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40 Jahre Rüstungskonversion bei Lucas Aerospace: Wie die britische Gewerkschaftsbewegung (einst?) eine globale Perspektive aufzeigte

Dossier

Lucas Belegschaft 1977Lucas Aerospace – das war vor 40 Jahren ein Name, der weit über die Landesgrenzen hinaus in vielen progressiven Gewerkschaftskreisen bekannt war – und Hoffnung erweckte. Wenn eine Belegschaft die Planung der Produktion übernimmt – und dabei eben  die Frage „was produzieren?“ in den Mittelpunkt stellt, dann ist das veränderungsträchtig. Damals entstand die Bewegung bei Lucas Aerospace als Alternative zur Militärproduktion – eine solche Bewegung könnte aber auch heute als völlig unumgängliche Ergänzung zu allen denkbaren Kampagnen für  „gute Arbeit“ dienen, wenn es um mehr gehen soll, als unter etwas besseren Bedingungen gequirlte Kacke herzustellen oder abzuliefern. Siehe dazu Material zur „40 Jahre Lucasplan-Konferenz“ sowie zwei Diskussionsbeiträge zur Bedeutung der damaligen Bewegung für heute:

  • Die kommende Konversion. Wegweisender Versuch: In den 70er Jahren wollte die Belegschaft des britischen Rüstungsunternehmens Lucas Aerospace die Produktion auf nützliche Güter umstellen New
    „… In den 1970er Jahren haben britische Arbeiter und Techniker (Frauen scheinen nicht dabei gewesen zu sein) in 17 Fabriken des Rüstungskonzerns Lucas Aerospace mehr als drei Jahre lang gegen eine drohende Massenentlassung in ihrer Freizeit 150 alternative Produkte erarbeitet, die sie mit ihren Möglichkeiten in den Fabriken hätten herstellen können. Dabei ging es nicht nur um den Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern um mehr. Statt Waffensystemen sollten vor allem nützliche Güter produziert werden – es ging also um die sogenannte Rüstungskonversion.
    Der damalige Vorgang war, wenn man so will, eine »industrielle Alternativbewegung«, wie es sie davor und danach kaum gab. Dabei wurde bei den Produkten darauf geachtet, dass sie soziale Bedürfnisse befriedigen, und bei der Planung der Arbeit, dass sich auch der Charakter des Arbeitens verändern kann. Dabei entstand letztlich ein »Corporative plan«.
    Mike Cooley, Chefkonstrukteur und Gewerkschafter bei Lucas Aerospace, meinte: »Ist es nicht merkwürdig, dass wir die Erfindungsgabe haben, die Concorde zu bauen, dass wir die organisatorische Fähigkeiten besitzen, komplexe Luftverkehrssysteme zu schaffen, und dass wir über die Technologie verfügen, Menschen auf den Mond zu schicken, dass wir aber keine Produktionssysteme entwerfen können – vielmehr entwerfen wollen – , die den Menschen in seinen Fähigkeiten entwickeln?« (…)
    Bei Lucas Aerospace sah man die Möglichkeit, auch einen großindustriellen Konzern umzusteuern in Richtung der Produktion von »sozial nützlichen« Gütern. Zuerst waren mit recht wenig Erfolg verschiedene Institutionen und Persönlichkeiten um Vorschläge gebeten worden. Erst als die eigenen Gewerkschaftsmitglieder befragt wurden, konnten Projektteams mit ihrer Arbeit beginnen. Für 150 Produkte gab es Pläne und erste Konstruktionen, viele davon für den Medizinbereich (Bewegungswagen für Kinder mit Spina bifida, Dialysegeräte …), aber auch Produkte für ökologisch sinnvollere Energieinfrastrukturen und Mobilitätsangebote wie Gasturbinen, benzingetriebene Elektrogeneratoren, Windräder, Solarkollektoren für Niedrigenergiehäuser. Sogar die Gefahr, die von den hohen CO2-Emissionen für das Klima ausgeht, wurde damals schon bedacht, auch wenn »es als relativ einfach möglich« betrachtet wurde, »den CO2-Gehalt der Luft konstant zu halten« Der Corporative plan wurde vom Management abgelehnt. (…)
    Später allerdings schlug ein Teil des Konzerns genau diese Richtung ein, die da so vehement abgelehnt worden war, und entwickelte neue Produkte. Auch die dominierenden Gewerkschaften und die Regierung unterstützten den Vorstoß nicht. Einer der Vorwürfe lautete, dass der Plan die Gesellschaft verändern wolle. Dazu der Combine-Vorsitzende Mike Cooley: »Natürlich versuchen wir, die Gesellschaft zu verändern, und werden uns dafür nicht entschuldigen!« (…)
    Die Combine, die für den kriselnden Konzern Lucas Aerospace neue Produkte entwickelte, hatte solch einen weiten Horizont, es ging ihren Mitgliedern nicht bloß um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Sie forderten das »Recht des Menschen auf eine Form von Technologie, die es ihm gestattet, nicht nur seine gesamten Fähigkeiten zu realisieren und zu entwickeln«, sondern auch, »die Voraussetzungen und Umstände seiner Arbeit sowohl in physischer wie in psychischer Arbeit selbständig immer wieder neu zu bestimmen«. (…)
    Die Entwicklung von neuen Produktideen bei Lucas Aerospace in den 70er Jahren beruhte nach Mike Cooley auf einem »Fragebogen auf dialektischer Grundlage«: »Wie viele Leute mit welchen Qualifikationen habt ihr? Welche Maschinen stehen zu eurer Verfügung? Wie wichtig sind die Manager? Könnte die Belegschaft das Werk auch selbst betreiben? Und an welchen Produkten mangelt es in eurer Umgebung, in der Gesellschaft und in der Welt?« Dabei wurden die Antwortenden »beim Ausfüllen dazu gebracht (…), über (…) ihre Fähigkeiten und Eignungen nachzudenken, über die Umgebung, in der (…) sie arbeitete(n), und die Hilfsmittel, die zur Verfügung standen«. Darin ist eine Art »utopischer Sozialismus« enthalten. Es geht nicht mehr darum zu leben, um zu arbeiten, sondern zu arbeiten, um zu leben. Ein Kriterium zur Erfüllung dieses Zustands wäre zum Beispiel, dass niemand mehr am Montag morgen stöhnt und auf Freitag nachmittag warten muss, um zum »eigentlichen« Leben zu kommen…“ Artikel von Annette Schlemm in der jungen Welt vom 20.01.2022 externer Link (vorerst im Abo)
  • Wiederbelebung notwendig. Gewerkschaftliche Initiativen setzen Rüstungskonversion wieder auf Tagesordnung
  • „Celebrating the 40th Anniversary of the Lucas Plan“ war der Aufruf einer Initiative, zum 40. Jahrestag der Lucas-Plan-Erarbeitung eine Veranstaltung am 26. November 2016 in Birmingham externer Link zu organisieren, um mögliche Lehren für Heute zu diskutieren
  • „40 years of Lucas Plan – Some thoughts“ von AngryWorkersWorld am 25. November 2016 bei libcom externer Link ist ein Diskussionsbeitrag zur „Lucas Plan’ conference“  in Birmingham am nächsten Tag, worin die damalige Erfahrung ausgesprochen kritisch bewertet wird, vor allem in bezug auf die von einer Strömung innerhalb der damaligen Belegschaft vertretenen Position, es gälte die Regierung zu überzeugen, anstatt sich mit den damals stattfinden Kämpfen zu verbinden. Auch die Bedeutung und Debatte von Automation ist ein Thema in dem 10 Punkte Beitrag
  • „What if the workers were in control?“ von Hilary Wainwright am 03. Dezember 2016 bei Links externer Link ist ein Beitrag, der vor allem die positive Rolle würdigt, die die Lucas – Belegschaft mit ihrem Schritt in der damaligen krisenhaften Situation (die ausführlich beschrieben wird) gespielt hat, eben als Leuchtturm der Veränderung
  • Der Lucas-Plan – Sie planten die bessere Zukunft
    „Mitte der siebziger Jahre haben die Techniker­Innen von Lucas Aerospace ein Konzept entwickelt, das die Welt hätte verändern können – wenn das Unternehmen, die Labour- Regierung und die Gewerkschaften mitgemacht hätten. Über dreissig Jahre ist es her, dass britische Gewerkschafterinnen und Techniker das damals und auch heute kaum Denkbare taten: Sie legten einen Entwurf vor, der nicht nur die Industrie und ihre Produktionsformen, die Gesellschaft und ihre Machtverhältnisse, sondern auch den Umgang mit der Natur und den Ressourcen radikal infrage stellte. Das Besondere daran: Ihr Entwurf, den sie im Januar 1976 der Öffentlichkeit vorstellten, bestand nicht aus einem Papier, das eine neue Welt skizzierte. Die Beschäftigten des Luftfahrt- und Rüstungskonzerns Lucas Aerospace konnten mehr vorweisen. In mühsamer Kleinarbeit und oft in ihrer Freizeit hatten sie eine Reihe von Produkten entworfen und zum Teil bis zur Serienreife durchkonstruiert, die – und das war ihr Ausgangspunkt – in erster Linie dem Menschen und dessen Überleben dienen sollten. Und erst in zweiter Linie dem Profit.Artikel von Pit Wuhrer, Slough, in der schweizerischen WOZ externer Link vom 15.02.2007
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=108295
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