Wie die Bundesrepublik theoriesüchtig wurde, weil sie nachfaschistisch „erklärungsbedürftig“ war – und wie sie es jetzt wieder für Europa werden könnte?
Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 15.8.2016
Von Adorno zu Foucault und wieder „zurück“ zu Neumann, Kirchheimer und Marcuse … und so wird ein wichtiger Teil – jetzt als theoriesüchtig bezeichnet – unseren eigenen Lebens zur „Geschichte“…
Nach dem linken Buchhandel (= weiter unten) hatte sich – sozusagen als „weitschweifigeren“ Kommentar zur Konjunktur des Begriffes „Lügenpresse“ Gustav Seibt an diesem Wochenende in der Süddeutschen auch noch den Aufsatz von Theodor W. Adorno „Meinung, Wahn, Gesellschaft“ ausgegraben. (https://www.stine.uni-hamburg.de/scripts/mgrqispi.dll?APPNAME=CampusNet&PRGNAME=COURSEDETAILS&ARGUMENTS=-N000000000000001,-N000333,-N0,-N335672968945706,-N335672968903707,-N0,-N0,-N0 ). Seibt meint, Adorno hätte „visionär“ schon „voraus“gesehen, was sich jetzt so in unserer Öffentlichkeit mit „Lügenpresse“ & Co. ereignet.
Öffentliche Meinung „nicht durch sachliche Einsicht gewonnen, sondern von der geltenden Autorität bestimmt“. (Adorno)
Schon Adorno hatte eben festgestellt, dass Meinungen – indem sie sich anscheinend von den Fakten „emanzipieren“ – die Tendenz haben, nicht nur zu Glaubensbekenntnissen, sondern sogar zu Wahnsystemen zu werden. Und umgekehrt deckt die Meinungsfreiheit selbstverständlich auch die Möglichkeit ab, triftige Argumente – wieder ohne sie zu prüfen – als bloße Ansichtssachen zu entwerten.
Leider ist Gustav Seibt mit dieser Analyse von öffentlicher Meinung in diesem Bezug zu Adorno (noch?) nicht im Netz, (= „Unter Faustrechtlern“ – Feuilleton der „Süddeutschen“ vom 13. August 2016) deshalb muss ich doch auch noch auf ein Defizit seiner Rezeption von Adorno aufmerksam machen – gerade, weil dies uns in Deutschland besonders zu schaffen macht – , die herrschende Wahrnehmung, die einfach eine Wahrnehmung auch der jeweils „Herrschenden“ ist. ( Es erscheint nicht als Wunder, dass just dieser Aspekt der „Meinung der Herrschenden“, der natürlich auch die Presse und die Medien ergreift, erst einmal „außerhalb“ dieser Diskussion über die demokratische Öffentlichkeit für Seibt bleibt – zu sehr würde gerade eine zentrale Schwachstelle „unserer“ Medien (= eben „nicht durch sachliche Einsicht gewonnen, sondern von der geltenden Autorität bestimmt“) – vor allem im ökonomischen Bereich – in die politische Auseinandersetzung hineingezogen und damit eigentlich schon wieder „transparent“ und öffentlich werden müsste, was er als „herrschender Diskurs“ (= der Ausdruck von Foucault) gerade nicht sein und möglichst auch werden soll…..
Der Ökonom Sinn war in Deutschland – und damit gerade auch für die Münchner „Süddeutsche Zeitung“ – eine Zeitlang der „herrschende“ Repräsentant des ökonomischen Diskurses. (vgl. zu den Möglichkeiten einer „Gegen“öffentlichkeit noch einmal „Was bedeutet Gegenöffentlichkeit“ (vom Mai 2011) (http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=9425 ) )
Mit einem „Wind of Change“ eine Öffnung des Diskurses?
Dabei hat sich dieser Diskurs gerade in letzter Zeit schon ein wenig geöffnet. (Vgl. „Kommt jetzt vielleicht doch ein – vielleicht vorerst lauer – „Wind of Change“ aus Deutschland? Oder muss es doch bei der Kammerdiener-Perspektive (Hegel) bleiben? auf der Seite 7 (= im letzten Drittel) bei https://www.labournet.de/?p=101060 vom 13. Juli 2016)
Und so erleben wir, dass inzwischen – gerade auch in der Süddeutschen Zeitung – die „andere Meinung“ von Peter Bofinger aus dem Sachverständigenrat (kurz „Wirtschaftsweise“ genannt) in einem Essay über „Walter Euckens langer Schatten“ die Berechtigung der Vorherrschaft der deutschen Wirtschaftstheorie für Europa in Zweifel gezogen werden kann. (Vgl. dazu „Noch einmal die spezifisch deutsche Philosophie der Wirtschaftspolitik, die Ordnungspolitik genannt wird: „Walter Euckens langer Schatten“ – Eine Sicht, die es in anderen Ländern nicht gibt. Oder von der „schwarzen Null“ zum „schwarzen Loch“ für die Weltwirtschaft.“ auf der Seite 2 – im letzten Drittel – bei https://www.labournet.de/?p=100830 vom 7. Juli 2016 – weiter zu Peter Bofinger auch in der „Zeit“ zum Ausbau Europas – statt einem Rückbau (= Mehrheit des Sachverständigenrates) – siehe die Seite 4 (ab der Mitte) bei https://www.labournet.de/?p=102613 vom 12. August 2016)
Oh, wie wunderbar – jetzt auch der ganze Peter Bofinger zu „Walter Euckens langer Schatten“ – auch für Europa. – Können die alles Ökonomische beherrschenden deutschen „Ordoliberalen“ doch noch erklärungsbedürftig werden?
Jetzt kann ich diesen Beitrag von Peter Bofinger „Walter Euckens langer Schatten“ nicht nur in der radikal koupierten Fsssung der Süddeutschen präsentieren, sondern sogar noch zusätzlich mit englischer Übersetzung (= am Schluss!) beim Makronom (http://makronom.de/der-lange-schatten-des-walter-eucken-15665 ). Das kann doch manches – vor allem für „Noch-Zweifler“ viel deutlicher machen.
… und noch einmal zurück zu Neumann & Co. „Im Kampf gegen Nazi-Deutschland“
Wenn man schon Adorno als Ausgangspunkt für solch eine Kontroverse über – vor allem ökonomische – Wahrheit heranzieht, kann es doch auch von Nutzen sein, in welchem Kontext er mit „seinen“ Ansichten stand – und dazu eignet sich als historisches Material wunderbar die erst jetzt veröffentlichten Arbeiten eines wichtigen Teils der Frankfurter Schule für den Kampf gegen Nazideutschland.
Die Arbeiten dieser deutschen Intellektuellen (https://www.perlentaucher.de/buch/otto-kirchheimer-herbert-marcuse-franz-neumann/im-kampf-gegen-nazideutschland.html ) hat hervorragend Detlev Claussen für die TAZ besprochen (http://www.taz.de/!5282776/ )
Was mich nur wieder bei all diesen Besprechungen „fasziniert“ ist die Ignoranz gegenüber dem Ökonomischen – der ökonomischen Problemlage jeweils. Ist das ein für Deutschland typisches Phänomen?
Wie das Vorwort des Herausgebers Raffaele Laudini so schön ausführt, war es gerade unter den Leuten der Frankfurter Schule (Adorno / Horckheimer auf der einen Seite und vor allem Neumann, aber auch Kirchheimer und Marcuse auf der anderen Seite) zu Spannungen über die Rolle des Ökonomischen bei der Beurteilung des deutschen Faschismus gekommen. (mit einem möglichst konkreten Bezug) Diese Spannungen wurden durch die Forschungs-Arbeiten der drei (Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse) für den amerikanischen OSS nicht mehr so virulent, da diese drei eben auch nicht mehr direkt für das „Institut für Sozailforschung“ in den USA arbeiteten… (http://faschismustheorie.de/wp-content/uploads/2011/08/aib82-34-36.pdf )
Um einen Pflock in dieser Auseinandersetzung einzuschlagen, hatte Franz Neumann 1942 den „Behemoth“ in den USA veröffentlicht (https://de.wikipedia.org/wiki/Behemoth_(Franz_Neumann ). Besonders von Interesse ist dann noch, dass Franz Neumann sowohl bei Adorno / Horckheimer mit der Betonung der Rolle der deutschen Wirtschaft für den Faschismus aneckte, als auch dann bei seinem Arbeitgeber, den Amerikanern. Dies brachte Marcuse in einem Gespräch mit Jürgen Habermas zum Ausdruck: „Diejenigen, die wir z.B. als ökonomische Kriegsverbrecher an erster Stelle der Liste hatten, waren sehr bald wieder in den entscheidenden Positionen der deutschen Wirtschaft wieder zu finden.“ (Vorwort Laudini seite 64)
Frankfurter Gruppe im amerikanischen OSS nimmt ihren Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands als Fehlschlag wahr: Der antifaschistische Widerstand der Arbeiterklasse musste für den Wiederaufbau von Deutschland nach der Nazi-Zeit verloren gehen.
So nahmen Neumann und seine Gruppe im OSS ihren Beitrag zum demokratischen Wiederaufbau Deutschlands als Fehlschlag wahr. (Vorwort Laudini Seite 57): „Größtenteils folgten die politischen Instanzen in Amerika lieber einen anderen Weg als die linke Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, wie es die Frankfurter Gruppe im OSS vorgeschlagen hatte, zum Ausgangspunkt des Wiederaufbaus zu machen. Nach Franz Neumanns Ansicht war die uneingeschränkte Zurückweisung des Nazismus und das direkteste und uneingeschränkte Bekenntnis zu demokratischen Grundsätzen gerade im Schutz der gewerkschaftlichen Organisationsfreiheit enthalten. So hatten die amerikanischen Behörden – im Gegensatz zu der Frankfurter Gruppe – eine besondere Beziehung zum christdemokratischen Zentrum aufgebaut, dessen ideologische Flexibilität die Partei zu einem idealen Sammelbecken für all jene Kräfte werden ließ, die versuchen, die mitteleuropäischen Gesellschaften zu stabilisieren, indem sie die soziale Revolution ebenso verhindern wie eine neue Form des deutschen Imperialismus. (Der „kalte Krieg“ gegen die Sowjetunion hatte begonnen – vgl. auch von Herbert Marcuse den 18. Abschnitt „Politische Richtlinien zur Wiederbelebung der Parteien… “ bei „Im Kampf gegen Nazi-Deutschland“ Seiten 377 ff. – und zum „Zentrum“ insbesondere die Seiten 388 f.)
Für die Frankfurter Gruppe im OSS bedeutete diese amerikanische Politik, dass der „Revolution mit legalen Mitteln“, die die Entnazifizierung und der demokratische Wiederaufbau Deutschlands ihrer Meinung nach darstellen sollte, die progressive Energie verloren ging, die der antifaschistische Widerstand der Arbeiterklasse hätte liefern sollen… und dass sie damit auf jenen „sozialdemokratischen Kompromiss“ abgemildert wurde, aus dem sich die von Marcuse später in den 1960-er Jahren kritisierte „komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit“ speiste. (Herbert Markuse, „Der eindimensionale Mensch“ – 1964)
So begann die Entnazifizierung mit einem Paukenschlag und ist zu einem Winseln verebbt, seit den Kräften, denen der Einfluss, den sie unter dem NS-Regime hatten, nur teilweise und vorübergehend entzogen wurde, der Weg zur Kontrolle über das öffentliche,soziale, ökonomische und kulturelle Leben in Deutschland abermals eröffnet worden ist. (John Herz, „The Fiasco of Denazifikation“ – 1948)
Franz Neumann entzog sich der „Unterwerfung“ unter diese amerikanische Politik, um sich der wissenschaftlichen Analyse an der Uni (Columbia) zu widmen.
und dann die Phase von 1968 ff.
Ich habe die 1968-er Bewegung allerdings nicht als ein irgendwie Abstraktes „theoriesüchtig“ erlebt, sondern – nach dieser „dunklen“ Vergangenheit – waren wir doch eher „erklärungssüchtig“. Und deshalb waren wir hungrig nach all diesen – auch theoretischen – gerade auch deutschen Texten der Weimarer Zeit: der Leute, die hatten „gehen“ müssen und deren Texte keiner kannte – oder mehr kennen wollte, weil sie nationalsozialistisch „verb(r)annt“ waren… (Auch wenn manches erst jetzt erscheint: https://www.perlentaucher.de/buch/otto-kirchheimer-herbert-marcuse-franz-neumann/im-kampf-gegen-nazideutschland.html )
Oder man kann es auch als die wilde Anfangsphase nachholender politischer Bildung bezeichnen – die dann rasch auch reichlich fragmentiert und heftigst „dogmatisiert“ wurde.
Diesen Prozess hat wiederum Wolfgang Lieb in seiner Rolle als aktiver „Mitgestalter“ dieses Prozesses – bis zu seinem Zerfall – ausführlich dargestellt (http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=2873 ).
Ein gewalttätiger Auslöser dieses politischen Prozesses war sicher die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg (= deutsche Polizei erschießt deutschen Studenten beim Protest) Und diese „Erhellung“ in diesen „nachfaschistischen Biedermeier“ (Wolf-Dieter Narr) gebracht zu haben, war doch dann doch noch das Verdienst der 68-er – trotz aller „Debakel“ zum „Ende“ hin…
Anhand einer Geschichte des linken Buchhandels in den Siebziger Jahren kann man zeigen, wie die Bundesrepublik im Gefolge von „68“ (diese Studentenbewegung) theoriesüchtig wurde. Uwe Sonnenberg hat dies in seinem Werk „Von Marx zum Maulwurf“ entwickelt.
Insgesamt geht es um die Geschichte der linken Bewegungen in der alten Bundesrepublik nach 1968, und die hatte viel auch noch – für eine gewisse Zeit – mit einem neuen Typus von Buchhandlung zu tun. Dieser entwicklelte sich aus Verkaufstischen in der Mensa und dem Anbieten von Raubdrucken in Kneipen. (http://www.sueddeutsche.de/kultur/kulturgeschichte-bildet-buecherbanden-1.3107487?reduced=true )
Den roten Faden für diese Geschichte bilden die Tagungen und Selbstverständigungen des VLB, des Verbandes des linken Buchhandels, der von 1970 bis ungefähr Mitte der Achtziger Jahre existierte.
Einige – wieder vorläufige – Gedanken zum Scheitern jetzt von 68.
Nur – und das beschreibt Martin Reeh jetzt so trefflich in der TAZ vom Samstag – wurden diese 68-er (Gerhard Schröder) dann effektiver abgelöst durch die 89-er (Angela Merkel) (= zweite Erklärung): Merkel ist Teil der „Generation 89“, die mit Francis Fukuyama die gerade real-existierende liberale Demokratie als das Ende der Geschichte begreift. Ihr Erfahrungshorizont ist der Herbst des Mauerfalls 89, als sich das „realsozialistische“ Regime auflöste, ohne einen Schuss abzugeben – und ihr Erfahrungshorizont reicht nicht bis zum Sommer 1933, als während der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. das liberale Berlin binnen kurzem in die Hauptstadt der Nazis verwandelte.
Ja, Fabian Lindner hatte es doch so „schön“ noch einmal in Erinnerung gerufen, wie bis 1933 Brüning & Co. Deutschland mit einem – auch damals unsinnigen – Spardiktat wirtschaftlich und sozial ruiniert hatte, so dass dann Hitler an Macht kam – und „stante pede“ diesen Sparunsinn beendete und die Staatsausgaben ausweitete. (http://blog.zeit.de/herdentrieb/2015/02/09/griechenland-verdient-die-unterstuetzung-deutschlands_8125#more-8125 ) Nur um mit diesen gesteigerten Staatsausgaben dann diesen verheerenden 2. Weltkrieg vorzubereiten. (Vgl. dazu den Historiker Adam Tooze, „Ökonomie der Zerstörung“)
Dass solche Gespenster der Vergangenheit zurückkommen können, ist in diesem Optimismus – fährt Martin Reeh fort – nicht vorgesehen. So kann Merkel nicht in Worst-Case-Szenarien denken. (http://www.taz.de/Kommentar-Deutsche-Syrienpolitik/!5324210/ )
Deshalb sitzt jetzt der IS in Rakka – und liegt die AfD bei 15 Prozent. Und so bleibt eben dieses Europa jetzt „perspektivlos“, was Arno Luik so vehement aufgreift: „Die Totengräber Europas“ (http://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/279/die-totengraeber-europas-3791.html )
Etwas mehr „Theoriesüchtigkeit“ könnte da heute wieder angebracht sein!
Thomas Gebauer fordert daher schlicht, die Rettung Europas erfordert nicht den Rückbau der europäischen Institutionen, sondern deren Demokratisierung und Ausrichtung an den sozialen Rechten der Bevölkerung. Die Vision von Europa war doch immer verbunden mit der Hoffnung auf eine friedensstiftende grenzüberschreitende Solidargemeinschaft. (http://www.fr-online.de/gastwirtschaft/europa-weltoffen-und-sozial-gerecht,29552916,34549538.html )
Aber wenn wir schon bei der theoretischen Bewältigung von Wirklichkeit sind, dann sollte auch noch Burkhard Lutz`ens kapitalistische Landnahme für die Informationsgesellschaft einbezogen werden. Dazu müssen wir diese „Landnahme im Informationsraum“ mit der zunehmenden Unsicherheit bei der Beschäftigung noch unter die Lupe nehmen – und die bisherige Fehlanzeige für eine angemessene Rolle des Menschen bei einer „digitalen Strategie 2025“ muss dafür überwunden werden. (https://www.labournet.de/?p=95338)
Jedenfalls fördert die bisherige Ungleichheit die Abstiegsängste – und schädigt die Wirtschaft. So wird es wichtig – vor allem auch gewerkschaftliche – Strategien zu entwickeln, damit die informationstechnische Landnahme durch das kapitalistische System keine Einbahnstrasse wird.