Für die EU sind nunmehr endgültig Geflohene Verbrecher: Alle ins (vorzugsweise: afrikanische) Lager, mehr Kopfgeld für libysche Banden, massive Frontex-Aufrüstung
Dossier
„Auf dem EU-Gipfel wurden drastische Maßnahmen vereinbart: Flüchtlinge sollen innerhalb Europas in geschlossene Lager gesperrt werden, im Mittelmeer Gerettete will man auf nicht näher definierten »Ausschiffungsplattformen« abladen und die dubiosen Milizen der sogenannten »libyschen Küstenwache« bekommen noch mehr Geld. In »kontrollierten Zentren«, die EU-Mitgliedsstaaten auf freiwilliger Basis einrichten, sollen Flüchtlinge zukünftig ihr Asylverfahren durchlaufen, so sind die verklausulierten Sätze in den Beschlüssen des EU-Gipfels (Punkt 6) zu deuten. Nicht nur die mögliche Abkürzung des Begriffs »Kontrolliertes Zentrum« weckt dabei unangenehme Assoziationen, auch de facto bedeutet das schlicht und einfach: Haft. Haft für Menschen, die vor Krieg, Terror und Verfolgung geflohen sind. (…)Wer im Mittelmeer gerettet wird, soll zurück nach Afrika gebracht werden. Was dort genau geschehen soll, wird nicht näher ausgeführt. Es ist völlig offen, welches Recht dort gilt und welches Land – beziehungsweise, ob überhaupt ein Land – die schutzbedürftigen Menschen aufnimmt. Die Geschichten derjenigen, die bereits in den letzten Monaten zurück nach Libyen geschleppt wurden, lassen nichts Gutes erahnen. Dabei sieht das Seerecht vor, dass Flüchtlinge nur in sichere Häfen verbracht werden. Ein solcher sicherer Hafen ist nur dann gegeben, wenn Flüchtlinge nicht fürchten müssen, in Staaten verbracht zu werden, in denen sie Verfolgung und erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind…“ – aus der Stellungnahme „Europa macht Flucht zu einem Verbrechen“ am 29. Juni 2018 von und bei Pro Asyl zu den EU-Beschlüssen (die zeitglich mit abermals über Hundert Todesopfern im Mittelmeer gefasst wurden). Siehe dazu weitere aktuelle Beiträge zu verschiedenen Aspekten des EU-Gipfels zur Flüchtlingsjagd:
- Appell an den UNHCR: Pro Asyl fordert unbedingten Einsatz für Flüchtlingsrechte
„Anlässlich des heutigen Treffens mit Vertreter*innen der EU appellieren Seenotrettungs- und Menschenrechtsorganisationen in einem offenen Brief an den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, sich gegen die jüngsten Pläne der EU zu »regionalen Ausschiffungsplattformen« zu stellen. Mit den Plänen zu »regionalen Ausschiffungsplattformen« in Drittstaaten zeichnet sich eine weitere Eskalation in der Entrechtung Schutzsuchender ab. Das Konzept sieht vor, die lebensgefährliche Flucht nach Europa weitgehend zu unterbinden und so den Zugang zu Asyl auf europäischem Boden zu versperren. Umsetzender Partner für die »regionalen Ausschiffungsplattformen« soll neben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) auch das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) sein. Der UNHCR ist das dem Flüchtlingsschutz verschriebene Organ der Vereinten Nationen. Seine Aufgabe ist es, den Schutz von Schutzsuchenden sowohl national als auch international zu verteidigen. Das Gegenteil ist in der vorgelegten Konzeption der »Ausschiffungsplattformen« der Fall. Die EU will ihre Verpflichtung zur Aufnahme von schutzsuchenden Personen nach Nordafrika auslagern. Trotz offener Fragen bezüglich der Einhaltung menschenrechtlicher Standards hat der UNHCR in den letzten Wochen die Bereitschaft gezeigt, sich operativ an den regionalen Ausschiffungsplattformen zu beteiligen…“ Pressemitteilung von Pro Asyl vom 30. Juli 2018
- Diese Toten sind die Folge des Rechtsrucks
„Mittlerweile verliert jeder Siebte, der die Überfahrt nach Europa wagt, sein Leben. Über 1.400 Menschen starben 2018 schon im Mittelmeer, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Der erneute Anstieg der Todeszahlen ist eine direkte Folge auch der deutschen Politik. Dieser Tage treffen sich die EU-Innenminister in Innsbruck. In einer eigenen Runde will Innenminister Horst Seehofer mit seinen Kollegen von der rechtspopulistischen FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) und der rechtsextremen Lega aus Italien eine »Kooperation der Tätigen« bilden. Tätig heißt dabei: Die absolute Abschottung der europäischen Außengrenzen. Während man in Fragen der EU-Binnenmigration auseinander liegt, ist man sich darin einig. Es soll schlichtweg niemand mehr nach Europa kommen und hier einen Asylantrag stellen können. Dass das zur Folge hat, dass vor den Toren Europas, vor unseren Augen, Menschen ertrinken, wird dabei in Kauf genommen – es dient ja der Abschreckung. (…) Italien hatte währenddessen vor wenigen Jahren noch eine eigene Seenotrettungsmission, die bis Oktober 2014 zehntausenden Flüchtlingen das Leben rettete. Nachdem sich die übrigen europäischen Regierungen aber beharrlich weigerten, das Projekt zumindest finanziell zu unterstützen, wurde »Mare Nostrum« (deutsch: »Unser Meer«) beendet. Heute scheint die Prämisse der neuen italienischen Regierung hingegen zu sein: »Wer in unser Meer kommt, den lassen wir absaufen«. Nun sollen nämlich nicht mehr »nur« die privaten Seenotrettungsinitiativen kriminalisiert werden…“ Beitrag von Pro Asyl vom 13. Juli 2018
- Konsens bei EU-Staaten über Asylpolitik
„Europa will „Maßnahmen gegen die illegale Migration“ auf den Weg bringen. Der österreichische Innenminister spricht von einem Paradigmenwechsel. Innenminister verständigen sich auf stärkeren Außengrenzenschutz. In der seit Jahren umstrittenen EU-Asylpolitik gibt es nach Angaben des österreichischen EU-Ratsvorsitzes nun breite Einigkeit über entscheidende Fragen. „Ich glaube, dass wir heute hier in vielen, vielen wichtigen Punkten einen Grundkonsens erreicht haben“, sagte Innenminister Herbert Kickl am Donnerstag nach einem von ihm geleiteten EU-Ministertreffen in Innsbruck. (…) Österreich als derzeitiger EU-Ratsvorsitzender hat den Schutz der Außengrenzen, kombiniert mit der Zusammenarbeit mit Ländern außerhalb Europas, zu einer Priorität erklärt. Dadurch sollen weniger Menschen überhaupt in die EU gelangen. Die Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz will damit die Lage im Inneren der Union entschärfen, wo weiter über die Verteilung von Flüchtlingen gestritten wird. Dieser „Schutz der Außengrenzen“ gilt inzwischen bei einer Reihe von EU-Regierungen als Schlüssel in der Asylpolitik. (…) Unterdessen rief das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) Deutschland und Europa auf, die Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Asien und Afrika stärker zu unterstützen. Der UNHCR-Vertreter in Deutschland, Dominik Bartsch, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), dass derzeit kaum ein Flüchtling die Chance habe, über Resettlement nach Europa zu gelangen. „Wenn wir weltweit von derzeit 68 Millionen Vertriebenen reden, dann ist das höchstens ein Promille.“…“ Beitrag vom 13. Juli 2018 bei MiGAZIN
- „Eins, zwei – viele neue Lager“ von Stefan Otto am 30. Juni 2018 in neues deutschland ist ein Artikel über die Ergebnisse des EU-Gipfels, worin es zur Lagerhaltung von Menschen und ihrer nunmehr allseitigen Intensivierung heißt: „Eine Einigung konnten die Mitgliedstaaten bei Sammellagern in Nordafrika erzielen. Dorthin sollen künftig abgefangene Bootsflüchtlinge gebracht werden. Betrieben werden sie möglicherweise von dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Bereits im Vorfeld des Gipfels fanden intensive Gespräche zwischen der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini und den beiden Organisationen statt. Ein umfassendes Konzept wurde zwar noch nicht veröffentlicht; es heißt aber, in diesen Flüchtlingslagern solle bereits entschieden werden, wer in Europa schutzbedürftig ist und wer nicht. Ob diese Ausschiffungsplattformen, wie die Lager offiziell heißen, tatsächlich errichtet werden, ist allerdings noch unklar. Bislang hat sich nämlich noch kein afrikanisches Land für eine Zusammenarbeit bereit erklärt. Sammellager befürwortet der Rat auch innerhalb Europas – »auf freiwilliger Basis«, wie es in der Erklärung heißt. Neu ist der Vorschlag keineswegs. Solche Sammelzentren existieren bereits vielerorts, auf der griechischen Insel Lesbos zum Beispiel oder im bayerischen Ingolstadt…“
- „Willkommen in Europa“ von Ulla Jelpke am 30. Juni 2018 in der jungen welt fasst die Ergebnisse des EU-Gipfels so zusammen: „Solidarität untereinander kriegen die EU-Staaten nicht mehr hin, aber gegen die Schwächsten können sie sich noch verbünden: Das wesentliche Ergebnis des EU-Asylgipfels besteht darin, zur Abwehr von Flüchtlingen ein komplexes System aus Zäunen und Lagern zu errichten. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl spricht von einem »Anschlag auf das Recht auf Asyl und die Europäische Menschenrechtskonvention«. Nachdem sich die zerstrittenen Staats- und Regierungschefs die Nacht zum Freitag um die Ohren geschlagen hatten, wurde als wesentliches Ergebnis der Beratungen verkündet, sogenannte Ausschiffungsplattformen (»disembarkation platforms«) in Drittstaaten zu schaffen, in die Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen wurden, zurückgeschoben werden sollen. Die Europäische Kommission soll hierfür zügig ein Konzept entwickeln. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) haben bereits ihre Mitwirkung zugesagt. Beide halten es für möglich und legal, aus Seenot gerettete Menschen »notfalls« auch in Lagern außerhalb der EU unterzubringen, um dann dort über ihren Asylantrag zu entscheiden. In diesem Kontext will die EU die Kooperation mit der sogenannten libyschen Küstenwache weiter ausbauen. Deren Arbeit, so appelliert das Staatenbündnis in größtmöglichem Zynismus, dürfe man »nicht stören« – der Wink geht eindeutig in Richtung der zivilen Rettungsorganisationen, die Flüchtlinge vor dem Zugriff dieser kriminellen Truppe zu bewahren versuchen. Menschen, die von ihr aufgegriffen werden, werden schon seit langem in Lager gesteckt, in denen es regelmäßig zu Misshandlungen, Vergewaltigungen und gar Erschießungen kommt. Diplomaten des Auswärtigen Amts nannten die Bedingungen in diesen Lagern »KZ-ähnlich.«“
- „Europa orbanisiert sich“ von Markus Becker am 29. Juni 2018 bei Spiegel Online zum rechten Aufmarsch der politisch vereinten EU: „Doch daran gibt es gleich mehrere Haken. So soll der Transport von Migranten und Flüchtlingen in die kontrollierten Zentren „nur auf freiwilliger Basis“ stattfinden. Auch die Umverteilung von Schutzbedürftigen soll freiwillig erfolgen. Wie groß die Bereitschaft mancher Mitgliedstaaten zur Mitarbeit aber ist, hat der Pole Morawiecki für sein Land und die anderen Viségrad-Staaten Tschechien, Slowakei und Ungarn klargemacht: Sie existiert nicht. Einer hält sich auffallend zurück: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der als Erster auf eine radikale Schließung der Grenzen setzte. Schon beim traditionellen Gipfel-Vorbereitungstreffen der Partei- und Regierungschefs aus der EVP-Parteienfamilie, bei dem auch Merkel anwesend war, verlor Orbán kein Wort über Migranten, wie mehrere Teilnehmer dem SPIEGEL berichteten. Warum auch: Für ihn läuft alles bestens. Über Druckmittel gegen Aufnahmeverweigerer wie Orbán und Morawiecki verfügen die anderen EU-Staaten nicht: Im Gipfel-Kommuniqué sind keine Anreize für die Aufnahme von Migranten und Asylbewerbern vorgesehen – und erst recht keine Strafen. Welcher EU-Staat unter diesen Bedingungen bereit sein soll, bei sich Auffangzentren aufzubauen, bleibt rätselhaft. Eine entsprechende Frage ließ Kanzlerin Merkel nach dem Gipfel unbeantwortet…“
- „Tagung des Europäischen Rates (28. Juni 2018) – Schlussfolgerungen“ ist die offizielle Dokumentation der gefassten Beschlüsse vom Generalsekretariat des Rates, worin es zur Orientierung des Dokumentes – an dieser Stelle ganz ohne sonstiges „Menschenrechtsgetöse“: „Der Europäische Rat ist entschlossen, diese Politik fortzusetzen und zu verstärken, um eine Wiederholung der unkontrollierten Migrationsbewegungen des Jahres 2015 zu verhindern und die illegale Migration über alle bestehenden und neuen Routen weiter einzudämmen…“
- Siehe dazu zuletzt: „EU-Gipfel an Alle: „Oh, wie schön ist Libyen“. Vor allem die Lager der Milizen (in bürokratischer Monstersprache „Ausschiffungsplattformen“) – dafür sollen Rettungsschiffe weiterhin kriminalisiert werden“ am 29. Juni 2018 im LabourNet Germany (dort auch Verweis auf vorherige Beiträge)
- Siehe auch zum deutschen Hintergrund das Dossier: Harter Kurs in der Asyl- und Flüchtlingspolitik: Zurückweisungen an der Grenze wären europafeindlich und rechtswidrig