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LabourNet Germany on tour: Zwischen strahlendem Müll und wehenden Fahnen – ein Reisebericht aus Japan und Südkorea

Dossier

Kundgebung am 6. November in Tokio: Helmut Weiss (LabourNet Germany) 2. von rechts

Eine Reportage, die einen Überblick über die Reise, die dabei gemachten Erfahrungen und gesammelten Eindrücke geben soll – wie jede Reportage: Subjektiv. Eine Demonstration linker Gewerkschaften in Tokyo – in einer Größenordnung, die auch hierzulande denkbar wäre, wenn es eigenständige linke Gewerkschaftsdemonstrationen noch gäbe. Und eine gewaltige Massendemonstration in Seoul, bei der der große Gewerkschaftsblock derjenige war, der neben der Rücktrittsforderung an die Regierung Park auch ein Ende ihrer Politik gegen Beschäftigte, Erwerbslose und Gewerkschaften einforderte – diese beiden Aktionen stehen im Zentrum dieser Tage, an denen es aber auch viele weitere Gespräche und Informationen sowie Alltags-Eindrücke zu erleben gab. (…) Mit Dank an alle, die sich in beiden Ländern wegen mir Arbeit gemacht haben und der Versicherung, die solidarische Zusammenarbeit fortzusetzen, an die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt für die Finanzierung der Reisekosten und an die Rosa Luxemburg-Stiftung für die Förderung dieser Berichterstattung sowie an das female Gold Star Team LabourNet Germany, die meine Arbeit auch noch machen mussten…“ Abschliessende Reportage aus Japan und Südkorea mit Bildern von Helmut Weiss vom 25. November 2016: „Zwei Wochen, zwei Länder, zwei Demonstrationen: Bei linken Gewerkschaften in Asien“ – in dem Dossier auch die 2 Reiseberichte von unterwegs: Teil 1 des Reiseberichts von Helmut Weiss vom 11.11.2016: Die Gewerkschaft, der Tsunami – und Überraschungen und Teil 2 vom 17.11.2016: Der große Aufmarsch in Seoul – folgt ein Abmarsch?

Zwei Wochen, zwei Länder, zwei Demonstrationen: Bei linken Gewerkschaften in Asien

Seoul: Punkband bei der KCTU Kundgebung am 12.11.2016 (Foto: Helmut Weiss, LabourNet Germany)

Eine Reportage, die einen Überblick über die Reise[*], die dabei gemachten Erfahrungen und gesammelten Eindrücke geben soll – wie jede Reportage: Subjektiv. Eine Demonstration linker Gewerkschaften in Tokyo – in einer Größenordnung, die auch hierzulande denkbar wäre, wenn es eigenständige linke Gewerkschaftsdemonstrationen noch gäbe. Und eine gewaltige Massendemonstration in Seoul, bei der der große Gewerkschaftsblock derjenige war, der neben der Rücktrittsforderung an die Regierung Park auch ein Ende ihrer Politik gegen Beschäftigte, Erwerbslose und Gewerkschaften einforderte – diese beiden Aktionen stehen im Zentrum dieser Tage, an denen es aber auch viele weitere Gespräche und Informationen sowie Alltags-Eindrücke zu erleben gab. Aus Japan und Südkorea berichtet Helmut Weiss am 25. November 2016

Das hätte jetzt nicht passieren dürfen: Auf dem Weg zu dem Konferenzsaal in der Tokioter Innenstadt, in dem das jährliche internationale Solidaritätstreffen der alternativen Eisenbahnergewerkschaft Doro Chiba an diesem 6. November stattfinden wird: Blasmusik. Schwarz rot goldene Fahnen und ein riesiges Transparent „German Oktoberfest“. Um den Schrecken zu verlängern, spielen sie gerade auch noch das Prosit der Gemütlichkeit…

Was aber bereits der negative Höhepunkt an diesem Tag war, denn die Konferenz verlief ausgesprochen erfreulich – was vor allem der Teilnahme einer rund 35-köpfigen Delegation des südkoreanischen Gewerkschaftsbundes KCTU aus dem Bezirk Seoul zu verdanken war, die sachlich – und emotional – von ihren gegenwärtigen Kämpfen berichteten und über die Entwicklungen in Südkorea sprachen. Vor allem die seit Wochen streikenden EisenbahnerInnen wurden von japanischer Seite, überwiegend ebenfalls aus Berufskollegen zusammengesetzt, immer wieder mit Beifall unterbrochen.

Auch wenn ich mit meiner Ansprache – zusammen mit den Eisenbahnern aus den USA – den unglücklichsten Part hatte: Nach einer eindrucksvollen koreanischen Kampftanzgruppe sollte ich reden – wo alle lieber weiterhin schöne junge Menschen tanzen sehen würden, statt alte Leute reden zu hören. Aber, da das Thema Mindestlohn und Widerstand gegen Prekarisierung ist, kann ich auch – eigentlich viel, aber kurz gehalten – über die Bundesrepublik erzählen, was sehr interessiert aufgenommen wird, einschließlich der Darstellung der mehr als unrühmlichen Rolle der Gewerkschaften bei der Hartz IV Konterreform.

Der Vorsitzende von Doro Chiba spricht über die Geschichte der Eisenbahngewerkschaften – und über ihre Debatten, die dazu geführt haben, dass seit etwa 2 Jahren in zahlreichen Städten Japans neue alternative Gewerkschaften gegründet wurden – mit ihrer Hilfe, nicht nur bei der Eisenbahn, sondern auch auf dem Bau, beim öffentlichen Nahverkehr und im Chemiebereich. Den Höhepunkt erreicht die Begeisterung, als er zum Abschluss seiner Rede sagt, am kommenden Wochenende werde eine Delegation von etwa 200 Menschen aus den hier vertretenen Organisationen nach Südkorea reisen, um an der geplanten Großdemonstration in Seoul teilzunehmen – nach dieser Ovation lag es nahe, die Versammlung zu beenden, es ist auch schon spät und ab geht es, zurück ins Gewerkschaftshotel von Doro Chiba in Chiba eben, eine jener Städte, die neben Metropolen wie deren Stadtteile wirken.

Tokio: Demo am 5.11.2016 bei doro chiba, auch der Studierendenverband Zenroren (Foto: Helmut Weiss, LabourNet Germany)Am nächsten Tag, nach Tourismus-Programm (Bootsfahrt zum Garten des Kaisers, der aber nicht da war) und japanischem fast food (sushi, das Billigste, was es so gibt,per Laufband) die Kundgebung (immer zuerst) in einer kleinen Arena, mit etwa 5.000 Menschen gut gefüllt und danach Demonstration durch die Tokioter Innenstadt zum Hauptbahnhof – vorbei an den Luxusläden, dieselben wie überall, und ihrer sehr zahlreichen Kundschaft, dieselbe wie überall. Und am Schluss geschwollene Hände: Man verabschiedet sich von (fast) allen per Handschlag…Zu Beginn Dutzende von Zivilpolizisten, eifrig schreibend – „das soll nur einschüchternd wirken“ wird mir gesagt, was es offensichtlich nicht tut. Und ein Gespräch mit einer kurdischen Migrantin – die zweigrößte Anzahl in Japan, nur übertroffen von (meist japanisch-stämmigen) Menschen aus Brasilien…

Die Feier zum Abschluss der beiden Tage ist, wie so oft, interessant, weil sie Raum bietet für all jene Gespräche, die im offiziellen Teil nicht geführt werden.

Abendgespräche in Chiba

Warum, frage ich am Biertisch, warum hebt ihr immer so die Privatisierung der Japan National Railway hervor, das war doch immerhin 1987, lange her also, ist das Prinzipienreiterei? Schau her, sagt Masuko, es ist so: Zum einen war es die erste große Privatisierung in Japan, ein Meilenstein sozusagen. Zweitens war es ein Schlag gegen die Gewerkschaftsbewegung, ein Schlag historischen Ausmaßes: Von den 400.000 Beschäftigten der JNR waren 220.000 Gewerkschaftsmitglieder, von den 220.000, die von den neuen privaten Gesellschaften nur wieder eingestellt wurden, waren es gerade mal knapp 40.000 GewerkschafterInnen, verstehst Du? Und drittens gingen die juristischen Nachgefechte bis vor kurzer Zeit, als geurteilt wurde, dass die Entlassungen in Chiba – für anderswo konnten wir nicht prozessieren – unrechtmäßig waren. Was auch viertens wiederum einiges innergewerkschaftliches nach Oben gespült hat – wie etwa die Frage,w arum andere Gewerkschaften nicht ebenso gehandelt haben.

Gut, in Kurzform. Und begriffen und dann darf ich – als Revanche für das Oktoberfest vom Vortag – die Anwesenden quälen, in dem ich die deutschen Lieder der aktiven Eisenbahnband mitsingen muss: Die armen Arbeiter von Wien…Und japanisches Bier ist nicht schlecht…

Dennoch kommt es zu weiteren Gesprächen, vor allem aufgrund meiner Nachfrage nach dem japanischen Gewerkschaftsgesetz. Wirklich, drei Leute können eine tariffähige Gewerkschaft gründen? Ja sagen sie und auf meine Frage hin, wie das zustande kommt, verweisen sie auf die Massenkämpfe nach dem Ende des Krieges, und die damalige Rolle der Kommunistischen Partei Japans. Ist ja ziemlich demokratisch meine ich – kann aber auch von der Gegenseite ausgenutzt werden, oder? Nun, was kann schon nicht von der Gegenseite ausgenutzt werden, ist die Antwort von Tanako, der ansonsten den Bier Pitcher betreut – es ist uns jedenfalls lieber so, als wenn nur die Bürokratien von Rengo und Zenroren existierten, das wäre ja wie bei euch in Deutschland…

Die Bilanz dessen, was die so gegründeten kleinen, meist lokalen Gewerkschaften erreicht haben jedenfalls, ist ausgesprochen positiv, so sehen wir das, und deswegen machen wir da auch weiter, meint der dritte Eisenbahner im Gespräch, Watanabe. Da mag ich dann nicht widersprechen.

Gibt es eigentlich Eisenbahner, die keine Eisenbahn-Fans sind? Als wir unter der über uns donnernden Hochbahn von Chiba entlang gehen, und ich ihnen erzähle, es gäbe in Wuppertal auch so etwas, holen sie sofort sämtliche Smartphones und Internetzugänge aus den Taschen, um sich dieses, dann viel bestaunte, „Wunder“ anzusehen

Die nächsten Tage sind verplant: Das Angebot, zwei Stunden im Shinkansen nach Fukushima zu fahren um mit dortigen GewerkschafterInnen zu reden, nehme von den ausländischen Gästen nur ich an, die anderen bleiben lieber in Tokio – oder fahren schon mal nach Seoul zurück, um die dortige Samstagdemonstration mit vorzubereiten.

In dem kleinen Stadtpark von Chiba, direkt neben dem Gewerkschaftshotel, sind, wie am frühen Morgen auch am späten Abend noch jede Menge Läuferinnen und Läufer unterwegs – ich besichtige lieber das direkt daneben liegende Keirin-Stadion, hatte ich noch nie gesehen, ein richtiges Radsport-Stadion mit vielleicht 10.000 Plätzen und weil gerade noch Rennen ist, aber die Kassen schon geschlossen kann man rein und erleben, was schon die ganzen Tage so war: So anders wie oft behauptet, sind die Menschen in Japan nun wahrlich nicht…

Strahlende Zukunft: Alles normal

Vom ersten Augenblick an, als wir – ich und Nobuo, der mich die ganze Zeit betreut – am Bahnhof in Fukushima von Abe (mit dem Regierungschef weder verwandt, noch gut auf ihn zu sprechen) abgeholt werden, steht die Frage im Raum: Ist was zu sehen, zu merken? Zuerst: Mittagessen, Stadtmitte neben einem riesigen Bunker, der hierzulande ein Kino-Multiplex wäre. In Japan auch. Buchweizennudeln – muss ich als fanatischer Nudelfresser probieren: Sehen aus, wie schon mal gegessen, schmecken aber gut. Und grüner Tee, den sogar ein lebenslanger Teeverächter wie ich trinke – das satte Grün ist aber auch verlockend, der trägt hier seinen Namen zu Recht.

Und dann: Grüne Plastikplanen, nicht gerade mitten in der Stadt – vielleicht so groß wie Bochum – aber fußläufig und mit Stacheldraht umgeben. Darunter: Schwarze Plastiksäcke mit (offiziell: Schwach) radioaktivem Müll. Die größte der drei Sammelstellen, die wir abgehen, ist direkt neben einer Containeransiedlung für geflüchtete Familien, die auch nach fünf Jahren immer noch halb bewohnt ist. „Damit wir Heimatgefühle haben“ sagt einer der Bewohner, mit denen wir eine Weile reden, sie sind der Regierung deswegen ein Dorn im Auge, weil es sie eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, es ist doch alles im Griff, voll normalisiert, bestätigt durch die erfolgreiche Bewerbung um die Olympiade 2020. Ab 2017 soll es dementsprechend auch keine Unterstützung mehr geben. Immerhin, es ist Demokratie: Auf der anderen Seite des strahlenden Depots wohnt – die Staatsanwaltschaft.

Wir fahren an diesem – und am folgenden – Tag viel durch die Gegend: Überall wird gebaut. Alte Städtchen werden versiegelt und gedeckelt, neu gebaut, bunt bemalt und mit vielen Festen mit Popstars und kostenlosem Essen und Trinken eingeweiht – das lässt sich die Regierung schon was kosten, ihre Normalisierung. Eine Musterstadt sehen wir, die einst 8.000 EinwohnerInnen hatte – im Totalneubau sind bisher 1.500 wohnhaft…aber sehr bunt und freundlich.

Und dann ist da die Geschichte mit den Geigerzählern, die hier alle haben. Die Verwaltung hat sie verteilt, die meisten haben sich noch eigene gekauft, aus der Ukraine, „weil die Erfahrung haben“ – und die zeigen immer mehr Strahlung an, als die Verteilten und das wirft immer wieder Fragen auf. Unserer jedenfalls rattert irgendwann am nächsten Tag heftig los und jault extrem laut: Statt „normaler“ 0,20 Millsievert Strahlung zeigt er 6,20 an, ungefähr einen Kilometer lang im Auto, das selbst auf der Autobahn (Höchstgeschwindigkeit 70 Kmh, deswegen wenig Unfälle) nicht so schnell fahren kann, dass das mulmige Gefühl schnell vergeht. Solche Landstriche, so erzählt uns unser Fahrer Keino von der Eisenbahnergewerkschaft Doro Mito, gäbe es viele, auch weiter im Landesinneren, wie eben die Winde bliesen damals, vor 5 Jahren.

Im Gewerkschaftshaus von Doro Mito am Abend eine kleine Diskussionsveranstaltung mit etwa 25 KollegInnen aus drei verschiedenen Alternativgewerkschaften. Ihr Kampf, so erzählen sie, gilt hauptsächlich der von der Regierung beschlossenen Wiederaufnahme des Bahnbetriebs an der verseuchten Küste entlang – bisher ist dadurch der Zeitplan aus allen Fugen und die Strecke nur abschnittsweise wieder befahren – mit sehr wenig Passagieren. Wegen dieser Haltung haben sie auch relativ viele neue Mitglieder aus der offiziellen Eisenbahngewerkschaft gewonnen, die die Regierungshaltung „alles im Griff“ voll unterstütze. Und sie arbeiten viel an der Unterstützung der privaten Kinderklinik, die sie zusammen mit einer Reihe demokratischer Organisationen und engagierter Ärzte und PflegerInnen gegründet haben und erfolgreich mobilisiert für ihre Finanzierung durch die Präfektur.

Dort bin ich am nächsten Morgen und rede mit dem diensthabenden Arzt – der mir viele Statistiken zeigt: Seltsame Häufungen von Schilddrüsenkrebs etwa, in ganz verschiedenen Regionen der Umgebung. Keine Massenerscheinung – aber eine mehr als deutliche Veränderung zu früher, vor 2011, vor dem GAU, dem Tsunami. Und dann beginnt auch schon die Rückfahrt über Iwaki, wo wir am Abend abermals eine Veranstaltung haben, mit der Vereinigten Gewerkschaft Iwaki, die in der Chemiebranche, im Nahverkehr und, wie könnte es anders sein, bei der Eisenbahn organisiert. Und wesentlich dazu beigetragen hat, das örtliche Instandsetzungswerk vor der Schließung zu verteidigen.

Wie schon in Chiba und Fukushima muss ich, als ich über die aktuelle Kampagne des LabourNet Germany berichte, gegen die DGB Unterlaufung des Equal Pay für ZeitarbeiterInnen, erst einmal erläutern, warum ich dieselben Worte benutze, wie der Herr Abe: Der redet seit Monaten von „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Mhm. Der meint das auch: Alle sollen dasselbe verdienen wie jene, die am wenigsten verdienen. Ganz offizielle Regierungspolitik, Veränderung – natürlich, kapitalistische Idiotenideologie: Flexibilisierung – der Lohnstruktur. Dass „Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit“ einmal eine der ganz klassischen gewerkschaftlichen Losungen auch in der BRD gewesen ist – also angesichts der aktuellen DGB-Politik: Gewesen war, einst, damals und so weiter – muss ich erst einmal ausführlich erzählen.

Back in town: Tokyo

Und dann sind wir wieder am Tokioter Hauptbahnhof: Vorortzug, dann U-Bahn,dann Bus – nur 45 Minuten bis zu Nobuos Wohnung, schnell ist das, „meinem Kaninchenstall“ wie er sagt. Keiner hat mich in einen Zug gepresst und auch die wenigen Menschen, die eine Gesichtsmaske tragen, wirken nicht bedrohlich. Das mit dem Verbeugen wird schnell selbstverständlich – das mit für jedes Zimmer andere Schuheanziehen, überhaupt nicht, bleibt lästig und stets vergessen…

Nobuo und Tahita, seine Frau, arbeiten beide in einem linken Verlag – dementsprechend ist ihr Kaninchenstall voll mit Büchern, bis auf die Enge, die in der Tat herrscht und offensichtlich und laut verschiedener Auskünfte normal, sieht es aus wie zuhause.

Geschäftsideen habe ich auch gesammelt auf dem Weg hierher: Im Bus, vor jeder Haltestelle, per Lautsprecher Werbung für die Geschäfte, die sich jeweils im Umkreis befinden.

Und natürlich bin ich, wie schon in Chiba, Fukushima und überall sonst, eben noch mal schnell ins „7-11“ gegangen, das um die Ecke ist, es ist immer und überall um die Ecke und wenn nicht Seven Eleven, dann die Konkurrenz: Convinience Stores, also Richtung Supermarkt, Bank- und Postfiliale erweiterte Tankstellen-Läden, inklusive abgepackter Mahlzeiten zum Aufwärmen. Und natürlich aller Art Drogen, die ich konsumiere, Wein, Bier, Tabak, alles, was der Dealer darf…Und: Sie haben stets Aschenbecher vor der Tür – und nur dann darf man in der Öffentlichkeit rauchen. Und Wifi. Eben alles, was der heutige Mensch zu brauchen glaubt.

Tokyo ist vor allem: Groß. Aber auch hier im Stadtteil, beim Nachmittagsspaziergang vor dem abendlichen Abflug nach Südkorea, finde ich keine so richtige Kneipe, in die ich gerne gehen würde.

Danach: Ab nach Haneda, der Flughafen ist so, dass ich sogar einen Anflug von Verständnis für jene bekomme, die den weit entfernten Narita Airport – und wir haben die Bauern bei der Demonstration am Sonntag getroffen, die immer noch gegen seine Erweiterung auf ihre Kosten Widerstand leisten – ausbauen wollen, denn Haneda ist nett – für einen Flughafen, wenn das geht – aber kaum größer als der in Dortmund.

Seoul – Digital City?

Was hatte ich nicht alles gelesen und gehört über Seoul. Vorher, zur Vorbereitung auf eine Jungfernreise. Nach einem halbstündigen Marsch durch den menschenleeren Untergrund des Flughafens Gimpo bis zur U Bahn empfinde ich den ersten Eindruck eher: Mittelalterlich. Was sich nicht verbessert durch die Ankunft im Hotel, das unsere Reservierung nicht finden kann. Eher schon durch den Spaziergang von der U-Bahn dahin: Wir sind in Jongno, dem Bezirk der 10 Millionen Stadt, zu dem auch die Altstadt mit ihren vielen kleinen Gassen gehört – was ich in Tokyo gar nicht gesehen habe, nicht hingekommen bin.

Als alles dann doch noch geklappt hat und am Morgen danach: Der Seouler KCTU besucht uns im Hotel. Hier wohnen ungefähr 100 der japanisch/globalen Solidaritäts-Reisegruppe, die anderen in drei weiteren Hotels in einem Radius von 5 Minuten zu Fuß. Ja es sind auch Delegationen des Internationalen Gewerkschaftsbundes beziehungsweise Branchenföderationen anwesend – aber wir hier, so Kim von der Bezirksleitung Seoul, wir machen viel wichtigeres: Basis-Solidarität, nicht ein paar Personen schicken und etwas aufschreiben, sondern mobilisieren, begegnen, zusammen kämpfen.

Er und zwei seiner Kollegen bilden unsere morgendlichen Reiseführer – durch eine Stadt, in der offensichtlich viele Geschäfte erst um 11 öffnen – wenn es denn überhaupt noch andere Geschäfte gibt als Starbucks und seine Konkurrenten, Kaffeeläden sind im Lande des Mais-Tees der aktuelle große Renner, vertreiben sogar die sonst stets dominierenden Schmuckläden, sagen Kim und Kollegen, nachdem wir aus dem Kaffeeladen kommen, von der Konkurrenz versteht sich. Dort haben sie meine Fragen nach dem anderen Gewerkschaftsbund FKTU beantwortet, der knapp größer ist als der KCTU. Sie sehen ihr klares politisches und gesellschaftspolitisches Profil: „Wir wollen Prekarisierung nicht gestalten, wir wollen sie beenden“ als einen wesentlichen Grund ihres deutlichen Wachstums in letzter Zeit und arbeiten eng mit oftmals spontan entstandenen Gewerkschaften in diversen ZeitarbeiterInnen und anderen – mehrheitlichen – Bereichen der Arbeitswelt zusammen, die nicht bei ihnen angeschlossen sind, dies wohl in nächster Zeit auch nicht sein werden, weil sie meist von ganz jungen Menschen gegründet wurden, die mit sehr viel Engagement arbeiten und kämpfen – aber kein großes Vertrauen in große Organisationen haben. „Wofür es auch gute Gründe gibt“ sagt Kim, der darauf verweis, dass diese so entstehenden Gewerkschaften in der Regel zu Beginn ein sehr schnelles Wachstum verzeichnen – „sie sammeln die ein, und das sind nicht Wenige, die sozusagen auf so eine Organisation gewartet haben“ danach brauchen sie Rat und Beistand, und dafür seien sie vom KCTU auch da.

Während wir auf der Straße reden, kommen wir nicht nur an gefühlt Eintausend Kaffees und „French bakeries“ vorbei, sondern auch: An einem Tempel. Die rar sind in der erweiterten Innenstadt. Viel seltener als hierzulande etwa Kirchen, Unterschiede in der Stadtentwicklung sind dafür ebenso maßgebend wie eine schon recht andere Rolle von Religion überhaupt – habe ich jedenfalls den Eindruck. Weitaus weniger aufdringlich. Und: Weder Glocken noch Vorbeter. Angenehm.

Wir gehen im Gewerkschaftshaus des Bezirksverbandes vorbei: Ebenfalls angenehm. Hat nichts von einer Behörde wie hierzulande, verströmt eher den Eindruck Chaos pur, es ist schließlich Morgen Großdemonstration und heute Streik – bei Eisenbahn und öffentlichem Dienst. Sehr viele junge Leute, die Banner malen, rennen, rufen – aber auch, tatsächlich, zwischendurch singen und tanzen, wie sie es hier, und das sollte sich in den folgenden Tagen bestätigen, überhaupt sehr mit der Musik haben.

Am Abend dann eine ganz andere Idee, warum das Südkorea heißt: Weil es südländische Atmosphäre verbreitet. In den Gassen der Altstadt, die vielen kleinen Lokale, in deren Tische der Kohlegrill eingebaut ist, wie in Japan eine Art zu essen, die an Tapas erinnert, mit vielen kleinen Beilagenschalen. Und sie sitzen auf der Straße, lachen, begrüßen sich mit Umarmen oder abklatschen, das mit dem ach so anderen Asien ist so eine Sache des Ja und Nein: Wenn Japan mit Korrektheit und Förmlichkeit eher an Deutschland erinnern mag – zumindest an Deutschland im Vor Shitstorm Zeitalter – so eben Korea eher an Mittelmeer, von dem ich schon immer Fan bin.

Ach ja, Digital City: In den Gassen sind auch jede Menge junge Männer, aus verschiedenen asiatischen Ländern, in der Jeans und Turnschuh Uniform, die auch Reisschnaps mögen…Ansonsten sind die MigrantInnen, die hier die Drecksarbeiten verrichten zumeist aus Nepal und Myanmar, sagt man mir…

Der Tag der großen Demonstration

12. November 2016: Eine Million Menschen in Seoul gegen die Park-Regierung, hier: KCTU-Kundgebung vor der Präfektur (Foto: Helmut Weiss, LabourNet Germany)Gut vorbereitet ist der KCTU: Weil sie erwarteten, dass auch der große Platz vor der Präfektur nicht für die mobilisierten Menschen ausreichen würde, haben sie in allen davon abgehenden Straßen riesige Leinwände montiert, zur Übertragung der Kundgebung die, wie in Japan auch, immer vor der Demonstration stattfindet, Abschlusskundgebungen gibt es nicht.

Aber nicht gut genug: Denn auch diese Nebenstraßen reichen nicht aus – obwohl der KCTU-Kundgebungsplatz zwar der größte, aber bei weitem nicht der Einzige ist, es soll eigentlich ein Sternmarsch werden. Auch daraus wird wenig, denn auch da wird es sich zeigen, dass eben alle Wege schon voll von Menschen sind: Wenn eine Demonstration nirgendwo anfängt und nirgendwo endet, sondern einfach überall ist und in jedem Kaffeehaus, in das man schnell mal zwischendurch geht, alles voll mit DemonstrantInnen ist, dann ist sie: Groß. Sehr, sehr groß. Die Medien einigen sich nachher auf eine Million Menschen, zählen konnte das bestimmt niemand. Und: Bei einer solchen Demonstration erfährt man von den Auseinandersetzungen mit der Polizei, die später am Abend stattfanden vor dem Blauen Haus, dem Präsidentensitz, der mit Polizeibussen verbarrikadiert ist, aus den Fernsehnachrichten, wie die meisten anderen auch…

Der Unterschied wird einem deutlich gemacht: Dass der Gewerkschaftsbund mit all den anderen Organisationen, die heute aufgerufen haben – auch der Bürgermeister von Seoul hat es getan, weswegen auch erstmals ein Gericht die polizeilichen Beschränkungen wieder aufgehoben hat – zwar die Forderung nach dem Rücktritt der Präsidentin gemeinsam hat; und auch, dass zumindest viele – im Vergleich zu vielen anderen Empörungswellen über Korruption ein Fortschritt – im Blickpunkt haben jene, die bezahlt haben, darunter alle großen, weltweit bekannten Unternehmen, die ja oft für Südkorea stehen, ob Samsung oder Hyundai, LG oder Posco oder wie auch immer, auch gegen sie, und zwar erstmals gegen ihre Spitzenleute, wird ermittelt; aber niemand unterstreicht so deutlich, dass mit dem geforderten Rücktritt auch eine Änderung der krass neoliberalen, antigewerkschaftlichen aggressiven Linie der Park-Regierung stattfinden muss, eine Kursänderung, am besten eine grundlegende Kursänderung.

Irgendwann geben wir auf, auch wenn es angenehmer Brauch ist, während Kundgebungen zu sitzen. Durch das Gewühl zurück in jene Altstadtgasse, in der wir uns am Abend vorher bereits wohl gefühlt haben – heute ist sie, so möglich, noch voller: Jede Menge Menschen hier mit Stirnbändern und Pappschildern und überall, überall in jedem einzelnen kleinen Lokal laufen die Fernseher und alle Kanäle haben dasselbe Programm und alle schauen zu, auf die immer gleichen Bilder von nicht enden wollenden Menschenmassen, von allen möglichen Formen schriftlicher Forderungen – Rücktritt sofort. Beim zwischenzeitlichen mehrfachen Rauchen – zwei Schritte von den Tischen am Eingang entfernt, mit anderen Worten am Eingang des gegenüber liegenden Lokals, werde ich, zuerst von zwei Schülern, dann später von einem älteren Gewerkschafter angesprochen, englisch geht schon. Die Schüler sind fast mit der ganzen Klasse gekommen – und sie sind ganz bewusst zur Auftaktkundgebung des KCTU gegangen, weil sie auch eine andere Politik wollen, nicht nur eine andere Regierung. Unter Schülern besonders mobilisierend: Kindern aus dem Freundeskreis der Präsidentin blieb die – wie man mir versichert: schwere – Aufnahmeprüfung an die Unis „erspart“…Stadtzentrum von Seoul bei der Demonstration am 12.11.2016 - vor dem Königsdenkmal (Foto: Helmut Weiss, LabourNet Germany)

Der Kollege ist Mechaniker in der Stadtverwaltung: Die Heizung in der Präfektur wird von ihm bestreikt, und wenn sie die Sache mit dem neuen Lohnsystem nicht vom Tisch nehmen, sagt er, dann sollen sie sich, kann ich jetzt nur Bedeutungsgemäß übersetzen, im kommenden Winter den Arsch abfrieren…Ansonsten will er von mir wissen, wie das mit den Gewerkschaften in Deutschland aussehe. Als ich ihm meine Sicht der Sache dargestellt habe sagt er, das sei ja wie bei ihnen der FKTU, das sei doch nichts, worauf mir auch nicht viel zu entgegnen einfällt…

Der Abend wird noch lang, andere aus Japan kommen noch hinzu, auch unsere amerikanischen begeisterten Eisenbahner und dann wird der Abend noch länger und feuchter…

Der Tag danach

Sonntagszeitungen gibt es in Seoul viele – an diesem Tag sehen alle gleich aus: Eine Schlagzeile und ein ganzseitiges Demonstrationsbild. Scheint schon so zu sein, dass es auch unter den Mächtigen des Landes welche gibt, die Frau Park los werden wollen. War ja schon durch die Art der Berichterstattung am Vorabend zu erahnen, sonst sind die Medien in Südkorea auch nicht besser als hierzulande.

Wir treffen auf einem Stadtrundgang Streikende aus dem öffentlichen Dienst – in ihrem ziemlich leeren Streikzelt. Sonntag halt, auch beim Streik. Aber sie zeigen sich entschlossen und weiterhin streikbereit gegen das neue Entlohnungssystem, das Frau Park landesweit im Auftrag ihrer Sponsoren einführen soll, trotz andauernder Polizeiübergriffen – Frau Park muss weg, heißt für sie ganz normal, logisch, ohne weitere Debatte: Ihre Politik muss weg. Und ich bekommen zum ersten Mal: Maistee. Habe schon besseres getrunken in Südkorea, ehrlich gesagt.

Die Hinterbliebenen des Fährunglücks von 2014, als unter bis heute ungeklärten Umständen 304 Menschen starben, die meisten davon SchülerInnen auf einem Ausflug, haben bis heute ein Protest-Zeltlager mitten in der Stadt und fordern unter anderem, dass das Schiff endlich geborgen werde, um untersucht werden zu können: Ein klassischer Fall von Kapitalismus. Der Kapitän hatte bei der Reederei angemahnt, das Ding müsse dringendst repariert werden, es sei nicht mehr sicher. Gesagt, getan: Kapitän entlassen. Nächste Fahrt Katastrophe. Die Fotos der Opfer – macht ein arg komisches Gefühl…

Das Zeltlager ist unter einem Denkmal und von dort aus ziehen wir zum nächsten Denkmal, vor der japanischen Botschaft. Mit über 200 JapanerInnen am Sonntagmorgen, das ergibt dann einen Polizeiauflauf. Stirnbänder und Schilder müssen weg, sonst ist dies eine unerlaubte Demonstration. Da es ihnen um den Besuch geht, akzeptieren sie. Das Denkmal ist den koreanischen Frauen gewidmet, die in der Großasiatischen Wohlstandszone des japanischen Faschismus mit Kaiser, der Armee des Tenno sexuell dienen mussten. Diese unglaubliche staatlich organisierte Massenvergewaltigung versuchte Japan stets vergessen zu machen. Erst vor kurzem eine erste halbherzige Entschuldigung und Entschädigung, verbunden mit – unter anderem – der Auflage, eben dieses Denkmal vor der Botschaft zu entfernen – weswegen Studierende der Nationaluniversität eine Dauerwache organisiert haben, um eben dies zu verhindern. Und die Wache freut sich sehr, dass da Hunderte JapanerInnen kommen, sie zu unterstützen.

Nach dem Rundgang Spaziergang und am Abend wieder einmal Altstadtgasse, so ist der Plan, kann man sich sehr leicht daran gewöhnen, nur leider: Fehlanzeige, total geschlossen am Sonntag. Dann halt Biercafé, deutsch – amerikanische Freundschaft üben, später, auf dem Hotelzimmer, mit japanischer Beteiligung.

Zum Schluss das Podium

Ich glaube, ich habe mich verhört. Podiumsdebatte beim Gewerkschaftshaus des KCTU. Okay. Doro Chiba, US-Busfahrer (die Freunde sage ich jetzt schon, von den Eisenbahnern fanden sich nicht so wichtig) koreanische Prekärengewerkschaft und LabourNet Germany – wie bitte, ich etwa? Finde mich auch nicht so wichtig, sie wollen aber über alle vier anwesenden Länder was hören. Also erzähle ich wieder mal, dass die BRD so golden nicht ist, wie sie auch bei ihnen oft dargestellt wird, und wiederhole die Kritiken am DGB, wie schon mehrfach. Am eindeutig besten der Beitrag der jungen Frau, die die kürzlich gegründete Gewerkschaft der TeilzeitarbeiterInnen vertritt – ein ganz typischer Fall jener neuen Gewerkschaften, die die KCTU Kollegen in früheren Gesprächen angesprochen hatten. Explosionsartige Mitgliedersteigerung in den ersten Monaten anhand von im Wesentlichen zwei völlig normalen Forderungen: 10.000 Won/Stunde Mindestlohn und Mitsprache bei den Schichtplänen, die oft so sind, dass sie ein Leben unmöglich machen. Hinterher, beim Rauchen vor der Tür habe ich noch mal die Gelegenheit, mit ihr zu reden, mit Dolmetscher, versteht sich. Und was sie erzählt, bestätigt einmal mehr, was die KCTU Kollegen erzählt hatten – und sie sehen im KCTU, dem sie nicht angehören, eine Art großen Bruder, sagt sie, und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke und die Male, die meiner mich rausgehauen hat aus komplizierten Situationen, dann finde ich dieses Bild vielversprechend…

Danach gibt es unendlich Essen und koreanisches Bier, nicht so gut wie japanisches, aber was soll es und dann ist auch schon die Zeit der Abschiede gekommen, denn am nächsten Morgen ist 4 Uhr aufstehen angesagt, nach Tokyo, dann nachmittags nach Frankfurt…

Während der 28 Stundenreise vom Seouler Hotel zur Dortmunder Haustür kommen mir viele Gedanken, die niemand interessieren dürften, aber auch dies: In beiden Ländern habe ich erlebt, dass die Menschen so sehr unterschiedlich gar nicht sind, wie oft behauptet wird. Die eine Sitte und der andere Brauch sind anders, wie überall, klar. Die Welten waren andere: Während es in Japan eben in Zusammenarbeit mit einer kleinen linken gewerkschaftlichen Alternativbewegung war, war koreanisch mehrheitlich Massenaktivität angesagt.

Helmut Weiss am 25. November 2016

Mit Dank an alle, die sich in beiden Ländern wegen mir Arbeit gemacht haben und der Versicherung, die solidarische Zusammenarbeit fortzusetzen, an die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt für die Finanzierung der Reisekosten und an die Rosa Luxemburg-Stiftung externer Link für die Förderung dieser Berichterstattung sowie an das female Gold Star Team LabourNet Germany, die meine Arbeit auch noch machen mussten…

Rosa-Luxemburg-Stiftung Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt

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Teil 2: Der große Aufmarsch in Seoul – folgt ein Abmarsch?

Korea 12.11.2106: One million candlelight vigil calling for democracyDer 12. November 2016 in Südkorea (und keineswegs nur in Seoul): Es war einer jener Tage, die man lange nicht vergisst – eine jener Demonstrationen, deren Anfang  und Ende unbestimmbar bleiben, weil sie überall ist: Erstmals seit langer Zeit musste die Polizei von Seoul – auf richterliche Anweisung – die gesamte Innenstadt für eine Demonstration frei geben, für den Verkehr schließen. An zahlreichen Kundgebungsorten sammelten sich Menschen zu einem Sternmarsch, um nach den Kundgebungen, wie es in Südkorea üblich ist, zur Demonstration aufzubrechen. Nur: Der Aufbruch ließ lange, sehr lange auf sich warten, weil kein Platz da war. Niemand hat die Zahl der TeilnehmerInnen exakt gezählt, wie auch. Aber: Noch Kilometer von der eigentlichen Route entfernt, traf man Menschen die, sei es mit den Kerzen oder mit Schildern,  ihre Meinung und ihre Teilnahme kundgaben – „Park tritt zurück!“

Vor dem Rathaus von Seoul

Vor dem Rathaus in Seoul, einem riesigen, futuristisch anmutenden Glasbau,  war der Kundgebungsort des Gewerkschaftsbundes KCTU. Der vorausschauend, in allen Nebenstraßen gigantische Leinwände aufgebaut hatte, damit auch jene Tausende von Menschen, die nicht mehr auf den Platz kamen, die Kundgebung sehen konnten. In den Nebenstraßen der Nebenstraßen allerdings nicht – dass es so viele sein würden, konnte man beim besten Willen nicht voraussehen. Eine Kundgebung, in der nicht nur die Korruption der Park-Regierung kritisiert wurde, sondern eben auch – und vor allem – ihre Politik. Denn: Die Korruptionsaffären, die das Land und die Menschen bewegen, haben auch direkt damit zu tun, dass die großen koreanischen (Familien-)Unternehmen sich eine Regierung zusammengekauft haben, auf eine Art, die jedes kommunistische Vorurteil bestätigt.

Und die, ihren Auftrag erfüllend, massiv und direkt gegen die Gewerkschaftsbewegung vorgeht, und wie überall auf der Welt, den Wunschkatalog der Unternehmen erfüllt: Flexibilisieren, totale (und billige) Verfügbarkeit der Menschen für die kapitalistische Profitwirtschaft herstellen. Weswegen die prekären Arbeits- und also Lebensverhältnisse neben der Repression gegen die Gewerkschaften das zweite große Thema dieser Kundgebung waren. Die streikenden Beschäftigten der Eisenbahnen und des öffentlichen Dienstes waren denn auch die HauptrednerInnen dieser Kundgebung, die immer wieder emotionale Höhepunkte herbeiführten. Meine Begleiter – Eisenbahner der alternativen japanischen Eisenbahnergewerkschaft Doro Chiba (die, zusammen mit jenen örtlichen Gewerkschaften, die auf ihren Appell zur Vereinigung der oppositionellen japanischen Gewerkschaftsbewegung gefolgt sind, eine Delegation von rund 220 Menschen organisierten, Aktive diverser lokaler Gewerkschaften)  – und zwei Aktivisten der USA rank and file Initiative „Railway Workers United“ (die auf ihrer Konvention – nur Eisenbahn-Beschäftigte zugelassen – immerhin über 300 Kolleginnen und Kollegen versammelten, und damit zu den größten gewerkschaftsoppositionellen Basisgruppen der USA gehören) sind, nahe liegend, vor allem von den Beiträgen der streikenden Eisenbahner beeindruckt und begeistert.

Übertroffen wird diese Begeisterung  nur vom Kurzvideo mit der Verurteilung des Gewerkschaftsvorsitzenden des KCTU, Han zu 5 Jahren Gefängnis wegen der angeblichen Vergehen, die bei einer von ihm angemeldeten Demonstration passiert seien – ein Video inklusive der Ansprache Hans beim Gang ins Gefängnis, das mehrfach lief, und immer wieder Sprechchöre verursachte, die ungefähr besagten „Hang raus, Park rein“.

Die Kundgebung dauert lange, runde drei Stunden – da kommt es einem entgegen, dass es üblich ist, die meiste Zeit zu sitzen. Nur: Als die Sonne unter  geht, wird es kalt. Und als es endlich los geht, kommt noch Wind dazu. Die Meldungen über Auseinandersetzungen, vor allem am späteren Abend vor dem von der Polizei mit Bussen umzingelten Regierungssitz, dem Blauen Haus, nimmt man so zur Kenntnis, als säße man vor dem Fernseher oder sonstwie weit weg, viel zu groß ist alles, um viel mit zu kriegen.

Immer wieder während des Zuges: Menschen, die am Straßenrand stehen, reihen sich ein – sehr oft Familien mit Kindern. Aber vor allem: Große Gruppen von Schülerinnen und Schülern, oft in Schuluniform. Aber es gibt auch eine Reihe Punker zu sehen – und viele der Turnschuhbrigaden haben sich von ihren Computern losgerissen.

Der Bürgermeister von Seoul hat ebenfalls zur Teilnahme aufgerufen – ob als Bestandteil eigner Karriereplanung oder aus echter Empörung, muss dahin gestellt bleiben. Auch diverse Führer von Oppositionsparteien fallen unter diesen Generalverdacht. Sie alle sind da – aber prägend ist die Jugend und ist auch der Gewerkschaftsbund.

Gespräche danach: Mehr als ein Rücktritt?

Beim – späten – Abendessen in einem kleinen Lokal der Seouler Altstadt im Bezirk Jongno ein einheiltiches Bild: In all diesen vielen kleinen Lokalen laufen große Fernseher und auf allen Kanälen ohne Ende Demonstrationsbilder, stundenlang, beeindruckende Massen von Menschen, die in Parolen und mit Plakaten immer wieder „Park raus“ fordern – und dies in Hunderten verschiedener Interveiws bekräftigen. Die mächtig überbesetzte kleine Gasse ist voll von Menschen, die an Tischen auf der Straße essen, aber meist ins Fernsehen schauen, und dies mit Lachen und Freude kommentieren, nahezu ausnahmslos.

In einer Zigarettenpause komme ich mit zwei ebenfalls rauchenden Schülern ins Gespräch, die wissen wollen, warum ein Deutscher sich an dieser Demonstration beteiligt hat. Und da sie gut englisch sprechen (private Englisch Schulen sind in Seoul ein geschäftlicher Renner) gibt es auch keine Kommunikationsschwierigkeiten. Da rede ich dann über Sachen wie Internationalismus und gemeinsame Gegner, im Kapital aller Varianten, über Gewerkschaften und diese Themen. Sie sagen mir, sie hätten nie zuvor Kontakt zum Gewerkschaftsbund KCTU gehabt, waren aber auf dessen Auftaktkundgebung „weil es da nicht nur um Frau Park, sondern auch um ihre Politik ging“. 26 der 29 Schüler ihrer Klasse seien dabei gewesen, sagen sie. Und unterstreichen, dass sie es für besonders wichtig halten, dass nicht nur mit Park erstmals eine amtierende Präsidentin von der Staatsanwaltschaft vernommen wird, sondern dass eben nun auch die Oberbosse von Panasonic, Hanjin, Hyundai und LG vorgeladen werden. Sie schenken mir zum Abschied eines ihrer Stirnbänder, dessen Aufschrift passend lautet: „Park und ihre Politik weg!“

Und es geht so weiter, in und vor allen Lokalen, die Gasse wird eng und enger – und ein Tisch redet über mich, als ich, wieder einmal, rauchenderweise Mitten im Trubel stehe. Ein Mann etwa in meinem Alter erhebt sich und spricht mich an – die englische Kommunikation ist da schon wesentlich schwieriger – er ist einer, der in der Reparatur-Abteilung des Präfekturgebäudes arbeitet und ist seit drei Wochen im Streik, wie fast alle seiner rund 700 Kolleginnen und Kollegen. Sie wehren sich gegen die geplante Einführung eines sogenannten Leistungslohns, der sich für ihn und die anderen Gewerkschaftsmitglieder auf die simple Feststellung „mehr arbeiten, weniger verdienen“ reduziert. Als ich ihm sage, dass auf unserer „Tagesordnung“ am folgenden Tag ein Besuch im Streikzelt der Gewerkschaft KPTU – Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes im KCTU – steht, ist er ganz begeistert, und ich muss ihm dann, ein mal mehr, erklären, wie wir hierher kommen und warum…

Wir sind uns dann bei einem abschließenden Überblick, schon einig, dass vom Gerichtsurteil für die Demonstrationsfreiheit über die Stellungnahmen diverser gutbürgerlicher Oppositionspolitiker bis hin zur – zumindest, soweit wir es beurteilen können – einigermaßen freundlichen Berichterstattung über die Großdemonstration, eine ganze Reihe von Indizien dafür spricht, dass es auch in der herrschenden Klasse Südkoreas einen offensichtlich nicht so schwachen Trend gibt, diese Präsidentin los zu werden, bevor sie noch mehr Schaden fürs Kapital anrichtet. Und dass es dementsprechend umso wichtiger ist, zusammen mit der Präsidentin auch ihre Politik zu kritisieren, um einen einfachen Personaltausch zu verhindern.

Der Morgen danach

Am nächsten Morgen also gehen wir in einer Gruppe von etwa 220 Menschen durch die Innenstadt Seouls zum Streikzelt der öffentlichen Bediensteten. Wo es, am frühen Sonntagmorgen, reichlich leer ist. Der örtliche Vizevorsitzende der Gewerkschaft erläutert uns ihren Widerstand gegen die Einführung des neuen Lohnsystems – und zieht dabei dieselbe Schlussfolgerung, wie der Kollege am Abend zuvor. Wie schon auf dem ganzen Weg, so ist auch das Streikzelt voll mit Sonntagszeitungen, die alle, ohne Ausnahme, seitengroße Bilder von der Demonstration am Vorabend veröffentlichen, die Berichterstattung pendelt sich auf einem Zahl von etwa 1 Million TeilnehmerInnen ein.

Der Kollege von der Streikleitung unterstreicht nochmals in emotionalen Worten, dass es keinesfalls nur um Korruption gehen dürfe und auch nicht nur um den Einfluss einer nichtöffentlichen Person (die langjährige Freundin der Präsidentin) auf die Regierungsgeschäfte: Es sei ja deutlich, dass wer bezahlt habe, die großen koreanischen Unternehmen gewesen seien – und die würden niemals bezahlen, ohne etwas dafür zu bekommen…

Auf unserem weiteren Marsch durch die Innenstadt erregen wir ziemlich viel Aufmerksamkeit – auch bei der Polizei. Als wir zum Denkmal für die koreanischen Frauen gehen, die in der Zeit der japanischen Besatzung gezwungen wurden, als Prostituierte für die Armee des Tenno zu arbeiten, werden wir gestoppt – die japanischen GewerkschafterInnen müssen ihre Plakate und Spruchbänder wegpacken, sonst sei dies eine unangemeldete Demonstration, die die Polizei unterbinden werde. Für die Delegation ist der Besuch bei dem Denkmal zu wichtig, um sich mit der Polizei eine Auseinandersetzung zu liefern, also stimmen sie zu: Denn das Denkmal steht vor der japanischen Botschaft. Und die japanische Regierung hat in einem Vertrag erstmals Entschädigungen zugesagt – unter anderem unter der Bedingung, dass das Denkmal entfernt werde. Wozu die koreanische Regierung Park, fast schon im Stil einer Bananenrepublik, was Südkorea sicher nicht ist, ihr Einverständnis abgab. Nicht aber die japanische Linke und schon gar nicht zahlreiche Menschen aus Südkorea. Weswegen StudentInnen der Seouler National-Universität eine Dauer-Mahnwache organisiert haben, die sie seit Monaten fortsetzen. Der am Sonntagmorgen einzige anwesende Student ist hellauf begeistert vom „japanischen Solidaritätsaufmarsch“, die Polizei bleibt auf Sichtweite, alle, die aus Japan kommen, fotografieren viel.

Auf dem Weg zum gemeinsamen Mittagessen, erneut durch nun wesentlich belebtere Innenstadtbereiche, kann man einiges erkennen: Es gibt in Seoul – im Gegensatz zu unserer vorherigen Station Tokio – Straßenhandel und zwar recht massiv. Und es wird deutlich: Auch Seoul ist Ziel größerer Ströme der Migration: Menschen aus Nepal und Myanmar sind jene, die Arbeiten machen wie Straße fegen, jene aus Indien sind nicht zuletzt in den zahlreichen Unternehmen der digitalen kapitalistischen Welt aktiv, so werden wir von unserer KCTU Begleitung informiert.

Und ein junger Mann spricht mich an: Die ganze Demonstration gestern sei das Werk der nordkoreanischen Kommunisten gewesen, meint er und ich komme nicht dazu, ihn zu fragen, welche nordkoreanischen Kommunisten er denn meine, wo ich nur von Familiendynastien weiss…Aber die gibt es eben auch, wie überall, und die politische Rechte in Südkorea ist keineswegs schwach, schließlich ist auch die jetzt so umstrittene Park-Regierung eine Formation dieser Strömungen.

Eine Abschlußdebatte um mögliche Abgänge und ihre Bedeutung

Am Montag Nachmittag endet unser Aufenthalt mit einer Podiumsdiskussion beim regionalen KCTU, an der alle ausländischen Delegationen teilnehmen und rund 50 KCTU-Mitglieder.

Es reden dabei ein Vertreter von Doro Chiba über die wachsende Zusammenarbeit der japanischen Gewerkschaftsopposition, ein Busfahrer-Gewerkschafter aus den USA über die Möglichkeiten der US-Gewerkschaften nach Trumps Wahlsieg, die er – vom Publikum zumeist positiv aufgenommen, im Gegensatz zu mir – als besser beurteilt, als vor der Wahl, ich über die Leiharbeit-Tarifrunde des DGB und die LabourNet Kampagne dagegen, und vor allem: Eine junge koreanische Teilzeitarbeiterin über die Arbeit ihrer neu gegründeten Gewerkschaft, die in wenigen Monaten über 10.000 Mitglieder erreicht hat. Ihr hat sozusagen der KCTU – dessen Vertreter natürlich Einleitung und Abschlußrede halten – seinen Platz auf dem Podium überlassen, obwohl diese Gewerkschaft nicht dem verband angehört.

Glücklicherweise finde ich einen Dolmetscher, was es mir erlaubt, mich ein wenig ausführlicher und konkreter mit der Kollegin zu unterhalten – nach der Veranstaltung, wie fast immer bei solchen Gelegenheiten, überall auf der Welt.

Dabei wird deutlich, dass es kein Zufall ist, dass es eben eine junge Kollegin ist, die für dieses Gewerkschaft spricht: Das Durchschnittsalter ihrer Mitgliedschaft liegt bei etwa 24 Jahren. Und die jüngeren ArbeiterInnen Südkoreas sind heute nahezu alle prekär beschäftigt, in diversen Formen wie Leiharbeit, Zeitarbeit, Teilzeitarbeit – der Anteil solcherart Beschäftigung ist ohnehin hoch, bei den Jüngeren aber ist es in großer Mehrheit so. Der Kampf der Gewerkschaft gilt vor allen Dingen zwei aktuellen Zielen: Zum einen, einen lebenssichernden Mindestlohn zu verdienen, den sie für TeilzeitarbeiterInnen auf 10.000 Won/Stunde festlegen (etwa 9 Euro) – und zum anderen für geregelte Schichtpläne, denn die Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten arbeiten sozusagen auf Abruf, was leicht verständlicher Weise das Leben der Menschen weitgehend kaputt macht. Auch die massive Ausbreitung solcher „flexiblen Arbeitszeiten“ ist Ergebnis der sogenannten Reformen der Frau Park im Auftrag der Unternehmen – so sieht es beileibe nicht nur meine Gesprächspartnerin… weswegen auch sie die hier allgemein verbreitete Position vertritt, zusammen mit Park müsse auch ihre Politik „den Abgang“ machen…

Helmut Weiss, 17. November 2016

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Teil 1: Die Gewerkschaft, der Tsunami – und Überraschungen

Es ist der vierte Abend, den ich in Japan verbringe, als ich es endlich begreife: Die Gewerkschaftslandschaft in Japan sieht vor allem deshalb so anders aus, als unsere in der BRD, weil die Rahmenbedingungen ganz andere sind. Aufgeflackert war das Thema schon am ersten Tag bei der Versammlung in Chiba und auch bei der Demonstration in Tokio am zweiten Tag, dem Sonntag, erst recht bei der ersten abendlichen Diskussionsveranstaltung in Fukushima am Tag zuvor: Das japanische Gewerkschaftsgesetz.

Das es je drei Beschäftigten eines Unternehmens ermöglicht, eine eigene Gewerkschaft zu gründen. Oder drei gründungswilligen Beschäftigten aus drei verschiedenen Unternehmen oder Einrichtungen, eine vereinte Gewerkschaft zu gründen. Mit der die Unternehmen verhandeln müssen. Die entsprechend auch Streiks beschließen können. Tarifverträge vereinbaren. Und die ihre Betätigungsfelder selbst bestimmen, also etwa auch hier in der Gegend – an diesem vierten Abend sind wir in Iwaki – die zentrale Frage von Radioaktivität und Gesundheit.

Der Vorsitzende der Eisenbahnergewerkschaft Doro Mito hat mir das erklärt, anhand ihres Widerstandes gegen die Wiedereröffnung der Bahnlinie im verseuchten Gebiet, die selbst durch eine Geisterstadt führen sollte. Aufgrund dieses Widerstandes konnte die Linie bisher nur Abschnittsweise eröffnet werden, weit hinter dem Zeitplan zurück, den die Regierung vorgegeben hatte. Doro Mito ist eine kleine Gewerkschaft mit knapp 50 Mitgliedern, aber eben durchaus auch wirksam, weswegen sie auch etwas Zulauf bekommt.

Wenn die Aktiven des wachsenden Netzwerkes der Doro-Gewerkschaften über ihre Arbeit sprechen, wo auch immer in dieser Region, dann steht im Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit der Politik der Regierung Abe, die alles tut – inklusive der erfolgreichen Olympiabewerbung, die den endgültigen Abschluss dieser Politik bedeuten soll – um wiedergewonnene Normalität zu beweisen. Da werden kostenlose Volksfeste organisiert, garniert mit viel künstlerischer Prominenz, da werden neben verlassenen Siedlungen neue gebaut (und über den alten „der Deckel geschlossen“ ganz ohne jegliche Dekontaminierung) und es wird angekündigt, spätestens Ende 2017 sei keine Unterstützung mehr nötig für Menschen, die vor den Folgen des GAU fliehen mussten.

Im Container

Darüber hatte ich am Vortag im „Gemeinschaftscontainer“ eines Flüchtlingslagers mit zwei älteren Menschen radebrechend geredet: Sie leben seit 5 Jahren mitten in der Großstadt Fukushima in Containern, direkt neben einem Gelände, auf dem fast ebenso lange Tausende schwarzer Plastiksäcke, von einer grünen Plane verdeckt, sich befinden: Radioaktiver Müll, natürlich nur zwischengelagert, seit 5 Jahren.

Was heißt hier Zwischenlager, fragen sie beide, es gäbe in der Erdbebenzone Japan keine Endlagerstätte. Höchstens für Menschen wie sie selbst. Es sind eben vor allem ältere Menschen die, wenn überhaupt, zuletzt aus diesen Containerlagern heraus kommen.

Und es sind vor allem Kinder, die die meisten gesundheitlichen Auswirkungen erleben müssen – das erfahre ich in der kollaborativen Kinderklinik von Fukushima, die die Gewerkschaften zusammen mit zahlreichen anderen Initiativen organisiert haben und erfolgreich um ihre weitere Finanzierung durch die Behörden gekämpft. Sie haben kleinteilige statistische Analysen etwa über Schilddrüsenkrebs gemacht: Es gibt eben Straßenzüge in kleineren Orten in der Umgebung Fukushimas wo man diesen Krebs seit Jahren plötzlich statistisch erfassen kann. Wo vorher ab und an ein Fall auftrat, sind es jetzt an mehreren Orten 20 oder sogar mehr, das tritt immer wieder auf: Die Veränderungen sind „klein“ summieren sich aber und sind tiefgreifend. Wie etwa am nächsten Tag, als wir von Fukushima nach Iwaki fahren und in einem der „geschlossenen Dörfern“ der im Auto liegende Geigerzähler plötzlich wie rasend Krach macht – die Präfektur hat sie ausgeteilt, viele haben sich selbst einen gekauft (ukrainische Modelle sind beliebt, „die haben Erfahrung“) und die zeigen meist mehr Strahlung an, ein Dauerthema. An dieser Stelle werden statt der offiziellen Höchstgrenze von 0,2 Millisievert Strahlung 6,4 gemessen, solche Stellen – diesmal rund 1 Kilometer lang, gibt es immer wieder, aber diese ist der Rekordhalter unserer Fahrt.

Und immer wieder zu sehen: Arbeitszentren, wo aus dem ganzen Land angeheuerte Zeitarbeiter Erde umgraben und Dekontaminierungsarbeiten beginnen. Eine Schnellausbildung erhalten sie in dem Sportzentrum, in dem während der Fußball-WM 2002 Argentinien konzentriert war. Und die Zentrale aller dieser Arbeiten ist eine gewaltige Blechhalle, in der sogenannter schwach radioaktiver Müll, wie auch immer, verarbeitet wird. Wo sie steht, war vor dem Tsunami ein Bahnhof.

Komisch wird einem ja schon, wenn man eine Viertel Stunde Auto fährt mit einem knatternden und ratternden Geigerzähler neben sich…

Im Gewerkschaftshaus

Am Abend nach dieser besonderen Fahrt, nach zwei Tagen Fukushima ist eben jene Versammlung im Gewerkschaftshaus von Iwaki, wo mir dann auch das japanische Gewerkschaftsgesetz erklärt wird. Anwesend sind Kolleginnen und Kollegen von Doro Mito und der Vereinigten Gewerkschaft aus Iwaki, nicht zuletzt dabei mehrere Kollegen aus Chemiewerken. Und natürlich dreht sich das Gespräch zuerst um Fukushima, den GAU, den Tsunami. Es wird dabei sehr deutlich, dass diese Gewerkschaften auf ganz verschiedene Weisen zahlreichere kleine Proteste gegen die offizielle Regierungspolitik der „wiedergewonnenen Normalität“ organisieren. Im Gegensatz zu den großen Gewerkschaftsverbänden Rengo und Zenroren. Die aber immer wieder Schwierigkeiten damit haben, dass Mitglieder ihrer Gewerkschaften und auch lokale Funktionäre sich an solchen Protesten beteiligen.

Dass, so vor allem die Eisenbahner von Doro Mito, habe eine lange Tradition, und es gäbe in der Regel Unruhe, wenn Mitglieder der großen Gewerkschaften mit ihnen zusammen arbeiten: Was sie zuletzt vor einigen Jahren beim Kampf gegen die beabsichtigte Schließung des Ausbesserungswerkes in Iwaki massiv getan hatten: Doro Mito rief den Streik aus und es beteiligten sich nahezu alle – mit dem Erfolg, dass das Werk auch heute noch funktioniert.

Ich frage sie, warum sie und Doro Chiba vor allem, immer so massiv auf die fast 30 Jahre zurück liegende Privatisierung der Eisenbahnen verweisen – und sie erklären mir die historische Bedeutung dieser Maßnahme. Nicht nur, dass es die erste Großprivatisierung war, die da 1987 stattfand. Es wurden alle 400.000 Beschäftigten der damaligen Japan National Railway entlassen (unter Bruch geltenden Rechts, wie der Musterprozeß von Doro Chiba für die 1.047 entlassenen KollegInnen ihrerer Region abschließend ergab) und damit eben auch 220.000 Gewerkschaftsmitglieder. Sie wurden sowohl von der größten privaten Nachfolgegesellschaft Japan Railways, als auch von den anderen Betreibern, individuell wieder eingestellt: 200.000 von ihnen, die Hälfte. Von denen aber nur noch 40.000 Gewerkschaftsmitglieder waren. Es war eben auch ein gewaltiger Schlag gegen jede kämpferische Strömung in der japanischen Gewerkschaftsbewegung, das seien die beiden Gründe für die sowohl historische, als auch aktuelle Bedeutung dieser Privatisierung.

Helmut Weiss, 11. November 2016

Siehe dazu

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=106922
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