Das gesellschaftliche Echo auf das NSU-Urteil ist eindeutig: Die Legende vom „mörderischen Trio“ ist unhaltbar!
Die Bundesregierung ließ mitteilen, sie fände Prozess samt Urteil richtig gut. Der leitende Staatsanwalt im Verfahren (von dem nicht wenige sagen, es habe unter seiner Leitung gestanden) ebenfalls, er fand die Trio-Legende bestätigt. Das war es aber auch schon an rundweg positiven Bewertungen des Prozesses und des Urteils. Weitgehend alle anderen Äußerungen lassen sich unter der Losung des Tag X zusammenfassen: Das darf kein Schlussstrich sein. Gefordert wurde dies nicht nur von den Angehörigen der Opfer – die in den Jahren seit den Morden immer wieder ihre üblen Erfahrungen mit den bundesdeutschen Behörden öffentlich machten – und den Anwälten der Nebenklage, die so umfassend die Legenden der Staatsanwaltschaft dekonstruierten, sondern auch von dem breiten Feld antifaschistischer und demokratischer Initiativen, Gruppen und Organisationen, die nicht nur am Tag X mobilisierten, sondern ebenfalls über Jahre hinaus. Eine Bewegung, die immerhin so stark war, dass auch jene Kräfte in der BRD, die etwa die Rolle des Verfassungsschutzes beim NSU unter dem Stichwort „Versagen“ kosmetisch bearbeiten wollten und wollen, Verfahren und Prozess kritisierten, zumindest als „nicht ausreichend“. Siehe zur Reaktion auf das Münchner Urteil unsere aktuelle Materialsammlung „Das Echo heißt: Kein Schlussstrich!“ vom 13. Juli 2018:
Das Echo heißt: Kein Schlussstrich!
a) Die Reaktion von Bundesregierung, Behörden und Ausland: Zugeständnisse an wachsende Kritik
„Bundesregierung lobt gründliches Verfahren“ am 12. Juli 2018 beim Deutschlandfunk meldet: „Nach Abschluss des NSU-Prozess ist die Arbeit des Oberlandesgerichts München von der Bundesregierung gewürdigt worden. Ihre Sprecherin Fietz sagte in Berlin, man erachte es als richtig und wichtig, dass das Verfahren mit großer Gründlichkeit geführt worden sei. Ein Sprecher des Justizministeriums blickte kritisch auf die anfänglichen Fehler in den Ermittlungen und sprach von Behördenversagen…“
„“Die Akte NSU wird nicht geschlossen““ am 11. Juli 2018 bei der tagesschau ist ein Interview von Gerhard Leitner mit Generalbundesanwalt Peter Frank, in dem dieser bereits einige Unterschiede zu seinen Verfahrenskollegen aufscheinen lässt – in seiner Antwort auf die Frage nach der Kritik der Anwälte der Nebenklage und den an verschiedenen Stellen vermuteten rund 1.000 UnterstützerInnen des NSU : „Wir haben in langen und umfangreichen Ermittlungen sehr viele Zeugen vernommen, sehr viele Beweisgegenstände erhoben. Aber auch für uns sind nach diesem Prozess, nach dieser Hauptverhandlung noch Fragen offen – Fragen, die auch seitens der Nebenklage der Angehörigen der Opfer gestellt wurden. Deswegen schließen wir die Akte des NSU nicht. Wir haben auch während des Prozesses unsere Ermittlungen zur Struktur des NSU fortgeführt. Das ist für uns heute deswegen auch kein Schlussstrich. Wir müssen aber immer Vermutungen von Fakten, von eindeutigen Tatsachen und Beweisen trennen. Wir als Ermittler und ich als Generalbundesanwalt habe die Aufgabe, Ermittlungen nur auf faktenbasierenden Tatsachen zu führen…“
„Ombudsfrau John fordert Enquete-Kommission“ am 12. Juli 2018 beim Deutschlandfunk ist auch eine Meldung, die Zugeständnisse an die Kritik deutlich macht: „Die Familien der Opfer hätten in dem Verfahren nicht erfahren, wie die Helfershelfer des rechtsextremen Trios gewirkt hätten, sagte John im Deutschlandfunk. Das bleibe vollkommen im Dunkeln. Zugleich lobte sie, dass die Bundesanwaltschaft in zwei Fällen die Ermittlungen weiterführe. „Das sei das Beste, was man machen könne“, so John. Auch die frühere Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger erwartet nach der Verurteilung von Beate Zschäpe weitere Ermittlungen. Die FDP-Politikerin sagte der in Düsseldorf erscheinenden „Rheinischen Post“, die Ermittlungen müssten wegen des rechtsextremistischen Umfelds weitergehen. Auch die Verantwortung des Verfassungsschutzes sei aufzuklären…“
„„Rechtsextreme Untergrundkultur““ von Jürgen Gottschlich am 12. Juli 2018 in der taz ist ein erster Überblick über ausländische Reaktionen auf das Urteil, worin es unter anderem – neben der Wiedergabe der Positionen vor allem der Regierung der Türkei – über die Berichterstattung in der europäischen Presse anhand des britischen Guardian heißt: „Lediglich der Guardian geht kritischer mit dem Prozess und vor allem mit der Berichterstattung in den deutschen Medien um. „Statt zu untersuchen, warum die rechtsextremen Mörder so lange unentdeckt blieben“, heißt es, „berichteten die meisten deutschen Medien reißerisch über den NSU und insistierten, dass er nur aus drei Personen bestand, allen voran der Spiegel, der mit einer Geschichte über die ‚eiskalte Präzision‘ der ‚Braunen Armee-Fraktion‘ aufmachte.“ Für die Medien seien es Bonnie und Clyde und Clyde gewesen – mit schlüpfrigen Anspielungen auf eine Ménage-à-trois, schreibt der Guardian. Die Bedeutung des Gerichtsverfahrens sei aber viel größer als das, was Zschäpe über die Mordserie wusste oder nicht. Deutschlands Selbstverständnis habe vor Gericht gestanden: „Was die Staatsanwaltschaft herausgefunden hat, deutet darauf hin, dass Deutschland – eine Nation, die darauf stolz ist, die dunklen Winkel seiner Vergangenheit gewissenhaft konfrontiert zu haben – eine blühende rechtsextreme Untergrundkultur unangetastet gelassen hat.“…“
b) Stellungnahmen, die sich konkret auf das Urteil beziehen
„Presseerklärung von Nebenklagevertreter*innen zum Ende des NSU-Verfahrens“ am 11. Juli 2018 auf dem Blog der Nebenklage unterstreicht vor allem: „Wir als Nebenklagevertreter*innen erklären für unsere Mandant*innen: Wir sind nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend über das Urteil. Nicht nur, weil die Angeklagten Eminger und Wohlleben deutlich niedrigere Strafen erhalten haben, als es die Bundesanwaltschaft gefordert hatte. Viel schlimmer ist für die Nebenkläger*innen, dass das Urteil ein Schlussstrich sein will. Das Gericht stellt den NSU als abgeschottetes Trio dar, das bereits vor dem Untertauchen seine Entscheidungen alleine traf. Es spricht auch die Ermittlungsbehörden davon frei, dass sie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach deren Untertauchen hätten finden können und müssen. Den Verfassungsschutz und die strukturell rassistischen Ermittlungen zu Lasten der Angehörigen der Opfer erwähnt es gar nicht. Wie das Gericht zu seinen Feststellungen kommt, ist nicht nachvollziehbar. Sie sind durch die Erkenntnisse in der Beweisaufnahme, aber auch in den Untersuchungsausschüssen widerlegt. Dieses Urteil ist daher alles andere als ein Erfolg der rechtsstaatlichen Justiz gegen Einflussnahmen von außen. Denn das Gericht hat insoweit gerade nicht akribisch Erkenntnisse aus einer umfassenden Beweisaufnahme ausgewertet. Zum Beispiel stellte das Gericht fest, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe “zu dritt und ohne weitere Personen” Anschläge planten, ausspähten und durchführten. Dabei hatte das Gericht die Beweisaufnahme auf diese Frage nach weiteren Unterstützern, u.a. an den Tatorten, gar nicht erstreckt. Soweit die Beweisaufnahme Teil-Erkenntnisse zum Netzwerk des NSU erbracht hat, hat das Gericht diese entweder ganz ignoriert oder sogar das Gegenteil des Festgestellten behauptet. Mit seinem Urteil hat sich das Oberlandesgericht damit im Sinne der Staatsräson als Staats-Schutz-Senat im Wortsinne betätigt. Unerträglich ist für die Angehörigen der Mordopfer und die Opfer der Sprengstoffanschläge, dass die milde Strafe gegen den Angeklagten Eminger, der in der Hauptverhandlung keinen Hehl aus seiner fortdauernden nationalsozialistischen Haltung gemacht hat, als Bestätigung seines Auftretens aufgefasst werden muss…“
„Viel mehr als nur eine Gehilfin“ von Dr. Christian Rath am 11. Juli 2018 bei Legal Tribune Online zum Urteil gegen Zschäpe: „Das Gericht ging von einer Mittäterschaft Zschäpes an all diesen Taten aus. Sie wurde also nicht nur als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilt und auch nicht nur als Gehilfin der Männer. Zschäpe habe sich vielmehr gemeinsam mit Mundlos und Böhnhardt entschlossen, „Menschen aus rassistischen Gründen oder als Repräsentanten des Staates“ zu töten. Zwar sollten die Taten vor Ort von den „sportlich durchtrainierten Männern“ begangen werden. Zschäpe habe aber auch „wesentliche und unverzichtbare Tatbeiträge“ geliefert, so der Vorsitzende Richter Manfred Götzl in seiner knapp vierstündigen Urteilsbegründung. Einerseits wurden Zschäpe verschleiernde und logistische Tätigkeiten zur Last gelegt. So sollte sie nach außen eine „harmlose Legende“ liefern. Sie besorgte falsche Ausweise und „Kommunikationsmittel“ auf falsche Namen. Sie war an der Verwaltung der Gruppenfinanzen beteiligt und an der Beschaffung einer Waffe. Auch die Ausspähung möglicher Tatorte habe sie mindestens einmal übernommen (an einer Berliner Synagoge)…“
„Die Neonazi-Szene hat ihren Helden“ von Konrad Litschko und Andreas Speit am 12. Juli 2018 in der taz zum Urteil „gegen“ den bekennenden Nazi: „Es schien, als könne André Eminger sein Glück nicht fassen. Reihum hatte Richter Manfred Götzl am Mittwoch das Strafmaß der fünf Angeklagten im NSU-Prozess verkündet. Dann kam der 38-Jährige an die Reihe: zweieinhalb Jahre Haft, gibt ihm Götzl. Die geringste Strafe. Auf der Empore brachen eigens angereiste Neonazis in Jubel aus, klatschten. Götzl mahnte sie zur Ruhe, raus schmiss er sie nicht. Eminger aber drückte nur fest die Hand seiner Frau Susann, die neben ihm Platz nehmen durfte. Mit dieser Milde hatte er wohl selbst nicht gerechnet. Das Strafmaß für Eminger war die große Überraschung der Urteilsverkündung im NSU-Prozess am Mittwoch. Und sie hallt nach. Denn Eminger war die engste Bezugsperson des abgetauchten Trios Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Er half ihnen bis zum Schluss im November 2011. Die Bundesanwaltschaft hatte für Eminger denn auch zwölf Jahre Haft gefordert – und ihn im September wegen Fluchtgefahr in U-Haft nehmen lassen. Und nun das: zweieinhalb Jahre. Mehr nicht. Und am Ende des Prozesstags hob Richter Götzl auch den Haftbefehl von Eminger auf. Der verließ das Gericht als vorerst freier Mann…“
„NSU-Urteil gesprochen, viele Fragen offen“ am 12. Juli 2018 ist eine dpa-Meldung (hier bei SZ Online), die sozusagen den Gesamttenor vorgibt: „Lebenslang für Beate Zschäpe, zehn Jahre für den Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben, vergleichsweise milde Strafen für die drei anderen Angeklagten: Mit diesen Urteilen ist der Prozess um die Verbrechensserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ nach gut fünf Jahren zu Ende gegangen. Doch viele Fragen sind noch offen. (…)E. bleibt deshalb wie die Mitangeklagten Holger G. und Carsten S. auf freiem Fuß, bis das Urteil rechtskräftig ist – dann wird weiter entschieden. E. wurde am Mittwochabend auf eigenen Wunsch noch einmal im Polizeikonvoi mit Zschäpe und Wohlleben zur JVA München-Stadelheim zurückgebracht. Einer der Gründe war, dass er – nach Worten seines Verteidigers bekennender „Nationalsozialist“ – nicht über den Vorplatz des Gerichts spazieren wollte, wo einige Hundert Demonstranten gegen Rechtsextremismus protestierten. Und er wollte seine Sachen holen. (…)Was macht eigentlich der Vorsitzende Richter Manfred Götzl jetzt? Götzl wird voraussichtlich Mitte des kommenden Jahres pensioniert. Nun wurde bekannt, dass er zum Ende seiner Laufbahn Vizepräsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts werden soll. Dieses Gericht war 2006 abgeschafft worden, wird nun aber wieder neu errichtet. Und was machen die Angehörigen der NSU-Opfer? Die klagen weiter: Ende 2016 wurde beim Landgericht Nürnberg eine so genannte Staatshaftungsklage eingereicht. Sie richtet sich gegen die Bundesrepublik sowie Thüringen und Bayern, die im Erfolgsfall Schadenersatz zahlen müssten. Die Klage gegen Thüringen ruht nach Angabe von Anwalt Mehmet Daimagüler im Augenblick, weil das Land Aufarbeitung versprochen habe. Drei Familien stehen hinter der Klage, die laut Daimagüler bis vor den Bundesgerichtshof und letztlich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen könnte. Bei der Klage geht es um Ermittlungsfehler und die Rolle des Verfassungsschutzes. Mit Staatshaftung ist die Verantwortlichkeit des Staates für Schäden gemeint, die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Ausübung ihres Amtes verursacht haben…“
c) Die Reaktionen der Betroffenen
„Es ist geschafft“ von Konrad Litschko und Andreas Speit am 11. Juli 2018 in der taz über die Reaktion vor allem von Gamse Kubaşık auf das Urteil: „Für Gamze Kubaşık aber ist nichts vorbei. Schon zwei Tage zuvor war sie nach München gereist, mit ihrer Mutter Elif und ihren zwei Brüdern. Bereits am 6. Mai 2013, als der Prozess eröffnet wurde, saß Kubaşık im Saal. Immer wieder besuchte sie auch dazwischen das Verfahren, zuletzt im November, als sie persönlich ein Plädoyer hielt. Nun wollte Gamze Kubaşık dabei sein, wenn der Staat sein Urteil spricht über den Mord an ihrem Vater. Wollte Beate Zschäpe ein letztes Mal ins Gesicht schauen. Gamze Kubaşık ist bei Weitem nicht die Einzige, die trotz langer Anreise heute nach München gekommen ist. Schon in der Nacht stellen sich Zuschauer und Journalisten vor dem Justizgebäude an, türkische Konsulare sind darunter. Nur ein Teil der Wartenden wird es später in den Saal schaffen. Darunter ist auch das Dutzend Neonazis, darunter bekannte Gesichter, teils wegen Gewaltdelikten verurteilt. Demonstrativ präsentieren sie sich in schwarzen Hemden – wie auch die zwei Angeklagten André E. und Ralf Wohlleben. Beide hatten im Prozess offen ihre Gesinnung verteidigt. Nun winken sie lächelnd nach oben auf die Empore. (…)Neben Gamze Kubaşık sind viele Opferangehörige gekommen. Da sind die Eltern von Halit Yozgat, die Kinder von Theodoros Boulgarides, die Tochter von Enver Şimşek, angereist mit ihrem Baby aus der Türkei. Auf ihren Gesichtern liegt eine gedrückte Spannung, als sie am Morgen den Saal betreten. (…)Sie habe „viel Hoffnung“ in den Prozess gehabt, betont die junge Mutter deshalb. Nun aber seien ihre Fragen immer noch nicht beantwortet. Warum wurde gerade ihr Vater ausgesucht? Gab es Helfer in Dortmund? Laufen sie noch heute dort herum? Und hätte der Staat die Morde nicht doch verhindern können? Tatsächlich hatte der Prozess keine dieser Fragen klären können, trotz fünfjähriger Dauer. Das konnte er auch nicht, sagt die Bundesanwaltschaft. Es ging schließlich nur um die Schuld der fünf Angeklagten. Gamze Kubaşık aber reicht das nicht. Es habe „hundertprozentig Helfer“ gegeben, sagt sie. Sie müssten endlich ermittelt werden…“
„“Haben hier ein System“: NSU-Opfer hoffen auf weitere Klage“ vom 12. Juli 2018 ist eine weitere dpa-Meldung bei SZ Online , worin es unter anderem heißt: „Anwalt Mehmet Daimagüler, der die sogenannte Staatshaftungsklage federführend betreut, bemängelte den Umgang mit Ermittlungsfehlern. „Das Gerede von Sicherheitspannen, von Ermittlungspannen, das ist eine Verniedlichung und Verharmlosung des Geschehenen“, sagte er. „Was wir hier haben, ist ein System.“ Das Bundesjustizministerium hatte am Vortag „Behördenversagen“ eingeräumt. Trotz gegenteiliger Hinweise und aus Mangel an Belegen habe die Polizei jahrelang die Toten und ihr Umfeld verdächtigt, sagte Daimagüler. 150 Zeugen aus dem Polizeidienst, die an den Ermittlungen beteiligt gewesen seien, seien im Laufe des Prozesses befragt worden. „Von denen hat sich ein einziger umgedreht und hat sich entschuldigt“ bei den Angehörigen, sagte er. (…) Die Staatshaftungsklage wurde den Anwälten zufolge schon Ende 2016 beim Landgericht Nürnberg eingereicht und richtet sich gegen die Bundesrepublik sowie Thüringen und Bayern, die auf Schadenersatz verklagt werden. Aktuell ruht die Klage gegen Thüringen, weil das Land laut Daimagüler Aufarbeitung versprochen hat. Drei Familien haben sich der Klage angeschlossen. Nach Angaben Daimagülers könnte das Verfahren bis vor den Bundesgerichtshof gehen und danach auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte…“
„»Ein weiterer Schlag ins Gesicht«“ von Sebastian Lipp am 13. Juli 2018 in der jungen welt unter anderem über Reaktionen von Betroffenen: „Die Entscheidung sei ein »weiterer Schlag ins Gesicht« der Opfer und ihrer Angehörigen, ließ Elif Kubasik der Kundgebung ausrichten. Um selbst zu sprechen, sei die Witwe des vom NSU ermordeten Mehmet Kubasik so kurz nach dem Urteil noch zu geschockt gewesen. Vollkommen unverständlich sei dieses Signal, welches das Urteil aussende und das jetzt auch die Neonaziszene Dortmunds erhalte. Jeden Tag müsse sie fürchten, deren Mitgliedern auf den Straßen ihrer Heimatstadt zu begegnen. Viele der Hinterbliebenen kritisieren, dass der Prozess mehr Fragen als Antworten hinterlasse. Noch immer wollen sie etwa wissen, wer Tatorte ausgespäht und die Opfer ausgesucht habe. Und sie glauben nicht an die Trio-These der Bundesanwaltschaft. Ihre Anwälte sehen für eine andere Erklärung konkrete Hinweise, denen aber nicht ausreichend nachgegangen worden sei. »Für einen Steinwurf beim ›G 20‹ gibt es mehr«, fasste Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann die Unverständnis der versammelten Antifaschisten, Überlebenden und ihrer Unterstützer zusammen. »Das Urteil mag legal sein, legitim ist es nicht«, so der Rechtsanwalt. Damit habe das Oberlandesgericht ein »Fanal« in Richtung militanter und bewaffneter Neonaziszene im Land gesetzt…“
„»Helfershelfer laufen noch frei herum«“ am 13. Juli 2018 in der jungen welt ist ein Interview von Christiane Mudra mit Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz (hat im Münchener NSU-Prozess die Familie von Enver Simsek vertreten), worin unter anderem zur Reaktion der Mandanten unterstrichen wird: „Sie waren schockiert, dass Richter Manfred Götzl in seiner Urteilsbegründung mit keinem Satz auf das Leid der Opfer eingegangen ist, während auf der anderen Seite unter anderem die »Haftempfindlichkeit« strafmildernd berücksichtigt wurde. Und sie waren enttäuscht, dass die Kammer die Anhänger des Angeklagten André Eminger nicht des Saales verwiesen hat, als sie lautstark jubelten und Beifall klatschten. Nachdem Verfassungsschutzakten geschreddert worden waren, nachdem man so viele Fragen nicht klären konnte, war es das Mindeste, dass die Hauptangeklagte die von der Bundesanwaltschaft verlangte Strafe bekommen hat…“
„Wir haben ein Urteil, keine Aufklärung“ von Ekrem Şenol am 11. Juli 2018 im Migazin fasst diese Reaktionen so zusammen: „Das Gerechtigkeitsempfinden bleibt auch deshalb verletzt, weil trotz endlosem Versagen, Wegsehen und Vertuschen in Behörden und Ämtern kein einziges Dienstverfahren eröffnet worden ist. Obwohl Dummheit nicht vor Strafe schützt, wurde nicht ein einziges (!) Mal ermittelt wegen Strafvereitelung im Amt. Vermutlich, weil es nicht nur Fehler und Pannen waren. (…) Das Interesse des Staates, sich selbst und seine Institutionen zu schützen, hat stets höhere Priorität genossen, als die Aufklärung dieser beispiellosen, rassistisch motivierten Mordserie. Die versprochene lückenlose Aufklärung wurde den Interessen staatlicher Stellen geopfert und damit gebrochen. Das Gerechtigkeitsempfinden bleibt schließlich auch deshalb verletzt, weil nahezu sämtliche Maßnahmen, die nach Bekanntwerden des NSU-Komplexes eingeleitet wurden, dazu dienten, dass illegale Handeln der Sicherheitsbehörden für die Zukunft zu legitimieren. Das totale Versagen der Behörden und Ämter wurde mit mehr Handlungsspielraum, mit mehr Geld und Ausstattung belohnt. Nicht wenige Staatsbedienstete, die mutmaßlich verantwortlich waren für das Versagen, wurden in bessere Positionen versetzt und befördert…“
„NSU-Urteile sind nicht zufriedenstellend!“ am 11. Juli 2018 bei der DIDF steht hier als Beispiel für eine ganze Reihe von Stellungnahmen von Gruppierungen und Organisationen aus dem Minderheitenbereich. Darin heißt es unter anderem: „Eksi betont, dass der sog. NSU nur Angst und Unsicherheit verbreiten wollte, damit Migranten Deutschland wieder verlassen. „Das haben sie nicht geschafft und werden es nicht schaffen, aber sie haben es geschafft, dass viele Migranten sich von der Mehrheitsgesellschaft abgekapselt haben und das Vertrauen verloren haben.“ so Eksi weiter. „Dieses Vertrauen hätte man ein stückweit wiedererlangen können, wenn im Jahrhundertprozess Antworten auf die Fragen gefunden worden wären, warum der Verfassungsschutz die NSU jahrelang gedeckt und gefördert hat und warum die Polizeibehörden nur in Richtung der Familien ermittelt und ein rassistisches Motiv kategorisch abgelehnt haben.“ Eksi betont, dass ihre Organisation sich seit ihrer Gründung für ein friedliches Miteinander und Zusammenleben aller Menschen stark macht und sich rassistischen und nationalistischen Tendenzen sowohl in der deutschen Bevölkerung, als auch unter türkeistämmigen Migranten entgegenstellt. Die DIDF betont, dass Rassismus und Nationalismus sowie strukturelle Diskriminierung nur dann wirksam bekämpft werden können, wenn Menschen verschiedener ethnischer und kultureller Herkunft sich zusammenschließen und gemeinsam dagegen vorgehen…“
d) Antifaschistische und demokratische Gruppierungen und ihre Schlussfolgerungen
„Nichts ist vorbei“ von Sebastian Bähr und Niklas Franzen am 12. Juli 2018 in neues deutschland über Reaktionen aus der Demonstration in München nach dem Urteil: „Der Aktivist Garip Bali vom antirassistischen Kulturverein Allmende e.V. sagte dem »nd«: »Der NSU-Komplex wurde nicht ausreichend aufgeklärt. Im Gegenteil: Viele Dinge wurden von staatlicher Seite vertuscht. Eigentlich bestand von Anfang an kein Interesse, den NSU und die Hintergründe aufzuklären.« Die Spuren des NSU führen auch nach Berlin. Mehrere Berliner, wie der ehemalige Deutschland-Chef von der Naziorganisation »Blood & Honour« und V-Mann Stephan Lange, standen mit dem NSU in engem Kontakt. Ermittlungen zeigen, dass der NSU jüdische Einrichtungen in Berlin ausspähte…“
„Was soll die Neonaziszene jetzt noch davon abhalten sowas auch mal zu planen?“ am 12. Juli 2018 bei Radio Corax aus Halle (im Freie-radios.net dokumentiert) ist ein Interview mit Caro Keller (NSU-Watch) über die Bedeutung und die Schlussfolgerungen aus dem Urteil – was aus der Überschrift bereits ersichtlich wird.
„“Wir erkennen das Urteil nicht an.““ ebenfalls am 12. Juli 2018 bei Radio Corax ist ein Interview mit P. Kowalska (Bündnis ‚Kein Schlussstrich‘) zum Urteil, dessen Inhalt ebenfalls von der Überschrift verdeutlich ist.
„Das NSU-Urteil“ am 12. Juli 2018 bei German Foreign Policy hebt unter anderem noch einmal die Schlussfolgerung vieler demokratischer Kräfte aus den Erfahrungen des Prozesses hervor: „Auch nicht ansatzweise aufgeklärt ist nach wie vor die Rolle, die die deutschen Geheimdienste in der NSU-Mordserie spielten. Tatsächlich waren Dutzende V-Männer der diversen Geheimdienste des Bundes und der Länder in Neonaziorganisationen aktiv, denen die NSU-Kernmitglieder und ihr Netzwerk entstammten. Als gesichert kann gelten, dass zumindest einige von ihnen über intime Kenntnisse über den NSU verfügten; zudem zerstörten mehrere Geheimdienste systematisch Unterlagen, in denen Informationen über den NSU oder über sein Umfeld enthalten waren. „Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz das nicht verhindert hätte“, hieß es gestern in einem Kommentar: „Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass gesuchte und flüchtige Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat die Neonazi-Szene vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat … verdunkelt, verschleiert und die Akten vernichtet.“[4] Und nach wie vor deutet vieles darauf hin, dass in den NSU-Mord vom 6. April 2006 in Kassel ein Geheimdienstler selbst verwickelt war. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Hessen, Andreas Temme, hielt sich exakt zum Tatzeitpunkt oder Sekunden davor in dem Internetcafe auf, dessen Besitzer an jenem Tag an der Theke erschossen wurde; außerdem stand er mit Neonazis aus dem Milieu des NSU, angeblich dienstlich, in Kontakt. Dass der Fall noch aufgeklärt werden kann, gilt als unwahrscheinlich: Der hessische Verfassungsschutz hat interne Unterlagen, die womöglich entscheidende Erkenntisse bringen könnten, mit einer Sperrfrist von 120 Jahren belegt…“
„Der NSU, ein Wattestäbchen und jede Menge struktureller Rassismus“ von Jan Keetman am 12. Juli 2018 bei Radio Dreyeckland (hier dokumentiert im Freie-radios.net) ist ein Beitrag über Konsequenzen für Verfahren, die aus den jetzigen Erfahrungen gezogen werden sollten. Im einleitenden Begleittext heißt es dazu: „Die Freiburger Kulturanthropologin Anna Lipphardt hat sich vor allem mit den Vorgängen um die Ermordung einer Polizistin und beinahe Ermordung ihres Kollegen in Heilbronn beschäftigt. Ein Zufall und jede Menge offenbar stelbstverständlicher Vorurteile führte die Ermittler auf die Spur einer ominösen Mörderin, die einem osteuropäischen Roma Milieu zugerechnet wurde. Entlang dieser Vorurteile wurde ermittelt und wurden DNA-Proben von 3000 Frauen gesammelt. Einerseits soll dies eine ganz normale Fahndung, wenn auch aufgrund eines reinen Versehens gewesen sein, andererseits bekommt die Forscherin keinen Einblick in die Ermittlungsakten, um das Vorgehen der Behörden zu untersuchen. Die Konsequenz aus dem NSU-Komplex sollte mehr Recht auf Akteneinsicht für WissenschaftlerInnen, Untersuchungsausschüsse und JournalistInnen sein. Auißerdem fordert sie, schon in der Schule über Rassismus und Diskriminierung aufzuklären und das nicht nur an bereits historischen Beispielen.“
„„Rechtsterrorismus ist Alltag““ am 12. Juli 2018 in der Frankfurter Rundschau ist ein Interview von Nadja Erb und Martín Steinhagen mit der Linken-Bundestagsabgeordneten Petra Pau, in dem diese zur Arbeit der diversen Untersuchungsausschüsse hervor hebt: „Ein Fazit aus den Zeugenvernehmungen ist, dass an vielen Stellen die Dimension der rechtsterroristischen Bedrohungen nach wie vor nicht bekannt ist. Es herrscht bei Strafverfolgungsbehörden immer noch die Meinung vor, dass es in Deutschland keine organisierten rechtsterroristische Strukturen gibt, sondern wenn überhaupt Einzeltäter oder Kleinstgruppen. Das ist ein schwerer Irrtum. Genau wie der an vielen Stellen laxe Umgang mit den Bestrebungen von Nazis, sich zu bewaffnen. Nach wie vor begegnen mir auch im Alltag Polizisten, Juristen, Verfassungsschützer, die, wenn ein Waffenlager ausgehoben oder Sprengstoff gefunden wird, von „waffenaffinen Einzeltätern“ sprechen. Das halte ich für brandgefährlich…“
„Furchtbar fruchtbar“ von Heribert Prantl am 11. Juli 2018 in der Süddeutschen Zeitung unter anderem zum Verfassungsschutz: „Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz das nicht verhindert hätte. Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass die Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat sie vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat verdunkelt, verschleiert, Akten vernichtet. Gäbe es ein Strafrecht für Behörden – dieser Verfassungsschutz verdiente die Höchststrafe: seine Auflösung. Das wäre ein Paukenschlag: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. 1. Der Verfassungsschutz wird aufgelöst. 2. Es wird seine Neuorganisation bis zum 31. 12. 2019 angeordnet.“ Aber so etwas anzuordnen, lag nicht in der Kompetenz des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts. Es wäre dies die Pflicht der Bundes- und der Landesregierungen. Diese haben, im Gegensatz zum Gericht, ihre Aufgaben nicht erfüllt. Das Geheimdienst- und Staatsschutzwesen braucht eine Fundamentalreform. Es gibt zu viel Neben- und Gegeneinander der vielen Behörden…“
„NSU-Prozess: Mitgefühl für die Opfer“ am 11. Juli 2018 beim DGB ist die Stellungnahme von Annelie Buntenbach für den Bundesvorstand, worin es immerhin heißt: „Das heutige Urteil im NSU-Prozess darf uns nicht davon ablenken, dass es immer noch zu viele Ungereimtheiten rund um das NSU-Netzwerk gibt. Wir brauchen dringend weitere Aufklärung darüber, wie es zu dieser rassistischen Mordserie kommen konnte und wie es dem NSU gelingen konnte, so lange unentdeckt zu bleiben…“
„Das Netzwerk der NSU-Terroristen“ von Martin Steinhagen erschien bereits am 23. Oktober 2015 in der Frankfurter Rundschau , beschreibt aber ein „Arbeitsprogramm“ (hier anhand der Beispiele Dortmund und Kassel) das sich viele lokale Initiativen (oftmals gegen erheblichen Widerstand der Behörden) seitdem „gegeben haben“ und nach diesem Urteil bereits veilfach bekundet haben, es nun erst recht fort zu führen: „Die Taten in Dortmund und Kassel ragen aus mehreren Gründen aus der Anschlagsserie hervor. Nie zuvor schlugen die Täter so kurz hintereinander zu wie in diesen Städten, die etwa 160 Kilometer voneinander entfernt sind. Nach den beiden Morden brach die Serie ab, die Ceská wurde nicht mehr als Tatwaffe eingesetzt. Das letzte mutmaßliche NSU-Opfer, die Polizistin Michèle Kiesewetter, wird mit einer anderen Pistole erschossen – und aus anderen Motiven…“
- Zum Ende des NSU Prozesses siehe auch: „Das Urteil im NSU-Prozess ist eine offizielle Bilanz der BRD: Die Gegenbilanzen sind eindeutig – neue Menschenjagd-Aufrufe der Rechten erst recht…“ am 11. Juli 2018 im LabourNet Germany
- Siehe auch unser Dossier: [Aktionen am Tag X] Das Ende ist absehbar. Nicht des NSU, sondern der NSU-Prozesse