieb als passend erachten; beispielsweise den Entgelttarifvertrag – ohne an den Manteltarifvertrag gebunden zu sein, der die Arbeitsbedingungen regelt. Das könne auch ein Weg gegen den Mitgliederschwund der Verbände sein. Der Flächentarifvertrag ist den Verbänden lange schon ein Dorn im Auge. (…) Nicht nur Unternehmerverbände, auch die Gewerkschaften verlieren seit Jahren Mitglieder. Damit wird es für sie schwerer, Tarifverträge durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einem Steuerfreibetrag für Gewerkschaftsmitglieder zu sehen. Beschäftigte hätten einen Anreiz, sich zu organisieren, Unternehmen einen, Tarifverträge abzuschließen, um mit guten Arbeitsbedingungen um Fachkräfte zu werben. Bei der BDA findet der Vorstoß dennoch wenig Gegenliebe: »Subventionen für Sozialpartnerschaft lehnen wir ab, die Sozialpartner müssen sich aus sich selbst heraus fort- und weiterentwickeln. Das ständige Rufen nach Staatshilfe wirkt weder selbstbewusst, noch ist es ein Beitrag, irgendeine Herausforderung zu bewältigen«, heißt es auf nd-Anfrage…“ Artikel von Jörg Meyer vom 18.10.2018 beim ND online
- Siehe in dem Zusammenhang auch: 100 Jahre »Sozialpartnerschaft« – 100 Jahre zu viel