Chancen über Chancen – aber für wen? Unternehmen setzen die Digitalisierung im Betrieb in ihrem Sinne durch
„Chancen über Chancen scheint es derzeit für die Beschäftigten zu geben, wenn man die Ankündigungen von Konzernvertretern und Unternehmensberatern verfolgt. Bei digitaler Arbeit wird oft von Vorteilen und selbst von „demokratischen Unternehmen“ gesprochen. (…) Unternehmen initiieren einen Kampf um die Köpfe – den die Gewerkschaften aber derzeit nicht aufnehmen. Selbst eine Diskussion, wie Tarifverträge zu Digitalisierung aussehen könnten, findet auf Gewerkschaftstagen und Tagungen nicht statt. (…) Wie eine Arbeitsintensivierung verhindert und eine ausreichende Personalausstattung in einer „Industrie 4.0“ durchgesetzt werden kann, wird in den Gewerkschaften nicht thematisiert. Darauf zu setzen, dass dies durch Betriebsvereinbarungen von Betrieb zu Betrieb durchgesetzt werden kann, stellt eine Überforderungen der meisten Betriebsräte dar. (…) Die gewerkschaftliche Vision dazu bleibt aus: Weniger arbeiten, die tarifliche Forderung nach einem regulären 6-Stundenarbeitstag und einer 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Konkrete Vorschläge, wie denn Call-Center-Telefonistinnen, Workflow-Sachbearbeitern, Programmiererinnen, Arbeitern der Industrie 4.0 oder anderen Beschäftigten mehr Zeit am See verbringen können, fehlen. Ein Blick über die Landesgrenzen kann weiter helfen...“ Artikel von Marcus Schwarzbach vom April 2018 zum „Kampf um die Köpfe“ in den Betrieben bei der Digitalisierung – wir danken! Der Beitrag knüpft an die gerade erschienene neue isw-wirtschaftsinfo 53 des Verfassers: Wie sich die Digitalisierung auf die Beschäftigten auswirkt.
Chancen über Chancen – aber für wen?
Unternehmen setzen die Digitalisierung im Betrieb in ihrem Sinne durch
Chancen über Chancen scheint es derzeit für die Beschäftigten zu geben, wenn man die Ankündigungen von Konzernvertretern und Unternehmensberatern verfolgt. Bei digitaler Arbeit wird oft von Vorteilen und selbst von „demokratischen Unternehmen“ gesprochen. Eine „neue Kultur und neues Vertrauen“ verspricht Oliver Tuszik, Vorsitzender der Cisco-Geschäftsführung in Deutschland. „Egal ob es um Homeoffice, flexible Teamstrukturen oder standortübergreifendes Arbeiten geht – alles schon heute möglich durch technische Lösungen und Tools, die kinderleicht funktionieren“, betont der hiesige Vertreter des US-amerikanischen Telekommunikationsgiganten. „Die Vorteile dieser Entwicklungen liegen für Unternehmen auf der Hand: Zufriedenere und selbständigere Mitarbeiter“ (https://de.linkedin.com/pulse/arbeiten-digital-mehr-als-technologie-oliver-tuszik). Und zum Bericht über die IT-Agile GmbH in Hamburg titelt das Magazin Brand Eins „Die Geschichte eines demokratischen Unternehmens“ (siehe www.brandeins.de/archiv/2014/arbeit/it-agile-softwareentwicklung-demokratische-firma-cool-und-beaengstigend/ ). „Mehr Vertrauen, mehr Verantwortung, mehr Selbstbestimmung“ für die Beschäftigten verkündet Professor Carsten Schermuly von der SRH Hochschule Berlin (siehe https://www.haufe.de/personal/hr-management/new-work-moderne-formen-der-arbeitsgestaltung/agile-methoden-zur-arbeitsgestaltung_80_406702.html ).
Der betriebliche Alltag sieht anders aus. Das verdeutlicht eine aktuelle Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung: Die Arbeitsintensität ist in den vergangenen fünf Jahren durch die Digitalisierung gestiegen, sagen 78 Prozent der Befragten. Die Daten basieren auf Interviews mit mehr als 2.000 Betriebsräten, die das Institut geführt hat. „Im Durchschnitt aller Branchen berichten 56 Prozent der Betriebsräte, dass die Arbeitszufriedenheit gleichzeitig gesunken ist. Was den aktuellen Zustand angeht, diagnostizieren 73 Prozent Personalmangel, 60 Prozent dauerhaften Zeitdruck“, erläutert Elke Ahlers von der Hans-Böckler-Stiftung (https://www.boeckler.de/pdf/p_mb_3_2017.pdf ).
Kampf um die Köpfe
Unternehmen initiieren einen Kampf um die Köpfe – den die Gewerkschaften aber derzeit nicht aufnehmen. Selbst eine Diskussion, wie Tarifverträge zu Digitalisierung aussehen könnten, findet auf Gewerkschaftstagen und Tagungen nicht statt. Dabei ist Tarifpolitik immer auch ein Instrument zur Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen. Die IG Metall hat dabei eine große Tradition. Ein großer Erfolg in den 80er Jahren war der Lohnrahmentarifvertrag II in Nordwürttemberg-Nordbaden. Bezahlte Erholungspause oder Taktzeitbeschränkung am Fließband beugten Stress am Arbeitsplatz vor. Wie eine Arbeitsintensivierung verhindert und eine ausreichende Personalausstattung in einer „Industrie 4.0“ durchgesetzt werden kann, wird in den Gewerkschaften nicht thematisiert. Darauf zu setzen, dass dies durch Betriebsvereinbarungen von Betrieb zu Betrieb durchgesetzt werden kann, stellt eine Überforderungen der meisten Betriebsräte dar.
„Heute gibt es neue Bilder davon, wie wir gerne arbeiten möchten: Da ist der kreative Wissensarbeiter, der am See sitzt, den Laptop auf dem Schoß„, verkündet dasgegen das „Weißbuch Arbeiten 4.0“ der Bundesregierung einleitend (Weißbuch Arbeiten 4.0, Seite 4, siehe: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a883-weissbuch.pdf?__blob=publicationFile&v=4#5 ). Es erinnert an Klischee, die zum Beginn des Internetzeitalters verbreitet wurden. Damals ging es um kreative Menschen, die in Berliner Cafes sitzen und nebenbei arbeiten.
Die gewerkschaftliche Vision dazu bleibt aus: Weniger arbeiten, die tarifliche Forderung nach einem regulären 6-Stundenarbeitstag und einer 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Konkrete Vorschläge, wie denn Call-Center-Telefonistinnen, Workflow-Sachbearbeitern, Programmiererinnen, Arbeitern der Industrie 4.0 oder anderen Beschäftigten mehr Zeit am See verbringen können, fehlen. Ein Blick über die Landesgrenzen kann weiter helfen. In Göteborg testeten Unternehmen mehrere Monate den Sechs-Stunden-Arbeitstag. Die Angestellten in einem Pflegeheim, einem Krankenhaus, einer Fabrik und einem Tech-Startup arbeiteten in der schwedischen Stadt nur noch 30 Stunden statt 40 Stunden pro Woche – mit vielversprechenden Resultaten, was Gesundheit und Motivation der Arbeitenden betrifft. Eine Stressstudie der Universität Stockholm, die Erfahrungen von 600 Angestellten an 33 Arbeitsplätzen mit einem Sechsstundentag bei gleichem Lohn auswertete, zeigt auf: Zwar verursache die Reform in staatlichen Einrichtungen zunächst höhere Kosten, könne langfristig aber eine positive Wirkung haben. Einem aufgrund reduzierter Arbeitszeit nicht so gestresstem Personal unterliefen weniger Fehler, es verursache weniger Schäden (Sechs Stunden am Tag sind genug, taz vom 13.11.2017, http://www.taz.de/Arbeitszeit-in-Schweden/!5459426/ ).
Deutliche Forderungen der Unternehmensverbände
Unternehmen versuchen die Digitalisierung zum Sozialabbau und Einschränkung von Arbeitnehmerrechten zu nutzen. Christoph Schmidt fordert die Abschaffung des gesetzlichen Acht-Stunden-Tages – der Vorsitzende des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ begründet dies mit dem betrieblichen Alltag: „Die Vorstellung, dass man morgens im Büro den Arbeitsalltag beginnt und mit dem Verlassen der Firma beendet, ist veraltet“, (https://www.welt.de/wirtschaft/article170529775/Wirtschaftsweise-fordern-das-Ende-des-Acht-Stunden-Tags.html ). Schützenhilfe erhalten die hiesigen Unternehmen aus Österreich. Die neue ÖVP-FPÖ-Regierung will den 12-Stundentag durchsetzen. „Der Arbeitnehmerschutz in Deutschland hat sich bewährt, aber er ist teilweise nicht mehr für unsere digitalisierte Arbeitswelt geeignet“, formuliert der „Wirtschaftsweise“ Schmidt – im Nachbarland lautet die Vorgabe im „Regierungsprogramm 2017 – 2022“: „Wir wollen Österreich fit für das digitale Zeitalter machen“ durch „Entbürokratisierung“ von „Arbeitnehmerschutzvorschriften“ („Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017 – 2022“, siehe https://www.oevp.at/Programme-Statuten-Logos ).
So erscheint das Neue, die moderne digitale Arbeitswelt sehr altmodisch. Und macht deutlich: nur durch klare Gegenstrategien der Gewerkschaften ist eine Gestaltung der digitalen Arbeit im Sinne der Beschäftigten möglich.
Marcus Schwarzbach, Berater für Betriebsräte, Autor des isw-Wirtschaftsinfo 53:
- Das neue isw-Wirtschaftsinfo 53 will Anregungen für eine Diskussion zur Gestaltung der Digitalisierung geben:
„Mehr als jeder dritte Arbeitnehmer fürchtet den Wegfall von Arbeitsplätzen, meldet der aktuelle BKK-Gesundheitsreport. Nur etwa jeder Sechste sieht dagegen in der Digitalisierung einen Jobmotor.
Die Entwicklung ist aber vielschichtig – auch Mehrarbeit kann eine Folge neuer Technik sein. Zusätzlicher Arbeitsdruck wird in den Krankenhäusern durch die Digitalisierung erzeugt, so das Ergebnis einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Von verbesserter Kommunikation durch elektronische Patientenakten und Tablets könne keine Rede sein, ergab die Befragung von mehr als 600 Klinikbeschäftigten. Ein Drittel der Befragten gab an, dass die Digitalisierung ihrer Arbeit nicht zu Entlastung, sondern teilweise zu doppelter Arbeit führe. Die Folge ist eine deutliche Arbeitsverdichtung: Ein Drittel der Befragten beklagt mehr Hetze und Leistungsdruck, die Mehrheit muss öfter mehrere Aufgaben parallel erledigen. Je ein Viertel fühlt sich bei der Arbeit häufiger gestört und am Arbeitsplatz stärker kontrolliert.
Neue Technik wird zunehmend in den Betrieben eingesetzt. Trotzdem fehlt eine Diskussion, warum und wie diese Neuerungen umgesetzt werden sollen. „Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Und alles, was vernetzt werden kann, wird vernetzt“, betont Telekom-Chef Timotheus Höttges. Die Frage nach dem Nutzen für die Gesellschaft wird vom Unternehmensboss gar nicht gestellt. Eine Debatte dazu wollen die Unternehmen vermeiden. Sie schieben gerne Sachzwang-Argumente vor – für die Beschäftigten geht es jedoch um die Gestaltung der digitalen Arbeitswelt. Und um die Arbeit der Zukunft. Diese Publikation soll Anstöße für Diskussionen geben, wie die Digitalisierung im Interesse der Beschäftigten gestaltet werden kann.“
https://isw-muenchen.de/produkt/wirtschaftsinfo-53/