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Eindrücke aus Dortmund: „Nein oder Nein? Bei Erdogans Referendum“

Hayir: Bundesweite Initiative für das „Nein!“ beim Referendum in der TürkeiEs ist etwa 11 Uhr an diesem Donnerstag Morgen, als wir losgehen. Wir, das sind Emre, Ekrem und ich – die beiden Jungs sind Anfang 20 und zwei meiner neuen Nachbarn, nachdem ich in die Nähe des Dortmunder Borsigplatzes gezogen bin. („Und wenn Borussia wieder mal was gewinnen sollte, können wir das von meinem Balkon aus sehen“). Und losgehen ist wörtlich: Die ersten Frühlingstage laden ein, eine knappe halbe Stunde nach Eving zu laufen, an den Nollendorfplatz, wo abgestimmt wird, sofern Mensch einen Mitgliedsausweis der Türkei hat“ – so beginnt die Reportage „Nein oder Nein? Bei Erdogans Referendum“ von Helmut Weiss vom 31. März 2017 für LabourNet Germany mit vielleicht nicht repräsentativen, aber interessanten Eindrücken:

Nein oder Nein? Bei Erdogans Referendum

Es ist etwa 11 Uhr an diesem Donnerstag morgen, als wir losgehen. Wir, das sind Emre, Ekrem und ich – die beiden Jungs sind Anfang 20 und zwei meiner neuen Nachbarn, nachdem ich in die Nähe des Dortmunder Borsigplatzes gezogen bin. („Und wenn Borussia wieder mal was gewinnen sollte, können wir das von meinem Balkon aus sehen“). Und losgehen ist wörtlich: Die ersten Frühlingstage laden ein, eine knappe halbe Stunde nach Eving zu laufen, an den Nollendorfplatz, wo abgestimmt wird, sofern Mensch einen Mitgliedsausweis der Türkei hat.

Und wenn der Borsigplatz, und darum herum, so etwas ist wie Klein-Istanbul, oder Klein-Berlin (Studierende und RentnerInnen), oder auch Klein-Athen oder gar Klein-Douala, dann ist die Gegend um den Nollendorfplatz einer der Orte, an dem sie in der Sonne sitzen: Sie, die vor 40 oder noch mehr Jahren nun wirklich aus jenen anatolischen Dörfern gekommen waren, mit denen einst, aber eben nur hierzulande, die Türkei assoziiert wurde – ganz so, wie es sich geistig nicht besonders mobile Klein-Fritzchen bis heute vorstellen, obwohl es die Metropolen der Türkei  schon bis zu RTL II geschafft haben. Als wir am Platz das erste Mal ins Gespräch kommen und ich erzähle, dass ich einen guten Freund hatte, der aus der Gegend von Chorum kam, gab es drei ältere Männer, die mir erzählten, da kämen sie auch her, von Ankara aus stundenlang nach Osten.

Emre und Ekrem sagen laut und deutlich, dass sie mit „Hayir“ stimmen werden. Sie sind weder politisch, noch gewerkschaftlich, noch sonstwie organisiert, aber sie wollen einfach nicht, dass ein „Islamo“ alle Macht hat. Wären sie in der Türkei, würden sie – unterstelle ich ihnen – vermutlich CHP wählen.

Dieses klare – und lautstarke – Bekenntnis führt zu Reaktionen. Die Schlange ist nicht so sensationell lang, wie die, die am Montagabend – dem ersten Abstimmungstag – im WDR gezeigt wurde, es sind vielleicht 50 Menschen da, klein bisschen weniger als die Hälfte Frauen, aber es geht wie im Pfälzer Lied: Immer langsam voran. Flugblätter sind auch da, viele, auf dem Boden, sie kommen offensichtlich von verschiedenen Gruppierungen, sieht man schon am Layout, aber sie haben eigentlich nur je ein Wort als Überschrift – sehr Gegensätzlich eben…

Und ja, wenn ich nun über die Reaktionen, Antworten, einfach: Aussagen berichte, wird Manipulation deutlich. Denn: Mache ich eine Strichliste der zahlreichen Äußerungen, die wir in diesen Stunden zu hören bekommen, ist das geschätzte Ergebnis am wahrscheinlichsten ein Patt – ich zähle auf meiner eigens angelegten, keineswegs vollkommen zuverlässigen  Strichliste 23 Nein und 21 Ja. Und da die Nein gegen Ende zunahmen, dürfte dies auch ein Ergebnis der Debatten sein, die alle mitgehört hatten, dass die Neinsager sich eben eher äußerten. Trotzdem kommen die Nein in dieser kleinen Reportage viel mehr zu Wort – weil: ich es so will.

Emre vor allen Dingen diskutiert ganz offensiv: Könne ihm ja eigentlich egal sein, am Borsigplatz werde der blöde Typ sowieso nicht regieren,  aber er habe ja noch Vettern und Kusinen „da unten“ und die wären auch alle für Nein, und er hoffe sehr, dass die nicht im Staat eines neuen Sultans leben müssten. Schließlich fahre er ja alle drei bis vier Jahre auch mal hin.

Eine Kinderschänderdebatte

Erdogan, der keine plumpe Attacke auslässt (das für jene, die vor Kurzem noch kabarettistische Äußerungen über ihn „unpassend“ oder Ähnliches fanden), meinte in seiner letzten großen Rede, alle viele Tausend Inhaftierten seien Terroristen oder Kinderschänder. Was ja eines meiner am meisten und am liebsten diskutierten Themen der letzten Zeit ist, das werfe ich auch jetzt in die Debatte, das zurückgezogene sogenannte Ehegesetz. Na ja, sagt der ansonsten ruhige Ekrem, der den Ball anscheinend gerne aufnimmt, die einzige Partei, die will, dass alte Säcke junge Mädchen im Bett haben können, ist die AKP, anspielend auf jenen perversen Gesetzentwurf – nach massiven Frauenprotesten eiligst zurück gezogen – demzufolge bei allseitigem Einverständnis solcherart „Ehen“ möglich gemacht werden sollten. Und jetzt gibt es richtig Zunder, denn natürlich sind auch viele AKP-Fans in der Schlange vor dem Wahllokal.

„Das ist eine unserer Traditionen“ schreit uns einer an. „Ja“, sagt Ekrem, jegliche Kulturdebatte unterbindend, „ihr seid schon sehr lange Kinderficker“. Emre kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen: „Der sagt mir immer, rede ruhig und gelassen mit den Leuten“. Die Atmosphäre wird schon allmählich aufgeheizt, mehrere AKP-Leute sammeln sich und beschränken sich einstweilen darauf, uns böse Blicke zu schicken.

„Was glaubt ihr denn“, ruft einer von ihnen, „ihr kommt hier mit Deutschen an und beschmutzt die Türkei“. Meinen unqualifizierten Einwürfen über langjährige Nestbeschmutzerdebatten in Deutschland widmet niemand größere Aufmerksamkeit. Offiziell aussehende Menschen kommen wegen des anwachsenden Lärmpegels  aus dem Wahllokal und fragen, was los sei – nichts natürlich, versteht sich von selbst, etwas ruhiger bitte, ist die Anmahnung.

Aber, es geht weiter: „Wie könnt Ihr es wagen, die Partei, die die Türkei wieder groß gemacht hat, so zu beschimpfen?“ Aber jetzt antworten nicht mehr nur meine beiden Begleiter. Ein älterer Mann (der später sagt, er lebe seit 1972 in Dortmund) weist die Schreier darauf hin, dass es seiner Meinung nach nicht um irgendeine Größe irgendeines Landes gehe, sondern darum, ob die Menschen da gut leben könnten: „Und das konnten wir vor Euch besser“. Eine „mittelalterliche“ Frau erzählt von Telefonaten mit ihrer Schwester, die sich jedes Mal über die extremen Preissteigerungen beklage und fragt, wo denn die tolle Regierungspolitik der AKP bleibe, wenn dies nun schon seit Monaten so gehe. Insgesamt ist es jetzt schon so, dass eine ganze Reihe von wartenden Menschen mit Erzählungen über Probleme ihrer Familien oder Freunde in der Türkei dafür sorgen, dass die AKP-Truppe etwas vorsichtiger, leiser auch, wird.

Kein Döner

Jetzt sind wir schon etwa anderthalb Stunden da und immer noch nicht sehr nahe am Eingang. Also beschließen wir, schnell etwas essen zu gehen, auch wenn man dabei den Platz in der Schlange verliert.

„Aber keinesfalls Döner“, sagt Emre, „ich hasse Döner“. Auf meine Frage hin, ob er lieber Brat- oder Currywurst möchte, meint er, die hasse er auch. Wir einigen uns – auf Grillhähnchen, die Veganer und Vegetarier mögen es verzeihen. Als wir in einiger Entfernung in einem stramm deutschen Grill sitzen, kommen noch zwei ältere Männer – um diese Tageszeit sind halt nun mal meistens ältere Leute unterwegs, auch am Wahllokal, die jüngeren müssen eben malochen – hinzu, die sich zu uns setzen. „Ihr müsst ein bisschen aufpassen“, sagt der Eine, Yüksel heißt er, sagt er nachher, „die sind nicht so ungefährlich, die wollen keine andere Meinung“. „Danke, Onkel“, sagt Emre, „das wissen wir, aber es gibt halt Situationen, in denen man seine Meinung vertreten muss, da kann man nichts machen“. Sie reden deutsch, aus Höflichkeit mir gegenüber, weil sie ja genauso, wie viele andere, und speziell hier in der Gegend, andauernd Sätze aus zwei Sprachen bilden könnten.

Sie einigen sich darauf, dass man dagegen halten muss, wenn man seine Meinung nicht mehr sagen darf, ohne Gefahren zu laufen. Mit dem älteren der beiden Neuankömmlinge, Yusuf, komme ich ins Gespräch, als er erzählt, er sei hergekommen, weil ansonsten seine Familie nahezu ausschließlich in den Werften Istanbuls arbeite. „Das wollte ich nicht, das ist zu gefährlich, deswegen bin ich her gekommen, Minister Stein“ sagt er, die einstige Zeche, vor etwa 30 Jahren geschlossen, ganz in der Nähe erwähnend. Ich erzähle ihm von einer Studie einer jungen Forscherin aus der Türkei über diese Werften, die wir im LabourNet Germany veröffentlicht hatten – und muss ihm das dann sofort auf dem Smartphone zeigen, trotz Hähnchenfinger, und er macht sehr deutlich, dass er die Untersuchungsergebnisse gut findet, die Formulierungen eher zu höflich.

Als wir dann zum Wahllokal zurück kehren, ist es in der Tat etwas, nein eher deutlich,  leerer geworden, es sind nur noch etwa 20 Leute da. Die Hälfte nur, die schon da war, als wir gingen – aber unser Ausflug in den Imbiss hat auch beinahe anderthalb Stunden gedauert. Vor allem ist die Fantruppe Erdogans nicht mehr da und auch die Flugblätter muss jemand beiseite geschafft haben – und neue scheinen nicht verteilt worden zu sein. Was dazu führt, dass sich, obwohl es deutlich weniger Menschen in der Schlange sind, mehr an der von Emre sofort wieder begonnenen Debatte beteiligen.

Jetzt sind auch zwei mir entfernt bekannte Aktive linker Gruppierungen da, die sich uns sofort anschließen – und mit Fünfen ist man schon mehr eine Art Zentralgruppe – die Debatte wird sehr lebendig, weil die, die jetzt noch eher für das Ja eintreten, keine Fanatiker mehr sind, sondern wirklich diskutieren wollen. Und die Palette an Themen, die dabei behandelt wird, ist sehr, sehr lang – sie reicht von der osmanischen Geschichte über Kemal Pascha  bis heute, und natürlich ganz speziell bis zur AKP-Regierung. Und dass Erdogan zu Beginn seiner Amtszeiten anders gewesen wäre, als heute: „Eher wie Merkel“.

Wobei schon deutlich wird, dass die Stärke der AKP, oder, wenn man so will, ihre Popularität, vor allem damit zu tun hat, dass ihr und ihrer Regierung der doch lange Zeit andauernde wirtschaftliche Aufschwung des Landes zugeschrieben wird, auch wenn aktuell  eher die Krisenhaftigkeit auch des türkischen Kapitalismus im Vordergrund stehen mag und mehrere Gesprächspartner erneut von familiären Berichten über Probleme erzählen.

Das sind im Prinzip dann Menschen, die hierzulande CDU wählen würden, unter dem alten Motto „Keine Experimente“, mit dem schon Adenauer in Aufschwungszeiten Wahlen gewann. Aber es gibt offensichtlich darunter nicht so wenige, die in jüngster Zeit ins „Überlegen“ gekommen sind – weil sie wohl einfach finden, Verdienste recht und schön, aber daraus Machtansprüche ableiten, ist denn doch fragwürdig. Eine wirklich mehrfach getroffene Aussage, die vielleicht eine Tendenz zeigt. Wie auch, und erst recht, dann die Debatte um die ganze Säuberungswelle im öffentlichen Dienst zeigt – hier sind auch jene, die mit Ja stimmen wollen, oder in die Richtung gehen, meistens der Meinung, das sei „übertrieben“, es seien zu Viele, die da auf die Straße geworfen würden, so viele Terroristen könne es gar nicht geben, meinen Einige.

Was ich auf jeden Fall nicht nachvollziehen kann, ist das öfters gehörte oder gelesene Argument, diese  Menschen wüssten gar nicht, worüber sie abstimmen. Mag sein, dass unsere Schlange nicht repräsentativ war, aber die, die hier waren und mit uns geredet haben, die wussten sehr wohl, worum es geht, mindestens so gut, wie bei bundesdeutschen Wahlentscheidungen, sagen wir mal. Aber vielleicht ist Dortmund ja nicht nur im Fußball besser…

Das Resultat?

Wie es ausgehen wird, ist natürlich die Frage, die immer über Allem steht, keiner weiß es, alle denken, es wird – so oder so – knapp. Ja, es gibt Einschüchterungsversuche, die Horden des „Ich möchte Kalif sein, anstelle des Kalifen“ sind aktiv, drohen, diskutieren können und wollen sie ja nicht. Aber es ist dann schon – für mich – überraschend, dass doch viele Menschen sagen, das geht hier nicht, hier haben sie nicht diese Macht, wie in der Türkei. Andererseits – und da weiß ich mich mit einem Soziologie-Studenten einig, der in der Schlange dazu gekommen ist und mit uns diskutiert, ist es überall, auf der ganzen Welt so, dass „Communities“ (schlecht übersetzt: Gemeinschaften) von MigrantInnen in der Regel konservativer sind, als die Stimmung im Heimatland, was keinesfalls nur für Menschen aus der Türkei gilt – da habe ich eigene Erfahrungen mit deutschen Kolonien in Südamerika, die noch in den 80er Jahren reichlich „führertreu“ waren.  Man hält sich eben an Sachen oder Verhaltensweisen fest, die zu Hause längst aus der Mode gekommen sind, aber weit weg eben nicht.

Was kommt raus? „Ja, woher soll ich das wissen“ sagt Emre auf dem Rückweg – sie haben abgestimmt, wie, es dürfte kein Geheimnis sein, wie, ich war vor lauter reden einfach mit hinein gegangen und wurde, sehr höflich, darauf aufmerksam gemacht, dass ich kein Staatsbürger der Türkei sei, und deswegen bitte das Lokal verlassen solle, was ich auch tat, versteht sich, denn sie hatten ja Recht.

Ich bin also aus verschiedenen Gründen auf dieses Ergebnis gespannt: Wegen der politischen Entwicklung an sich, aber auch wegen der Auswirkungen auf die Menschen, die ich kenne – und auch auf die, die ich gerade eben erst kennen gelernt habe.

Klar gehen wir Samstag dann in den Fame Club nebenan, Borussia gegen Schalke gucken, „da gucken sie immer, wenn Borussia spielt – und Gala“. (Womit, für Fußball-Unkundige, Galatasaray Istanbul gemeint ist, der wohl populärste Club der Türkei)

Und dann, am Ende des Tages, eben in dem Fame Club, der seinem Namen nicht gerade Ehre macht, erzählen sie mir noch, dass sie beide die Absicht haben, sich bei Amazon zu bewerben, sie sind ja heute zutage Tagesjobber: In Sichtweite meines Balkons soll da, auf dem Gelände der früheren Westfalenhütte, ein Lager mit 1.000 Beschäftigten entstehen (laut Ankündigung: Mit Betriebsrat, auf jeden Fall mehr als Mindestlohn und mit festen Schichten – was ja, wie gerade eben etwa aus Chile oder Spanien im LabourNet berichtet, im heutigen Kapitalismus schon als Privileg verketztert wird, und es stimmt ja auch wohl, dass diese Gesellschaft so etwas „exotisches“ kaum noch zu bieten hat, sie macht halt nicht nur kaputt, sie ist es bald auch). Vielleicht war das ja nicht das letzte „politische Abenteuer“, das ich mit meinen beiden jungen neuen Nachbarn erlebt habe.

Helmut Weiss, 31. März 2017

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=114275
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