100 Jahre »Sozialpartnerschaft« – 100 Jahre zu viel
Dossier
„Da ist eine große Feier angesetzt, mit Bundespräsident und pipapo: 100 Jahre Sozialpartnerschaft. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände klopfen sich im Historischen Museum zu Berlin gegenseitig auf die Schulter. So ist am 16. Oktober 2018 ein Dokument der Zeitgeschichte entstanden, das belegt, wie abgehoben, wie weltfremd, wie gefangen in neoliberalen Denkstrukturen zumindest auch große Teile der deutschen Gewerkschaften sind – nach 100 Jahren ein weiteres „historisches Ereignis“. Der Anstoß für das „Stinnes-Legien-Abkommen“ kam damals aus dem Unternehmerlager. Dort hatte man Sorgen wegen der revolutionären Forderungen der Arbeiter. Dagegen wollte man eine Mauer bauen, dafür brauchte man „einsichtige“ Gewerkschafter. Die Unternehmer boten die „Sozialpartnerschaft“ an, um „Sozialisierung“ zu stoppen. So wollten sie verhindern, sich für ihre Mitverantwortung für den Krieg verantworten zu müssen. Das hat man nun 2018 gefeiert, statt nüchtern die Entwicklung aufzuarbeiten und die aktuelle Situation zu betrachten. Dieses Abkommen von 1918 hat die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nicht gestärkt – und es hat 1933 und die Folgen nicht verhindert. Ist der DGB aus der Zeit gefallen, hat man den Schuss nicht gehört? (…) Die Gewerkschaftsführungen müssten doch wissen, wie Sozial-„Partnerschaft“ heute aussieht: ein Zerfall der Tarifverträge, Löhne, die der wirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinken, versteckte Arbeitslosigkeit, zunehmende Teilzeitarbeit, Arbeit auf Abruf, Millionen unbezahlter Überstunden, immer mehr unsichere Arbeitsplätze, Rentenkürzung in großem Stil, Wohnungsnot, Lehrermangel, nicht zuletzt das menschenverachtende Hartz-IV-Regime. Wissen wir nicht, dass das Unternehmerlager das Streikrecht gern noch weiter einschränken würde? Wir wissen doch, dass die Unternehmen mit der bereits angelaufenen „technischen Revolution“ auch das Arbeitsleben „revolutionieren“ möchten, aber gewiss nicht in unserem Sinne; sondern hinter den angekündigten „neuen Freiheiten“ neue Abhängigkeiten entstehen. Erleben wir statt sozialem Ausgleich nicht eher eine Zeit der Diktatur der Renditeerwartungen des Kapitals?…“ Beitrag von Hermann Zoller vom 17. Oktober 2018 bei den Nachdenkseiten : „100 Jahre „Stinnes-Legien-Abkommen“ – Eine traurige Veranstaltung von DGB und Arbeitgeberverbänden“ (Zoller arbeitet seit Jahrzehnten für Arbeitnehmer und ihre Interessen. Er war bei der IG Medien lange Jahre für Öffentlichkeitsarbeit zuständig). Siehe dazu auch den DGB und weitere Kritik:
- Eine Vernunftehe. Vor 100 Jahren wurde mit dem Stinnes-Legien-Abkommen die »Sozialpartnerschaft« beschlossen. Sie hat bis heute Bestand
„… In Wahrheit wurde die Sozialpartnerschaft in Deutschland schon zwei Jahre zuvor besiegelt. In den Verhandlungen um das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst, das am 5. Dezember 1916 erlassen wurde, konnten Sozialdemokraten und Sozialliberale durchsetzen, dass in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten Arbeiter- und Angestelltenausschüsse gebildet wurden. Damit war die bisherige Herr-im-Haus-Stellung der Industriekapitäne stark beschnitten, denn diese wurden dazu verpflichtet, ihrer Belegschaft Auskunft über Lohn- und Beschäftigungsfragen sowie über die Lage des Betriebs zu geben. (…) Diese Zugeständnisse konnten die Oberste Heeresleitung (OHL) und die Regierung ohne Sorge machen, denn die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei hatten sich schon 1914, als das deutsche Kaiserreich der Welt den Krieg erklärte, als »vernünftig« erwiesen und erklärt, nun sei die Stunde gekommen, das Vaterland zu verteidigen. Mehr noch, es war für den deutschen Imperialismus, der seit Anbeginn des Krieges mit großer Arbeitskraftfluktuation zu kämpfen hatte, elementar, einen Ansprechpartner im Betrieb zu haben, der dabei half, die Arbeitskraft zu mobilisieren. (…) Wo die Arbeiter mit sozialpolitischen Maßnahmen nicht vom Revolutionskurs abgebracht werden konnten, half Gewalt. Der Januaraufstand und einige Räterepubliken wurden von Freikorps niedergemacht, unter anderem finanziert von Hugo Stinnes, dem Stammvater der Sozialpartnerschaft. Getrieben von den Klassenkämpfen, schlossen Kapital und Gewerkschaften eine Vernunftehe. So sollte der revolutionären Bewegung das Rückgrat gebrochen werden. Die beiden »Eheleute« wurden zu »Sozialpartnern« auf 100 Jahre gemacht.“ Artikel von Arvid Schilde in der jungen Welt vom 10.11.2018
- 100 Jahre Sozialpartnerschaft und „Volksgemeinschaft“
„… Es ging etwas unter, als am 16.10. 2018 der Gewerkschaftsbund DGB und der Unternehmerverband BDA das 100-jährige Jubiläum jenes Stinnes-Legien-Abkommens feierten, das eine wesentliche Ursache für die Niederlage der Novemberrevolution war. Mit dem Abkommen wurde nach Meinung der Befürworter die „Sozialpartnerschaft“ in die Wege geleitet. Man könnte aber polemisch auch von „100 Jahre Volksgemeinschaft“ reden. Denn in diesem Abkommen wurde dem Klassenkampf eine Absage erteilt und die Gewerkschaften stellten die Arbeiter zum Ausgleich für einige sozialpolitische Zugeständnisse unter das Kommando des Kapitals. Die Gewerkschaften hatten ihr Hauptziel erreicht, vom Sozialpartner Kapital anerkannt zu werden. Dafür gehörten sie zu den größten Gegnern der Räte, die sich nach der Revolution am 9. November 1918 überall in Deutschland spontan bildeten. Kaum waren diese auch mit Unterstützung der Freikorps blutig niedergeschlagen worden, wollte das Kapital auch von den Zugeständnissen nichts mehr wissen, die sie im Stinnes-Legien-Abkommen der vorrevolutionären Situation geschuldet noch machen mussten. Bald setzen führende Kapitalfraktionen auf den Nationalsozialismus, der die Volksgemeinschaft ganz ohne Zugeständnisse terroristisch gegen diejenigen durchsetzte, die wie die Juden nicht dazu gehören durften oder wie linke Oppositionelle nicht dazu gehören wollten. Doch die Wesensverwandtschaft zwischen Sozialpartnerschaft und Volksgemeinschaft konnte nie verdeckt werden. Trotzdem hat der DGB-Vorstand 100 Jahre nach der Novemberrevolution nichts Dringlicheres zu tun, als mit dem BDA die eigene freiwillige Unterwerfung unter die Interessen von Staat und Nation zu feiern. Und es gab nicht einmal größere wahrnehmbare Proteste…“ Beitrag von Peter Nowak vom 22. Oktober 2018 bei Telepolis
- Der Widerspenstigen Zähmung. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände erneuern ihre Sozialpartnerschaft – warum eigentlich?
„… 100 Jahre Erfolgsgeschichte also? Mitnichten, hiesige Arbeitsgerichte haben immer noch mit Kündigungen von Streikenden zu tun; die Tarifbindung sinkt seit Jahren; Unternehmen wie Ryanair, Amazon oder Zalando wehren sich mit Händen und Füßen gegen den Tarifvertrag. Das sieht in vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht besser aus. Und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten meldete jüngst, dass die öffentliche Hand im vergangenen Jahr Niedriglöhne mit 4,2 Milliarden Euro aufstocken musste – letztlich eine staatliche Lohnsubventionierung…“ Artikel von Jörg Meyer vom 18.10.2018 beim ND online
- Konsens statt Klassenkampf. DGB und BDA gratulieren sich zu 100 Jahren »Sozialpartnerschaft«. Bundespräsident feiert antisozialistischen Pakt als »historisches Ereignis«
„… für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein »wahrhaft historisches Ereignis«, von dem, wie er bedauernd hinzufügte, »nicht mehr viele« in Deutschland wüssten. Leider, denn damals sei eigentlich die Weiche in Richtung »Wohlstand«, »Demokratie« und »soziale Marktwirtschaft« gestellt worden. Man solle sich doch nur einmal Länder anschauen, in denen diese »Sozialpartnerschaft« nicht so »ausgeprägt« sei – »wilde Arbeitskämpfe« und »politische Streiks«. Steinmeier erwähnte selbstverständlich nicht, was dieses Abkommen eigentlich ausmachte: In den ersten Tagen der deutschen Revolution von 1918/19, als der alte Staatsapparat gelähmt war, suchten die Industriellen nach handlungsfähigen Verbündeten gegen die radikale Arbeiterbewegung. Sie fanden sie in den Gewerkschaftsführern, die in vier Jahren Krieg viel Erfahrung bei der Bekämpfung der Antikriegsopposition gesammelt hatten. Diese Funktionäre wurden nun schnell und nicht ohne Geschick als »Vertreter« der Belegschaften »anerkannt«; den Achtstundentag gab es dazu, denn der war immer noch besser als der Sozialismus. Das war nach dem August 1914 die nächste strategische Parteinahme der Gewerkschaftsbürokratie für Kapital und Klassenstaat. Steinmeier nannte diesen Vorgang »unglaublich mutig«. Jemand muss ihm erzählt haben, dass sich die Revolution insbesondere gegen die Gewerkschaften gerichtet hat (…) Die deutsche Kapitalistenklasse muss nicht nach dem Staat rufen, um mit den Gewerkschaften fertig zu werden. Es hat sich – das dürfte vielen Gewerkschaftsfunktionären schon lange klar sein – nicht wirklich gelohnt, der Eigentumsordnung 1918/19 das Leben zu retten. Sie würden es beim nächsten Mal aber sicher wieder tun.“ Artikel von Nico Popp in der jungen Welt vom 17.10.2018
- Siehe in dem Zusammenhang auch: Anlässlich 100 Jahre Sozialpartnerschaft: Mehr Tarifbindung durch weniger Tarifsubstanz?