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Warum die LehrerInnen in Mexiko die sogenannte Reform bekämpfen – und wessen Unterstützung sie in den letzten Wochen gewonnen haben

„Yo soy CNTE!“Ohne große Pausen wird seit langer Zeit in Mexico gekämpft. Nach der unglaublich blutigen Niederschlagung der Volksbewegungen etwa in den 70er Jahren, sind seit Anfang des Jahrtausends die Proteste überall explodiert, neue Organisationen haben sich entwickelt, auch – und gerade – in der Gewerkschafts- und sozialen Bewegung. Die sich in der Regel mit zwei Problemen konfrontiert sahen – und sehen: Zum einen das Gewicht solcher bürokratischer Ungeheuer wie Gewerkschaftszentralen à la CNTM (im Vergleich dazu ist selbst der DGB lebendig) stets im Dienste der Avantgardepartei PRI. Zum anderen: Die schlicht vorhandene räumliche Trennung. Wenn man die Kämpfe der Anderen im Fernsehen sieht, wie jene aus fernen Ländern – nicht nur in Mexico ein Problem. Aber: Mit dem Kampf der CNTE, der Koordination der Gewerkschaftsopposition in der SNTE, und den Entwicklungen seit dem Beginn – genauer: Wiederbeginn – der Auseinandersetzungen Mitte Mai ist zum ersten Mal seit längerer Zeit eine landesweite Mobilisierung vorhanden, die die politische Landschaft Mexicos verändern kann. Siehe dazu zwei wichtige Dokumente: Eine (stark zusammenfassende) Übersetzung der Mobilisierungszeitung der CNTE und eine historische Solidaritätserklärung nach den Polizeimorden vom 19. Juni:

Eine Zeitung der CNTE

„Maestr@ Nummer 4 vom Juni 2016“ ist eine Sonderausgabe der Zeitung der CNTE in der ausführlich zum Kampf gegen die sogenannte Erziehungsreform Stellung genommen wird, und die Grundargumente der CNTE erläutert werden.
Im Leitartikel der Zeitung wird, ausgehend von dem Massaker von Nochixtlan in Oaxaca am 19. Juni der Regierung gegenüber die Anklage erhoben, sie wolle um den Preis von Toten ihre Politik diktieren, wobei Kultusminister Nuno als Mörder bezeichnet wird. Die bürgerlichen Medien, die nach dem 19. Juni rundherum das Thema behandelt hatten, dass unter den Todesopfern kein Lehrer sei, wird die Frage entgegengehalten, warum sie so versessen darauf seien, tote Lehrer zu finden – und andrerseits unterstrichen, genau jene Medien hätten bisher stets von der Isolation der CNTE in der Gesellschaft geschrieben, nun könne jedermann den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung selbst erkennen.
In einem weiteren Beitrag wird der Zustand des Erziehungswesens analysiert und die Frage beantwortet, warum die CNTE in der sogenannten Reform die Privatisierung sieht. Es wird darin angeführt, dass bereits heute 44% aller Schulen von privaten Einrichtungen, unter anderem auch religiösen Orden, betrieben werden. Und deren Praxis soll dem Vorhaben der Regierung entsprechend übernommen werden: Keine Lehrerinnen und Lehrer mehr zu haben, die in eben jenen Normalista – Schulen ausgebildet wurden, in denen sie auch unterrichten sollen, sondern aus den Privatuniversitäten zu rekrutieren.
Francisco Bravo, Mitglied der nationalen Leitung der CNTE unternimmt es im zentralen Artikel der Zeitung in 11 Punkten die Gründe für die Ablehnung der Reform durch die Opposition der LehrerInnen-Gewerkschaft zu erklären. Von besonderem Interesse dabei ist die Auseinandersetzung mit den „Erziehungszielen“ des Projektes von Regierung und Unternehmen: Die CNTE unterstreicht ihre völlige Ablehnung einer Erziehung, die darauf ausgerichtet werden soll, die Bedürfnisse von Unternehmen am Markt zu erfüllen. Dazu gehört auch die Ablehnung der standardisierten Prüfungen, die an den wirklichen Bedingungen des Lebens in Mexico vorbei gehen. Der Autor unterstreicht, dass die CNTE keineswegs gegen eine Reform des Erziehungswesens ist, im Gegenteil, sie für dringend nötig erachtet – und nicht erst seitdem die Regierung im September 2013 ihr Projekt dekretiert habe, aber eine, die auf breiter Debatte aller Betroffener basiere. Sie habe dafür Vorschläge gemacht, auch in den laufenden Haushaltsjahren. Wie ernst es dieser Regierung sei mit einer Verbesserung des Erziehungswesens könne man auch anhand von Entwicklungen neben der aktuellen Auseinandersetzunng sehen: Bis heute seien keine Lehrbücher in Auftrag gegeben worden, die den neuen Zielen der Schule entsprechen, Bücher und Lehrplan passten nicht zusammen. Und: Die Zahl der Schulen, an denen die Elternvereinigung die Ausgaben für Reinigung und Hygiene übernehmen musste, wachse laufend an. Zur Repression der aktuellen Widerstandsbewegung passe es, dass das ganze vorgesehene System der Lehrerbewertung an sich repressiv sei, diene es doch nur dazu, nur noch Lehrkräfte zu haben, die sich den inhaltlichen Zielen des Regierungsprojektes zur Verfügung stellen. In weiteren Artikel der Zeitung wird zum einen die Bereitschaft der CNTE zu einem wirklichen Dialog über eine Erziehungsreform unterstrichen, die verbunden sein müsse mit der Freilassung aller im Zuge der Proteste, teilweise extralegal, festgenommenen Lehrer. Und es wird abschließend auf die massive internationale Solidarität verwiesen, die insbesondere nach dem Massaker vom 19. Juni zugenommen habe und weiter zunehme.
Soweit eine kurze Zusammenfassung der 8-seitigen Zeitung

Eine historische Solidaritätserklärung

Am 21. Juni 2016 – zwei Tage nach dem Massaker von Nochixtlan in Oaxaca unterzeichneten zahlreiche Prominente und wichtige Organisationen – in beiden Fällen vor allem aus dem Erziehungsbereich im weiteren Sinne – aus Mexiko und einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen Ländern (und einigen Ländern außerhalb) eine Erklärung (Pronunciamento – das auch nach wie vor weiterhin unterzeichnet werden kann und soll) gegen den Polizeiterror und für die kämpfenden Lehrer und die Gemeinden im Widerstand, deren Übersetzung ins Deutsche wir hiermit dokumentieren.

Alto al Terrorismo de Estado en México. En defensa de la educación pública

Mexiko-Stadt, 21. Juni 2016

An die Lehrerinnen und Lehrer Mexikos
An die Völker Mexikos
An die Völker der Welt

Der mexikanische Staat massakriert die Bevölkerung, um die „Bildungsreform” durchzusetzen. Der Kampf, den heute mehrere Hunderttausend Lehrerinnen und Lehrer führen, ist jetzt und geht alle Völker Mexikos an. Es handelt sich um einen terroristisch-diktatorischen Schwenk des Staates mit dem Ziel, die letzten Überreste der Verfassung von 1917 zu demontieren. Die Frauen und Männer der mexikanischen Bevölkerung, vor allem unsere wertgeschätzten Lehrerinnen und Lehrer, konfrontieren ein Monstrum, das aus der Bildung nicht nur ein Geschäft machen will, sondern die Bildung der Kultur eines Wirtschaftsmodells anpassen will, das es diesem Land aufgezungen hat. In diesem Modell sind wir nationalen Mehrheiten eine überflüssige Bevölkerung, zur sofortigen oder langdauernden Vernichtung verurteilt. Die Regierung hat elf Personen ermordet (acht von ihnen am 20. Juni), Dutzende verwundet, weitere Dutzende verschwinden lassen und neun Lehrer in Hochsicherheitsgefängnissen inhaftiert. Zudem hat sie mehrere Dutzend Haftbefehle in verschiedenen Bundesstaaten ausgetellt, mehr als viertausend LehrerInnen entlassen, hunderte brutal geschlagen und ihre Bewegungsfreiheit verhindert. Sie hat Tausende Polizisten und Soldaten auf die Strasse geschickt, um die allgemeine Bevölkerung anzugreifen. Explizites Ziel ist es, die „Bildungsreform“ mit aller Gewalt durchzusetzen.

Diese Ereignisse geschehen in einem Kontext allgemeiner Repression gegen sozialen Protest. Das Vorbringen der Forderungen wegen der 43 Verschwundenen von Ayotzinapa wird verhindert. Es wird alles getan, um gemeinschaftliche Prozesse und Proteste der Beschäftigten des Gesundheitssektors zu unterbinden. Durch die blutrünstige Kontrolle kollektiver Forderungen wird ebenfalls versucht, jedes Hindernis für die  Enteignungsprojekte von Territorien und Naturressourcen in den Wirtschaftssonderzonen (ZEE) unseres Landes auszuräumen. Die Angriffe auf die LehrerInnenschaft fallen mit den ZEE-Projekten in Chiapas, Oaxaca und Michoacán zusammen. Auf diese Weise wird der mexikanische Südosten erneut zum Epizentrum des staatlichen Krieges gegen das eigene Volk.

Die sogenannte „Bildungsreform“ muss – wie es die LehrerInnenbewegung macht- als nichts anderes als die Übergabe der öffentlichen Bildung in private Hände angeklagt werden. Gleichzeitig ist sie eine Strategie, um den Kampf der Nationalen Koordination der Bildungsbeschäftigten  (CNTE) zu stoppen. Die Koordination ist seit mehr als 35 Jahren eine der wichtigsten sozialen Bewegungen gewesen, die sich den neoliberalen Politiken entgegengestellt hat. Heute ist sie der radikalste Ausdruck der sozialen Unzufriedenheit, die Mexiko durchlebt.

Aufgrund des Vorherigen lehnen wir die „Bildungsreform“ emphatisch ab. Sie ist ein Instrument, das – bereits jetzt – heruntergekommene landesweite Bildungssystem zu entwerten, verarmen und ruinieren. Es handelt sich ebenfalls um eine arbeitsrechtliche Gegenreform, die die in der Verfassung, dem Bundesarbeitsgesetz und den entsprechenden internationalen Verträgen und Vereinbarungen verankerten Rechte verleugnet. Sie walzt die Arbeits- und Menschenrechte tausender Beschäftigter im Bildungssektor nieder. Es handelt sich zusammengefasst um eine Reform, die Teil des allgemeinen Machtmissbrauches ist, den die derzeitigen Staatslenker ausüben. Sie setzen die Gesetze gegen die Gerechtigkeit ein und legalisieren eine kriminelle Regierungshandhabung, die gegen die individuellen und kollektiven Menschenrechte der mexikanischen Frauen und Männer gerichtet ist.

Wir verurteilen die vom Staat begangenen Morde und fordern die Bestrafung der materiellen und intellektuellen Kriminellen: Enrique Peña Nieto, Osorio Chong und Aurelio Nuño sind die direkt Verantwortlichen für diesen Krieg. Gegen sie muss nicht nur wegen der begangenen Verbrechen ermittelt und gerichtlich vorgegangen werden, sondern auch, weil sie Mechanismen fördern, die einem terroristischen Staat eigen sind. Durch Morde, Angriffe mit Schusswaffen, militärische Besetzung von Gemeinden, willkürliche  Verhaftungen, Manipulation und mediale Lynchjustiz werden universelle Menschenrechte verletzt, die in unserem Gesetz durch internationale Verträge, das Völkergewohnheitsrecht, die allgemeinen Prinzipien und andere Quellen des Völkerrechtes  enthalten und geschützt sind.  Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, sich im Rahmen des Verfassungsrahmens und des Völkerrechtes zu mobilisieren und zu untersuchen, wie diese Kriminellen vor Gericht gebracht und abgesetzt werden können. Sie müssen für ihre genozidartigen Praktiken gegen das Volk verurteilt werden.

Der LehrerInnenbewegung und allen, die sich zusammen mit ihrer Führung dort einbringen sowie allen, die mit den Lehrerinnen und Lehrern sympathisieren, drücken wir unsere Unterstützung und Solidarität aus. Ihr sollt wissen, dass wir Euch beistehen. Mit Euch fordern wir, dass die Gegenreform ausser Kraft gesetzt wird. Sie muss dem Dialog und der Verhandlung Platz machen, um ein wirkliches nationales Bildungssystem aufzubauen, in der die integrale Bildung des Menschen im Zentrum steht.

Wir Völker Mexikos befinden uns auf einem unumkehrbaren Weg der nationalen Neugründung mittels eines verfassungsgebenden Prozesses. Wir befinden uns im Gegenstrom zu denjenigen, die heute die politische und wirtschaftliche Macht innehaben. Unser Prozess nimmt in der Widerstandskraft unserer Völker Leben und Form an. Lasst uns diesen Weg weiter gehen und einen Befreiungshorizont bilden, der angesichts von so viel Tod notwendig und dringlich ist. Organisieren wir uns besser und suchen wir die größtmögliche Basis. Das wird es uns erlauben, die Bildungs- und Kulturprojekte für das von uns zu schaffende neue Mexiko aufzubauen.

Siehe für Hintergründe und frühere Berichte die neue Rubrik CNTE – Die Opposition in der Lehrergewerkschaft Mexikos seit Mai 2016 im Kampf gegen Privatisierung 

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=100846
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