Abstiegsgesellschaft? Oliver Nachtwey über die Ausschließungsdynamik im „Postwachstumskapitalismus“
Dossier
„Das 2016 veröffentlichte Buch Die Abstiegsgesellschaft – Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne von Oliver Nachtwey, in dem er Exklusionsmechanismen und Inklusionstendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft untersucht, ist schon in der vierten Auflage erschienen und wird bereits jetzt als Klassiker der Soziologie gehandelt…“ Interview von Reinhard Jellen in telepolis vom 03. Dezember 2016 und ein weiteres:
- Abstiegsgesellschaft oder Ausweitung der Kampfzonen? Warum die soziologische Diagnose einen politischen Unterschied macht
„Zu den meist diskutierten politischen Büchern des Jahres 2016 gehört mit Sicherheit auch Oliver Nachtweys „Abstiegsgesellschaft“. Zu Recht, denn es bietet, was selten geworden ist: Ein politisch eingreifendes Denken, das mittels soziologischer Vorstellungskraft (C. Wright Mills) Zusammenhänge herzustellen wagt, wo andere sich damit bescheiden Spezialisten zu bleiben. Befunde zu Ökonomie, Sozialpolitik, Arbeitssoziologie, Ungleichheits- und Protestforschung werden zu einer schillernden Deutung der heutigen Gesellschaft verknüpft. Das hat allerdings seinen Preis, denn das Buch steckt voller Widersprüche und Ambivalenzen. Politisch liegt der Teufel im Detail…“ Beitrag von Thomas Goes zu Oliver Nachtweys Buch Abstiegsgesellschaft, erschienen in »Einstürzende Überbauten« – LuXemburg 3/2016 vom Dezember 2016, S. 86ff – wir danken dem Autor und empfehlen das gesamte Heft
- Das Dilemma der Linken: «Der Neoliberalismus ist diabolisch genial gestrickt»
„Der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey analysiert in seinem aktuellen Buch «Die Abstiegsgesellschaft» die wirtschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart. Ein Gespräch über den Aufstieg der Rechten, unkonventionelle Lebensformen und die Geschichte der Arbeiterbewegung…“ Beitrag und Interview von Daniel Hackbarth und Anna Jikhareva in der WOZ Nr. 49/2016 vom 8. Dezember 2016 . In dem Interview kritisiert Oliver Nachtwey die Linke u.a.: „…Ich bin jetzt 41 Jahre alt und gehöre zu den antiquierten Menschen, die nach wie vor davon überzeugt sind, dass der Klassenkonflikt zwar weniger sichtbar ist als im 19. Jahrhundert, aber trotzdem nie verschwunden ist. Viele Linke wollten davon in den vergangenen Jahren nichts wissen. Aber es ist höchst tragisch, nun auf diese Art in seiner Position bestärkt zu werden. Natürlich sollte die Linke jetzt nicht in Arbeitertümelei zurückfallen und symbolisch die Blaumänner anziehen. Doch es gehört auch zum gegenwärtigen Gezeitenwechsel, dass zum ersten Mal seit langem wieder eine Diskussion über Klassen stattfindet. Sie hat in Deutschland zwar schon vor der Wahl Trumps begonnen, aber interessanterweise brauchte es einen französischen Autor – nämlich Didier Eribon und sein phänomenales Buch «Rückkehr nach Reims» –, um die Linke darauf hinzuweisen, dass sie sich wieder um diese Frage kümmern sollte. (…) Was der Linken fehlt, ist eine gemeinsame Erzählung. Ich weiss auch nicht genau, wie ein solches Narrativ lauten könnte – momentan weiss das wohl niemand so recht. Aber man könnte sich zumindest darauf einigen, dass es an einem gemeinsamen Narrativ fehlt. Im Anschluss daran könnte man damit beginnen, daran zu arbeiten. Denken Sie an die Nuit-Debout-Bewegung in Frankreich: Genauso wie Occupy fehlte ihr eine Vision. Viele Linke waren in den vergangenen Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, kultivierten einen Narzissmus der kleinen Differenzen. (…) Die Pointe einer neuen linken Erzählung müsste gerade darin liegen, die Errungenschaften der neuen sozialen Bewegungen wie des Feminismus et cetera um kein Jota infrage zu stellen. Es reicht aber auch nicht, sich hinzustellen und zu sagen: «Wir brauchen ein linkes Regierungsbündnis gegen die rechte Bedrohung.» Das ist zu wenig, da steckt keine neue linke Erzählung drin, mit der man die Demokratie neu beginnen könnte. Stattdessen muss es darum gehen, die Anerkennungs- und Umverteilungskämpfe wieder zusammenzuführen. Und darum zu sagen: «Wir verändern unsere eigene Gesellschaft – und am besten gleich die ganze Welt!»…“
- Wichtig im Interview von Reinhard Jellen in telepolis vom 03. Dezember 2016 : „“Der Lebensstil wird wieder zur Klassenfrage“
[Frage] Ist es möglich, dass in Zukunft der Diskurs um Ökologie und Nachhaltigkeit dazu benutzt wird, weiteren Sozialabbau moralisch zu legitimieren?
Oliver Nachtwey: Gibt es derlei nicht bereits in Miniaturform? Die politische Phrase „wir alle müssten nun den Gürtel enger schnallen“ lässt sich nicht nur auf das Soziale, sondern auch auf das Ökologische anwenden. Beim Flug ins Ausland können die Gutverdienenden den CO2-Ausgleich problemlos zahlen, der schlecht verdienende Teil der Bevölkerung kann sich das nicht leisten. Wird aus der moralischen Anrufung nachhaltig zu leben ein staatlich sanktioniertes Dispositiv, dann wird die Fernreise wieder zum Privileg der Begüterten.
Heutzutage gibt es viele Möglichkeiten für eine nachhaltige Lebensführung, die sich ohnehin nur diejenigen leisten können, die gutes Geld verdienen. Der Lebensstil wird damit verstärkt wieder zur Klassenfrage. Damit wird die Marginalisierung unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen nicht ausschließlich über direkte politische Einflussnahme betrieben, sondern man wirft den Unterklassen vor, dass sie nicht die nötige Disziplin verfüge, beziehungsweise dass ihnen das korrekte ökologische Bewusstsein fehle.“
- Oliver Nachtwey „Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“ erschien beim Suhrkamp Verlag Berlin 2016, 263 Seiten, 18.00 Euro, siehe Infos beim Verlag