Residenzpflicht: Wohnsitzauflage im neuen Integrationsgesetz – und neuer Widerstand
Dossier
„… Nach neuer Gesetzeslage müssen anerkannte Flüchtlinge nun – mit Ausnahmen – für drei Jahre in dem Bundesland wohnen, dem sie zur Durchführung ihrer Asylverfahren zugeteilt wurden. Besonders dramatisch ist der Zeitrahmen: das Gesetz gilt rückwirkend bis zum 01.01.2016. Damit müssen Flüchtlinge, die bereits vor Monaten – legal – Wohnungen im Bundesland ihrer Wahl bezogen haben, ihre Wohnungen verlassen und wieder zurück in das zuständige Bundesland. Kommen Sie dieser Aufforderung nicht nach, dann droht die Streichung der Sozialleistungen. Die Kommunen stellen folglich Aufforderungen zur Ausreise aus. Diese Aufforderungen sind mit sehr kurzen Fristen, von einer Woche oder 14 Tagen, versehen. „Es ist absolut unrealistisch, dass die Flüchtlinge innerhalb dieser kurzen Zeiten eine neue Wohnung in einem anderen Bundesland finden. Wenn dieses Vorgehen nicht geändert wird, besteht für viele Flüchtlinge die Gefahr, erst einmal in der Obdachlosigkeit zu enden“…“ Pressemitteilung des Flüchtlingsrats NRW vom 31. August 2016 : „Unverhältnismäßig und unzumutbar: Die neue „integrationsfördernde“ Wohnsitzauflage“. Siehe dazu Infos, Widerstand und Hintergründe:
- Der Deutsche Anwaltverein fordert Abschaffung der Wohnsitzregelung: Für die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe besteht keine Rechtfertigung
„DAV fordert Abschaffung der Wohnsitzregelung [für Geflüchtete nach § 12a AufenthG]. Entgegen der gesetzgeberischen Absicht hat sich diese Vorschrift gerade nicht als integrationsfördernd erwiesen. (…) Seit August 2023 liegt eine durch das BAMF veranlasste und von ihm publizierte wissenschaftliche Evaluation mit der Einschätzung vor, dass die Wohnsitzregelung „sehr wahrscheinlich nicht integrationsfördernd“ ist. „Die Auswertung belegt unter anderem einen hohen bürokratischen Aufwand, negative Einflüsse auf die Wohnraumversorgung und die Arbeitsaufnahme sowie eine größere Gefahr sozialer Ausgrenzung“, schildert Rechtsanwalt Berthold Münch, Mitglied des DAV-Ausschusses Migrationsrecht. „Mit diesem Evaluationsergebnis werden die Resultate älterer Erhebungen eindrucksvoll bestätigt.“ Gerade die Arbeitsmarktintegration leistet einen zentralen Beitrag zur sozialen Integration. „Sie schafft vielfältige soziale Kontakte und vermittelt dadurch niedrigschwellig Werte und Perspektiven, sie verbessert Sprachkompetenzen und verhindert Vereinsamung“, betont Münch. „Vor allem aber ermöglicht sie gesellschaftliche Beteiligung aufgrund wirtschaftlicher Freiheiten.“ Wenn die Integration in den Arbeitsmarkt (und damit in die Gesellschaft) durch die Wohnsitzauflage de facto eher behindert wird, fällt das zentrale Argument des Gesetzgebers weg. Der DAV fordert daher, § 12a Aufenthaltsgesetz aufzuheben. „Es besteht weder eine Rechtfertigung für die damit verbundenen schwerwiegenden Grundrechtseingriffe, noch gibt es eine Grundlage der Regelung im geltenden oder im kommenden Unionsrecht“, so der Rechtsanwalt. (…) Ausdrückliche Absicht des Gesetzgebers war die Förderung nachhaltiger Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland – eine Fehleinschätzung, wie sich nun zeigt…“ DAV-Pressemitteilung vom 11. Juli 2024 - [Studie] Wohnsitzauflage für Geflüchtete behindert [nicht nur] Jobsuche
„… Geflüchtete, denen eine bestimmte Wohnregion vorgeschrieben wird, haben einer Studie zufolge schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das geht aus einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zu den Auswirkungen regionaler Wohnsitzauflagen hervor. Die Verbote, ohne Genehmigung umzuziehen, senkten die Wahrscheinlichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um rund sechs Prozentpunkte, hieß es. Befragt wurden 8.000 Geflüchtete. Regionale Wohnsitzauflagen für anerkannte Geflüchtete wurden trotz massiver Kritik aus der Opposition und von Experten 2016 eingeführt. (…) Die Umzugsverbote verhindern den Angaben nach allerdings oft den Auszug aus einer Gemeinschaftsunterkunft in eine private Wohnung. In Hinblick auf die Teilnahme an Integrationskursen und den Erwerb der deutschen Sprache zeigten sich keine eindeutigen Befunde, wie die Forscher des zur Bundesagentur für Arbeit gehörenden Instituts erklärten. „Die bisherigen Ergebnisse sprechen nicht dafür, dass das Ziel des Gesetzes, die Integrationschancen von Geflüchteten durch die Einführung der Wohnsitzauflagen zu verbessern, tatsächlich erreicht wurde“, betonten die Autoren der Studie. Bei der Arbeitsmarktintegration und der dezentralen Unterbringung außerhalb von Gemeinschaftsunterkünften sei eher das Gegenteil der Fall. Bereits 2018 hatten Wissenschaftler die Auswirkungen der Wohnsitzauflage untersucht und waren zu ähnlichen Ergebnisse gekommen.“ Meldung vom 28. Januar 2020 beim MiGAZIN - Bundesregierung will dauerhafte Wohnsitzpflicht für Flüchtlinge
„Die Bundesregierung will dafür sorgen, dass Flüchtlingen auch künftig der Wohnsitz in Deutschland vorgeschrieben werden kann. Die Regelung zur sogenannten Residenzpflicht, die 2016 zur Bewältigung des Flüchtlingsandrangs wieder eingeführt wurde, soll nach Plänen der Bundesregierung entfristet werden. Dies sieht ein Gesetzentwurf vor, der am Mittwoch vom Kabinett beschlossen wurde. Die damals befristete Regelung würde andernfalls am 6. August auslaufen. Das Kabinett begründet die angestrebte Befristung damit, dass sich die Wohnsitzpflicht als integrationspolitische Maßnahme bewährt habe. (…) Das Gesetz zur Entfristung der Regelung sieht nach Angaben eines Ministeriumssprechers kleinere Anpassungen der Wohnsitzpflicht vor. So soll unter anderem die Residenzpflicht nach einem Umzug weiter gelten, wenn der Grund für den Umzug kurzfristig wieder entfällt, etwa ein Arbeitsverhältnis schnell wieder aufgelöst wird. Bei der Verteilung sollen künftig Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche berücksichtigt werden…“ Beitrag vom 28. Februar 2019 beim Migazin
- Oberverwaltungsgericht Münster: Land darf Flüchtlingen nicht ihren genauen Wohnort vorgeben
„… Flüchtlinge dürfen laut einem Gerichtsurteil zu einem Aufenthalt in einem Bundesland, nicht aber an einen bestimmten Ort verpflichtet werden. Eine Landesregelung, die etwa den Wohnsitz dort festlegt, wo Flüchtlinge aktuell bei der Zuweisung auf die Gemeinden wohnen, sei rechtswidrig, erklärte das Oberverwaltungsgericht Münster in einer Entscheidung vom Dienstag. Das sei zudem nicht mit dem Bundesrecht vereinbar. Danach soll bei der Wohnsitzauflage auch die örtliche Situation auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. (AZ: 18 A 256/18) (…) Damit änderte das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung der Vorinstanz ab. Geklagt hatte ein irakischer Flüchtling, den die Bezirksregierung Arnsberg verpflichtet hatte, an seinem aktuellen Wohnsitz in Kerpen zu bleiben …“ Meldung vom 5. September 2018 von und bei MiGAZIN
- Härter als die CSU: Protest gegen integrationsfeindliche Politik der NRW-Landesregierung – Offener Brief und Demo am 19. November in Düsseldorf
„+++ Mehr als 250 nordrhein-westfälische Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen der Flüchtlingshilfe protestieren mit einem Offenen Brief gegen Vertreibung und Wohnsitzzwang in NRW +++ Demonstration am Samstag, den 19. November in Düsseldorf +++
Als einzige Landesregierung will das rot-grüne Kabinett um NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) die umstrittene Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge rückwirkend umsetzen. Tausenden von Menschen droht eine Vertreibung aus Nordrhein-Westfalen, obwohl sie in Übereinstimmung mit allen Gesetzen nach NRW gezogen sind. In einem offenen Brief zeigen sich jetzt mehr als 250 Organisationen, Vereine und Einzelpersonen „schockiert und empört über den Umgang der Landesregierung mit dem Integrationsgesetz und der darin verankerten Wohnsitzauflage“. Sie fordern die Verantwortlichen auf, den „eingeschlagenen integrationsfeindlichen Kurs zu ändern“…“ Pressemitteilung bei Treffpunkt Asyl Bochum vom 17. November 2016 . Siehe dazu:- Die Demonstration „Wir wollen hier bleiben!“ beginnt am Samstag, den 19. November 2016 um 15 Uhr am Platz der Deutschen Einheit in Düsseldorf
- Offener Brief gegen die Wohnsitzauflage inkl. allen Unterzeichner*innen , auch dem LabourNet Germany!
- Integrationsgesetz: Wohnsitzregelung / SGB II: Weisung BMAS, BA
Am 29. September 2016 „… ist ein Rundschreiben des Bundesarbeitsministeriums / der Bundesagentur für Arbeit erschienen, das bundeseinheitliche Regelungen zur Zuständigkeit der Jobcenter in Zusammenhang mit Wohnsitzauflagen nach § 12a AufenthG enthält. In allen Fällen , in denen Betroffene entgegen einer Wohnsitzauflage an einen anderen Ort umgezogen sind, müssen zumindest vorläufige Leistungen analog § 43 SGB I für in der Regel sechs Wochen erbracht werden, in besonderen Fällen auch länger. Die Höhe der vorläufigen Leistungen müssen sich „an den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II orientieren“…“ Info-Mail von Claudius Voigt vom 30. September 2016, mit umfangreichen Anhängen dokumentiert bei Harald Thomé . Siehe dazu besagtes Rundschreiben des Bundesarbeitsministeriums/ der Bundesagentur für Arbeit zum Donwload bei der GGUA
- Arbeitshilfe: Wohnsitzauflagen- sozialrechtliche Auswirkungen
Prof. Dorothee Frings (Hochschule Niederrhein) und Rechtsanwältin Eva Steffen (Köln) haben eine aktuelle Arbeitshilfe zur „Neuen Wohnsitzauflage und ihren sozialrechtlichen Auswirkungen“ erstellt – zum Download bei der GGUA
- Flüchtlinge: Residenzpflicht sorgt für chaotische Zustände in NRW
„Auch anerkannte Flüchtlinge sollen nicht mehr frei in Deutschland umziehen. In der Praxis ist das schwierig. NRW-Großstädte ringen mit der Vorgabe. Die Hoffnung vieler Großstädte in NRW auf eine gleichmäßigere Verteilung anerkannter Flüchtlinge durch die neue Wohnsitzauflage des Bundes ist einer ersten Ernüchterung gewichen. Bei der Umsetzung des Bundesgesetzes stoßen immer mehr Städte auf erhebliche Probleme, weil es an einheitlichen Regelungen fehlt…“ Artikel von Stephanie Weltmann in der WAZ online vom 29. August 2016
Siehe zum Widerstand dagegen:
- Das Dossier: Bochum: Flüchtlingsprotest gegen Wohnsitzpflicht im Integrationsgesetz
- Wohnsitzauflage: Flüchtlinge in Gelsenkirchen demonstrieren weiter
„Vor dem Hans-Sachs-Haus versammelten sich auch am Montag 100 und mehr Menschen. Auf GE stehen als vermeintliche Initiatoren der Aktion in der Kritik. Es ist Tag fünf der Flüchtlings-Demonstration vor dem Hans-Sachs-Haus, Tag fünf des Protests gegen die von der Stadt rückwirkend geltend gemachte Wohnsitzauflage für rund 1900 Menschen. Die nach Gelsenkirchen kamen, nachdem sie in anderen Orten und Bundesländern registriert wurden…“ Artikel von Inge Ansahl bei der WAZ online vom 30. August 2016
Siehe zum Hintergrund:
- Fördern und Fordern reloaded: Große Koalition einigt sich auf Integrationsgesetz. Unser Dossier mit Infos zum sog. „Integrationsgesetz“