[Buch] Materialistische Europakritik. Elemente kritischer Europaforschung

[Buch von Daniel Keil im Schmetterling-Verlag] Materialistische Europakritik. Elemente kritischer EuropaforschungDie Europäische Integration wurde von der Forschung lange als gesellschaftlicher Fortschritt betrachtet, wobei Krisen und Disintegrationstendenzen häufig übersehen wurden. Frühe marxistische Kritiken litten unter ökonomischen Determinismen, die den Blick auf die Eigenständigkeit der Politik verdeckten. Bald entwickelte sich aber eine kritisch-materialistische Integrationsforschung, die versucht, die europäische Integration in all ihrer Komplexität herrschaftskritisch zu hinterfragen. Dieser Band gibt einen Überblick über die Ansätze kritischer Europaforschung sowie die historischen Phasen bis hin zu aktuellen Krisen und Desintegrationstendenzen. Es werden Schlaglichter auf Felder geworfen, auf denen kritischer Europaforschung noch viel Arbeit bevorsteht: Europäische Identität, die Gegenwart des europäischen Kolonialismus und die Auseinandersetzung mit autoritären Europavorstellungen. (…) Schließlich wird umrissen, wie eine emanzipatorische Haltung zum Europäischen Integrationsprozess aussehen kann.“ Aus dem Klappentext zum Buch von Daniel Keil im Schmetterling-Verlag – siehe Infos zum Buch und als exklusive Leseprobe das Kapitel 5 „Die Krise der EU als Kampffeld für die (neue) Rechte“:

  • Das Buch von Daniel Keil: Materialistische Europakritik. Elemente kritischer Europaforschung

Kapitel 5 „Die Krise der EU als Kampffeld für die (neue) Rechte“

Die Geschichte der Europäischen Integration ist eine Geschichte von Krisen und Kämpfen, die sich in spezifischen historischen Herrschaftskonstellationen ereignet haben und durch die sich langsam die heutige Form der EU herausgebildet hat. In der besonderen institutionellen Struktur der EU sind diese Kämpfe daher ebenso aufgehoben wie die sie begleitenden ideologischen Legitimationen der Integration. Insbesondere wirken dabei die Verdrängung des europäischen Faschismus wie auch des Kolonialismus, die zur antikommunistischen Grundierung des Motivs des europäischen Friedensprojekts beitrug. Die europäische Vereinigung erscheint seither als die Form der Überwindung eines zerstörerischen Nationalismus und als Gegenmodell zum faschistischen Europa. Zum Europatag 2023 hielt beispielsweise der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz eine Rede im Europäischen Parlament, in der er erklärt, der 9. Mai gebe «die einzig richtige zukunftsweisende Antwort auf den von Deutschland entfesselten Weltkrieg […], auf zerstörerischen Nationalismus und imperialistischen Größenwahn» (Scholz 2023).

Europäische Identität konnte daher, wie oben kurz dargestellt, zu einem Modell werden, das als Überwindung einer vorpolitisch-kulturell vorgestellten Nation zugunsten einer kollektiven Identität gedacht wird, die sich in «eine Orientierung an der Verfassung verwandelt», wodurch die «universalistischen Verfassungsgrundsätze gewissermaßen Vorrang vor den partikularen Einbettungskontexten der jeweils eigenen nationalen Geschichte des Staates» gewännen (Habermas 2004: 78). Diese Hoffnung auf «Fortschritte in der verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse» (Habermas 2011: 44) stößt immer wieder an die Grenzen der realen Konstitution kapitalistischer Gewaltverhältnisse, die eben auch in der Rechtsform aufgehoben sind. Obwohl es in der normativen Literatur zur europäischen Identität stets präsent ist, dass die ökonomische Einheit im Binnenmarkt als Grundlage nicht ausreicht, um dieses politische Projekt entstehen zu lassen, wurde die Bedeutung der Ökonomie und ihre Vermittlung im Staatsprojekt Europa weitgehend ausgeblendet. Dass die Gewaltverhältnisse der kapitalistischen Reproduktionsweise auch in die Elemente des Fortschritts eingeschrieben sind und dialektisch durch Widersprüche prozessieren, wird in dem Motiv der europäischen Überwindung des Nationalismus nicht mitgedacht. Dass die materielle Struktur des Staatsprojekts Europa selbst jene Elemente reproduziert, die konstitutiv für den Nationalismus sind, geht ebenfalls häufig unter. Das führt dazu, dass rechte bis faschistische Akteur*innen, seien es Einzelpersonen, außerparlamentarische Gruppierungen oder Parteien[1], oftmals in doppelter Weise unzureichend analysiert werden: erstens als vor allem nationalistisch und antieuropäisch (oder im Falle sogenannter Rechtspopulist*innen euroskeptisch) und zweitens wird häufig der Bezug der materiellen Struktur der EU und ihren gegenwärtigen autoritären Tendenzen zu den rechten/faschistischen Akteur*innen übersehen oder nicht bearbeitet.

Mittlerweile gibt es auch einige Ansätze, die etwas differenzierter auf dieses Problem schauen und beispielsweise anstelle von «anti-europäisch» oder «euroskeptisch» von einem «Alter-Europeanism» (Wassenberg 2016: 33f.) sprechen, um die europäische Dimension der heterogenen Rechten deutlich zu machen. Die EU repräsentiert dabei ein Europa, das von Rechten gehasst wird, dem sie aber eigene Europavorstellungen entgegensetzen. In diesen eigenen Europavorstellungen finden sich jeweils Interpretationen der Krisenentwicklung der EU, wie sich darin auch die jeweils gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten der heterogenen Rechten in ideologischer Form wiederfinden. So hat die europäische Integration insbesondere nach Maastricht mit der Entwicklung des Staatsprojekts Europa politische Bedingungen geschaffen, die auch die Erscheinung der heterogenen Rechten prägt. Die multiple Krise der EU führt zu verschärften Kämpfen nicht nur auf konkreten Politikfeldern, sondern auch um die fundamentale Struktur und Ausgestaltung der EU selbst. In der umfassenden Rekonfiguration von Staat und Gesellschaft bekommt der Kampf um Ideen und Deutungen eine große Bedeutung in der Entwicklung von Handlungsplänen und ganz grundsätzlich in der Entwicklung des Bewusstseins der eigenen Interessen durch die verschiedenen Akteur*innen (vgl. Biebricher 2021: 235). D.h., dass die Legitimationskrise der EU (vgl. Schmid 2020) derart virulent ist, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Zukunft der EU selbst geführt wird. Seit 2015 ist das Zerbrechen der EU zu einer realen Möglichkeit geworden. In den Kämpfen um die grundlegende Gestaltung der EU ist eine komplexe Gemengelage aus vertiefter Integration und Autoritarisierung entstanden, in der Integration und Autoritarisierung miteinander verknüpft sind und zugleich widersprüchlich gegeneinander prozessieren. Wichtig ist, dass gesellschaftliche Kämpfe in der multiplen Krise immer auch Kämpfe um die Deutung des komplexen Krisenzusammenhangs und jener widersprüchlichen Prozesse sind. Bestimmte Deutungen können dabei selbst zu Verlängerungen und Vertiefungen der Krise beitragen, wenn sie in diesen Kämpfen die Oberhand gewinnen und eine destruktive oder autoritäre Tendenz befeuern. In diesem Sinne ist die Deutung der Krisen als Zerfall und Kulturkampf, die von neokonservativen Akteur*innen schon mehrere Jahrzehnte verbreitet wird ein wesentliches Element der multiplen Krise der letzten Jahrzehnte (vgl. Dubiel 1985: 21 ff.; Strobl 2021).

Diese Deutung kann mit einem Konzept von Europa verbunden werden, das der EU entgegengestellt wird. Strategisch können Akteur*innen der heterogenen Rechten mit diesem Zerfalls- und Kulturkampftheorem verschiedene Krisen auf verschiedenen Politikfeldern mit einer einzigen Interpretationsfolie deuten und je nach politischer Lage schnell von einer Krise zur nächsten springen. Europa als Feld und Vernetzungsebene erhielt im letzten Jahrzehnt noch einmal eine neue Bedeutung für die heterogene Rechte, auch wenn vieles, was sich ideologisch und strategisch in den Europavorstellungen und Kriseninterpretationen findet, eine lange Tradition aufweist, die bis in die Zwischenkriegszeit der 1920er Jahre zurückreicht. Ich gehe davon aus, dass sich seit zehn Jahren ungefähr ein europäisches Projekt der heterogenen Rechten herausbildet, das eine eigene Struktur hat und eine ganz eigene autoritäre Form von Politik hervorbringt. In der Forschung sowohl zur Europäischen Integration als auch zur heterogenen Rechten in Europa ist das transnationale Moment rechter Parteien und Bewegungen bislang unterbelichtet. Auch wenn es inzwischen gute und substantiierte Beiträge zu verschiedenen Aspekten dieses Problemkontextes gibt[2], so ist hier noch einiges an Forschung zu leisten. Dementsprechend sind die folgenden skizzenhaften Überlegungen auch eher als Teil eines Forschungsprogramms zu verstehen. Zunächst werden kurz die historischen Traditionslinien rechter Europavorstellungen dargestellt, in einem zweiten Schritt wesentliche Elemente der Europavorstellung herausgearbeitet und schließlich wird eine kurze Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Stands des Europaprojekts der heterogenen Rechten in der multiplen Krise vorgenommen.

5.1        Europa und die europäische Rechte: zur langen Tradition des Europa-Bezugs europäischer rechter Akteur*innen

Die Epoche des Faschismus in Europa wird in der Regel mit Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und dem imperialistischen Anspruch des Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus in Verbindung gebracht. In Relation zu anderen Aspekten des faschistischen Europas sind die Europa-Bezüge des Faschismus und Nationalsozialismus zwar historisch mittlerweile gut erfasst, aber, wie Gosewinkel analysiert, häufig in einem Dualismus gefangen, der das liberale Europaverständnis der Nachkriegszeit als normativen Bezugspunkt setzt und antiliberale/faschistische Europakonzepte als Anti-Europa-Vorstellung fasst (Gosewinkel 2012)[3]. Diese Entgegensetzung hat sicherlich damit zu tun, dass die Führungsriege des deutschen Nationalsozialismus und insbesondere Adolf Hitler wenig mit Europa anfangen konnten. Er schrieb 1928 über Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Gesellschaft: «Den Überraschungen aber, die die Welt dann vielleicht noch erleben mag, würde am allerwenigsten ein pazifistisch-demokratischer-paneuropäischer Durcheinanderstaat ernstlichen Widerstand entgegensetzen können.» (Hitler 1961: 131) Für Hitler war Europa immer nur ein Tarnname für die angestrebte deutsche Vorherrschaft und Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Idee kein Bezugspunkt. Umgekehrt konnte auch Coudenhove-Kalergi mit dem Nationalsozialismus nicht viel anfangen, dafür aber umso mehr mit dem italienischen Faschismus, mit dem er in den 1930er Jahren in einen regeren Austausch trat (vgl.Thöndl 2018). So publizierte er auch Artikel in der faschistischen Zeitschrift «Antieuropa», in der er 1930 schrieb: «Denn die sogenannten Antieuropäer sind keine Anti-Europäer – sondern der fascistische [sic.] Flügel der Paneuropa-Bewegung.» (zitiert nach: Thöndl 2018: 345). Dieser Flirt mit dem Faschismus basierte auf dem geteilten Antibolschewismus, aber auch wenn dieser blieb, lief der Kontakt im Laufe der 1930er Jahre aus.

Während in Italien relativ kontinuierlich Intellektuelle an faschistischen Europavorstellungen arbeiteten, die als «nuovo Europa» – «neues Europa» – gefasst wurden und vor allem ein Imperium unter italienischer Führung meinte (vgl. Fioravanzo 2010), wurde die Rede von einer «neuen Europäischen Ordnung» im Nationalsozialismus vor allem als Synonym für die deutsche Vormacht gebraucht. Die Bedeutung von Europa war dabei jeweils abhängig von der konkreten historischen Situation bzw. dem Verlauf des Kriegs. Victor Klemperer notierte in seinen Beobachtungen zur Lingua Tertii Imperii, zur Sprache des Dritten Reiches, dass vor dem Krieg Europa in der Propaganda keine besondere Bedeutung zukam, aber mit «dem Beginn des Rußlandfeldzugs […] erlangte es eine neue und immer verzweifeltere Geltung» (Klemperer 2020: 183). Denn mit dem Russ­land-Feldzug wurde eine europäische Einheit des Antibolschewismus propagiert. So meldeten sich 200.000 Freiwillige aus ganz Europa, die in europäischen SS-Verbänden zusammengefasst wurden (vgl. Salewski 1987: 99). Für die NS-Führung blieb der Europabezug dennoch uneindeutig. So wurde beispielsweise Ende 1942 der Presse die Verwendung des Ausdrucks «Festung Europa» untersagt, die in den ersten Kriegsjahren die Stärke der Achse gegen die Alliierten ausdrücken sollte (vgl. Schmitz-Berning 2007: 232f.). Ab dann galt diese Formel als zu defensiv. Diese kurzen Beispiele zeigen die Praxisdimension nationalsozialistischer Europakonzeptionen, die darin dem Wandel der italienischen Europakonzeptionen ähnelten. Denn auch diese waren abhängig vom Kriegsverlauf und wandelten sich von der Wiederherstellung eines italienischen Imperiums mit den sich abzeichnenden Niederlagen im Krieg zur Vorstellung eines Europas der Nationen (vgl. Fioravanzo 2010).

Ebenfalls mit dem Kriegsverlauf gekoppelt waren die Vorstellungen über eine europäische wirtschaftliche Nachkriegsordnung, die auch je nach Gruppe/Fraktion unterschiedlich ausfielen. So wurden sowohl in den verschiedenen Behörden des NS-Staates als auch in den Konzernen jeweils eigene Vorstellungen entwickelt, die sich aus der NS-Ideologie einerseits und ökonomischen Interessen andererseits speisten (vgl. Li 2007). Diese Bedeutung der Praxis wie auch die – angedeutete – Vielzahl an unterschiedlichen Akteuren ist bei der Untersuchung nationalsozialistischer Europakonzepte zu beachten und dies gilt auch noch für die Betrachtung heutiger rechter bis faschistischer Gruppierungen und ihrem Verhältnis zu Europa: «Dabei sind allerdings allgemeinverbindliche Aussagen durch die Tatsache erschwert, daß sich in der Bewegung des Nationalsozialismus allzu viele, teils sich widersprechende Gruppen zusammenfanden.» (Kluke 1955: 241) Zentral für alle Vorstellungen war die Stellung Europas gegen England / Amerika / den Westen auf der einen Seite und den Bolschewismus auf der anderen Seite. Diese Feindmarkierungen wurden auch in der Nachkriegszeit bis heute immer wieder aktualisiert und mittels aktualisierter Europavorstellungen in politischen Konfliktfeldern in Stellung gebracht. Der Bezug auf Europa diente in der Nachkriegszeit sowohl dazu, europaweite Netzwerke faschistischer Gruppen herzustellen als auch zentrale Elemente faschistischer Ideologie zu erhalten und zu aktualisieren. Europa war und ist ein Motiv, das in seinen verschiedenen Ausprägungen als Grundlage für die Kooperation und den «Ökomenismus» (Griffin 2008: 175) verschiedenster rechter bis faschistischer Gruppen diente. «Eurofascism not only represents a major Element of continuity between the countless dialects of pre-war and post-war fascisms, but provides common ground between party political organisers and paramilitary activists, between skinhead racists and ‹educated› ideologues, between thugs and (pseudo-)intellectuals, between neo-Nazis and neo-fascists, between fascists and conservatives on the cusp between liberalism and the radical right.» (ebd.: 175f.)

Nach 1945 wurde die eurofaschistische Tradition recht schnell fortgesetzt und es entstanden viele Zeitschriften und Netzwerke (vgl. dSteinart 2015). Wichtig für die deutsche extreme Rechte wurde die Zeitschrift «Nation Europa», die von dem ehemaligen SS-Angehörigen Arthur Erhardt gegründet wurde. Die Formel «Nation Europa» wurde auch vom englischen Faschisten Oswald Mosley gebraucht (Mosley 1962), der auch an einigen europäischen Vernetzungsversuchen teilnahm und dessen Schriften heute auch in der Neuen Rechten noch ab und zu rezipiert werden (z.B. Kaiser 2011).

Wichtiger als Mosley jedoch war Jean Thiriart, ein Belgier, der im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierte und der nach dem Krieg die Bewegung «jeune europe» (Junges Europa) aufbaute, die in vielen europäischen Ländern, kurzzeitig zumindest, Gruppen hatte. Thiriart strebte an, ein europäisches «viertes Reich» (Thiriart 1966) zu errichten. In Frankreich entstand die Nouvelle Droite, deren Europavorstellungen bis heute ein zentraler Bezugspunkt für viele Akteur*innen der (Neuen) Rechten sind. Die Vereinigung GRECE (Groupement de Recherche et d’Études pour la Civilisation Européenne), die 1968 in Frankreich gegründet wurde, steht dabei einerseits für ein einflussreiches extrem rechtes Netzwerk und gleichzeitig aber auch dafür, dass die Nouvelle Droite (wie auch die Neue Rechte) keine homogene Gruppe darstellt, sondern sich aus verschiedenen historischen Traditionen speist und auch unterschiedliche Richtungen unter diesem Label vereinigt werden. So lassen sich Verbindungen zur französischen SS-Division «Charlemagne» nachweisen, die beispielsweise die Bewegung Europe-Action beeinflussten, der auch Gründungsmitglieder des GRECE angehörten (vgl. François 2017: 217). Dazu zählt zum Beispiel Dominique Venner, der zudem der Terrorgruppe Organisation de l’armée secrète (OAS) angehörte, die mit Anschlägen versuchte, die algerische Dekolonisierungsbewegung aufzuhalten und Algerien als französische Kolonie zu erhalten.

Die dritte Traditionslinie führt zurück zu den Vertretern[4] der sogenannten konservativen Revolution, einer diffusen Gruppe völkischer, nationalrevolutionärer und/oder nationalbolschewistischer Autoren, die zu den Wegbereitern des NS gezählt werden können, allerdings teilweise als Konkurrenz der NSDAP wahrgenommen wurden und daher nach 1933 einigen Repressionen ausgesetzt waren. So kann von rechten Akteur*innen direkt an völkische Ideologien angeknüpft werden bei gleichzeitiger Distanzierung vom NS. Ähnlich funktioniert auch die Traditionslinie zur Waffen-SS, die bis in jüngere Zeit als «erste europäische Armee» verstanden wird, die im «europäischen Einigungskrieg» gegen die Sowjetunion für ein geeintes Europa gekämpft habe (Virchow 2017: 153). Da die SS Europakonzepte vertreten hat, die sich von dem strategischen Europabezug Hitlers unterschieden, wurde auch von Vertretern der Nouvelle Droite die Selbststilisierung ehemaliger Angehöriger der SS zu einer «oppositionellen Organisation» (de Benoist, zitiert nach: François 2017: 220) vertreten. Europa wird dabei zu einer die verschiedenen rechten Strömungen vereinigenden Imagination, die zudem auf die gängige Unterscheidung eines liberalen Europas und eines illiberalen Anti-Europas zurückgreifen kann. Die Abgrenzung des liberal-kapitalistischen Europas gegen seine faschistische Vergangenheit wird dabei aufgegriffen, um völkische Europakonzeptionen als außerhalb der faschistischen Traditionen zu behaupten und damit (neo)faschistische Positionen zu legitimieren.

Aber Europa erwies sich auch in einem anderen Milieu als Möglichkeit, in der Nachkriegszeit an reaktionäre und antidemokratische Traditionen anzuschließen. Mit dem Topos des Abendlandes erfreute sich eine christliche Vorstellung großer Beliebtheit, mit der auf die gemeinsame christliche Vergangenheit rekurriert werden konnte bei gleichzeitiger Betonung historisch-kultureller Gemeinsamkeiten (vgl. Plichta 2001: 319f.). Dadurch konnten konkrete politische Fragen in den Hintergrund treten und zugleich die Einbindung Deutschlands in das Nachkriegseuropa begründet werden, indem herausgestellt wurde, «daß aufgrund der gemeinsamen europäischen Vergangenheit ein erneuertes Europa ohne Deutschland undenkbar sei» (ebd.: 320). Eine zentrale Schnittstelle war auch hier der Antikommunismus, der in Verbindung mit dem Abendland-Topos untergründig ein Konglomerat aus reaktionären Gesellschaftsvorstellungen weitertragen konnte. In konservativ-christlichen Kreisen konnte damit die Ablehnung der modernen Gesellschaft sowie die Forderung nach einer hierarchischen politischen Ordnung gegen die «Massendemokratie» chiffriert propagiert werden. Mit der Abendland-Formel verbunden war zudem die Entgegensetzung einer organischen Gebundenheit des Individuums gegen moderne Individualität und die Ablehnung der Säkularisierung der Gesellschaft (vgl. ebd.: 329).

Antikommunismus und Europa waren auch die Elemente, durch die sich alte Nazis mit der Bundesrepublik und der Westbindung arrangierten. Peter Schöttler zeichnet dies beispielsweise anhand des Lebens des SS-Brigadeführers Gustav Krukenberg nach (Schöttler 2012). Krukenberg vertrat in der Bundesrepublik auf der einen Seite ein Europakonzept, das von einer deutsch-französischen Verständigung als Kern der europäischen Integration geprägt war und gleichzeitig unterhielt er regen Kontakt mit einem Netzwerk ehemaliger SS-Angehöriger, insbesondere der französischen SS-Division, mit der er schon während des Krieges zu tun hatte (ebd.: 379ff.). Die antikommunistische Politik der Westbindung erleichterte alten Nazis die Integration in die politische Gesellschaft der Bundesrepublik. «Westintegration, NATO-Mitgliedschaft und Wiederaufrüstung, also die Eckpfeiler der Regierungspolitik, richteten sich ja gegen denselben alten Feind, und ‹Europa› bot erneut das verbindende Stichwort. Wann immer Krukenberg, landauf, landab, den großen Bogen schlug – vom Mayrisch-Komitee zur Montanunion und schließlich zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft seiner Gegenwart: Er vergaß nie, die kommunistische Gefahr und die Verteidigungsbereitschaft des Westens zu beschwören.» (ebd.: 381)

Das deutsch-französische Verhältnis war auch bei der Nouvelle Droite eine Ebene, um die eigene europäische Ausrichtung zu begründen. Für sie war – bis zum Ende der 1990er Jahre – Karl der Große ein zentraler Bezugspunkt (vgl. Zinell 2007: 400; Larat 2000). Dabei interpretierten sie eine historische Figur, auf die sich auch im Rahmen der Europäischen Integration nach 1950 bezogen wurde (der Karlspreis wird in Aachen, der Krönungsstadt von Karl dem Großen, verliehen) in einem spezifischen Sinn. Das karolingische Reich bildete für sie «die Idealform einer europäischen Wiedervereinigung», da das Reich «nicht einfach eine große Nation gewesen» sei, «sondern eine «übernationale und sakrale Institution», das Reich als das Universelle, das einen Gegensatz zur Universalität bilde (Zinell 2007: 401).

All diese Elemente wurden auch in der deutschen Neuen Rechten weiterentwickelt, in den 1970ern vor allem von Henning Eichberg, der den Ethnopluralismus in Deutschland bekannt machte und eine «spezifisch-europäische» Struktur behauptete (Eichberg 1975). Er wollte ein europäisches Gegenbewusstsein in einer «‹Grammatik› der Indoeuropäer» finden, womit er das Europäische deutlich von einem universellen Menschheitsbegriff abgrenzte (Eichberg 1975: 4). Dieser Rückgriff auf das Indoeuropäische (oder Indogermanische) ist sowohl in der französischen Nouvelle Droite und der Identitären Bewegung als auch in der deutschen (neuen) Rechten anzutreffen (vgl. Zinell 2007; J.-Y. Camus 2017) und war ebenfalls wichtiger Bestandteil in der Konstruktion des arischen Mythos (vgl. Poliakov 1993: 209ff.). Verbunden ist dies mit der Annahme einer «direkten, ununterbrochenen Abstammungslinie von den Indogermanen […], die als historisches Volk, als Träger eines Systems der gesellschaftlichen Organisation und als Übermittler kultureller Werte und Mythen gelten» (J.-Y. Camus 2017: 234). Diese Verknüpfungen von Kultur und «volklicher» Identität sind bei allen neurechten und völkischen Gruppen der Gegenwart zu finden und wenn Neurechte von europäischen Werten und Kultur sprechen, ist immer dieser Zusammenhang gemeint. Gegenwärtig finden sich diese Traditionslinien bei Vertreter*innen der Identitären Bewegung bzw. deren Resten und Nachfolgeorganisationen, dem Antaios Verlag und auch dem Jungeuropa-Verlag, der sich auf Neuauflagen und Übersetzungen der französischen Nouvelle Droite und anderer rechter bis faschistischer Europadenker*innen spezialisiert hat. Auch in den europäischen rechten Parteien finden sich Elemente dieses völkischen Europadenkens, in der AfD wie im Rassemblement Nation oder anderen Parteien insbesondere der Fraktion Identität und Demokratie im Europäischen Parlament.

Diese Zusammenstellung der Kontinuitäten soll nun nicht suggerieren, dass die extreme Rechte bisher tatsächlich einen großen Einfluss auf Entscheidungen und Entwicklungen der europäischen Integration hatte. Inzwischen wächst zwar der Einfluss der heterogenen Rechten auf die Entwicklung der EU durch Regierungsbeteiligungen rechter bis postfaschistischer Parteien in einigen Mitgliedsländern, aber die Integration selbst ist keine Umsetzung von Plänen der extremen Rechten. Es gibt allerdings – um eine letzte rechte Strategie im Umgang mit der EU zu bennenen – rechtskonservative Historiker wie John Laughland, der behauptet, dass die europäische Integration auf der Umsetzung von Plänen der Nationalsozialisten beruhe oder Verschwörungsideologen wie Oliver Janich (2014), der dasselbe behauptet. Laugland konnte mit diesen Thesen beispielsweise bei Konferenzen des Querfront-Magazins Compact auftreten, was den Impetus seiner Interpretation deutlich macht. Bei beiden ist die EU nicht nur die Umsetzung von Plänen der Nazis, sondern auch gleichzeitig die Umsetzung kommunistischer Pläne bzw. wird die Europäische Integration als «marxistisches Utopia» (Laughland 2009) bezeichnet. Bei diesen Ansätzen liegt die letztlich wiederum die völkische Annahme zugrunde, dass die EU die homogenen Völker Europas zerstöre und ein antinationales Weltreich anstrebe. Auch diese Linien findet man in rechten Debatten und sie werden durchaus auch in linksnationalistischen Kreisen anschlussfähig und finden in Debatten um Demokratiedefizite der EU und den Nationalstaat ebenfalls manchmal Anklang (z.b. bei Mitchell/Fazi 2018).

Fußnoten:

[1]        Der Einfachheit halber verwende ich im Folgenden für die Akteur*innen rechts eines demokratischen Konservatismus die Bezeichnung heterogene Rechte. Damit gemeint sind alle, die antidemokratische Positionen vertreten. Damit soll berücksichtigt werden, dass «die Rechte» auch in sich widersprüchlich ist und kein a priori geeintes Projekt darstellt. Vielmehr müssen die politischen Ideologie-Elemente berücksichtigt werden, die Basis für eine rechte Einheit sein können, wie auch die Politiken der Vernetzung verschiedener Gruppen und Parteien auf europäischer Ebene / europäisierten Politikfeldern analysiert werden muss.

[2]        Siehe zum Beispiel Wölk 2020; Nissen 2022.

[3]        Zu den Europakonzepten des NS und des italienischen Faschismus siehe Kluke 1955; Fioravanzo 2010; Grunert 2012. Zu den konfligierenden Europavorstellungen deutscher Kapitalfraktionen im Zweiten Weltkrieg siehe: Li 2007. Zu den Europakonzepten der sogenannten konservativen Revolution der Zwischenkriegszeit siehe Knyazeva 2018.

[4]        In diesem Falle waren es tatsächlich alle Männer.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=219889
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