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[Interview mit Jean Ziegler] »Ich bin ein Bolschewik, der an Gott glaubt«
„Jean Ziegler war UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und ist seit 2013 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats. Sein 2016 auf Französisch erschienenes neuestes Buch liegt seit April 2017 nun (ausgerechnet beim Bertelsmann-Verlag) auf Deutsch vor: ›Der schmale Grat der Hoffnung‹. Wo dieser liegt, wer auf ihm unterwegs ist und wie es sich darauf läuft, darüber sprachen Dieter Alexander Behr und Lisa Bolyos, aktiv u.a. beim Europäischen BürgerInnenforum und bei »watch the med alarmphone«, mit dem 83-Jährigen, der im Übrigen auch in Hamburg beim G20-Gipfel sein wird – auf der richtigen Seite der Wasserwerfer, an denen kein Mangel sein wird…“ Interview erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 05/2017
»Ich bin ein Bolschewik, der an Gott glaubt«
Herr Ziegler, Ihr soeben erschienenes Buch heißt: »Der schmale Grat der Hoffnung – meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden«. Wo ist denn eigentlich die Hoffnung? Hungerkrise in Ostafrika, gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für den G20-Gipfel in Hamburg, der im Juli stattfinden wird. Was erwarten Sie sich von dem Gipfel?
Jean Ziegler: Wenn man die bisher stattgefundenen Gipfel ansieht – den in Heiligendamm oder den in Gleneagles usw. – kann man feststellen, dass jedes Mal Milliarden an Hilfsgeldern für Afrika versprochen worden sind. Doch von diesen versprochenen Hilfsgeldern ist praktisch nichts ausbezahlt worden. Ich möchte nun etwas weiter ausholen: Wenn vom täglichen Massaker des Hungers die Rede ist, müssen zwei Arten des Hungers unterschieden werden: erstens der strukturelle Hunger, zweitens der konjunkturelle Hunger. Der strukturelle Hunger ist das tägliche Massaker, das der Wirtschaftsordnung der Dritten Welt, also den sogenannten unterentwickelten Ländern, implizit ist. Afrika ist der am schwersten geschlagene Kontinent – 35,2 Prozent der rund eine Milliarde Afrikaner sind permanent schwerst unterernährt. Die größten Opferzahlen finden wir in Asien, dort sind es über 650 Millionen Menschen, die permanent schwerst unterernährt sind. Prozentuell ausgedrückt ist der Hunger jedoch in Afrika am weitesten verbreitet. Laut dem aktuellen Bericht der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations / Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Insgesamt sind eine Milliarde von den 7,3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten permanent schwerst unterernährt – sie haben aufgrund dessen kein Sexualleben, kein Arbeitsleben, nichts; diese Menschen sind verzweifelt, sie haben Angst vor dem nächsten Tag.
Doch derselbe World Food Report, der die Opferzahlen feststellt, sagt nun, dass die heutige Landwirtschaft, wie sie jetzt ist, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das doppelte der aktuellen Weltbevölkerung. Ein Kind, das in diesem Moment an Hunger stirbt, wird ermordet. Heute gibt es keinen objektiven Mangel an Nahrungsmitteln auf der Welt mehr. Das Problem ist nicht die fehlende Produktion, sondern der fehlende Zugang und die fehlende Kaufkraft. Diese Zusammenhänge bedingen also den strukturellen Hunger. Dann gibt es noch den konjunkturellen Hunger. Dieser tritt meist in den schwächsten Staaten dieses Planeten auf. Es handelt sich hier um den plötzlichen Totalzusammenbruch einer Wirtschaft: Die Bauern können weder säen noch ernten, die Transportwege sind nicht benutzbar, es kommt zu einer Heuschreckenplage etc.
Die aktuelle Hungersnot in Ostafrika ist im Südsudan, in Somalia und Norden Kenias besonders akut. Außerdem ist der Jemen sehr stark betroffen. Laut Welternährungsprogramm sind in diesen Tagen 23 Millionen Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht. Diese Menschen leiden nicht nur an Hunger, sie haben auch oft keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Dazu kommt, dass Südsomalia und der Südsudan von einer fürchterlichen Choleraepidemie heimgesucht werden. Diese Dinge verschlimmern also die Hungersnot noch zusätzlich.
Was sind die Ursachen für die aktuelle Situation? Erstens sind es die kriegerischen Auseinandersetzungen: Wir erleben den fürchterlichen Aggressionskrieg von Saudi-Arabien gegen den Jemen, außerdem herrscht im jüngsten UNO-Mitgliedsstaat Südsudan Krieg zwischen den Nuer und den Dinka. Zweitens ist das Welternährungsprogramm praktisch gelähmt. Ich war acht Jahre lang Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung; ich kenne deshalb die sogenannten Pledging-Konferenzen in- und auswendig. Diese Konferenzen finden entweder in Rom statt, wo die FAO ihren Sitz hat, oder in Genf. Bei diesen Konferenzen erklären die Verantwortlichen des Welternährungsprogramms die Situation und verkünden, welche Hilfeleistungen in welchen Ländern gebraucht werden. Dieser Vorgang wird Pledging genannt. Die Industriestaaten erwidern dann auf diese Anfragen und geben bekannt, wie viel sie geben wollen. Das Ergebnis der Pledging-Konferenz vom 23. März war Folgendes: Das Welternährungsprogramm hat vier Milliarden Dollar für die nächsten sechs Monate, also bis September 2017 gefordert und argumentiert, dass das die minimale Summe sei, die für den Abwurf der Hilfsgüter mit Fallschirmen sowie für die Lieferung mit Lastwägen gebraucht würde. Zugesagt wurden dem World Food Programm allerdings nur ein Bruchteil, nämlich 262 Millionen Dollar. Was letztendlich einbezahlt wird, ist noch eine andere Frage; meistens reduziert sich der Betrag dann noch ein weiteres Mal. Das ist viel zu wenig! Das Todesurteil für Millionen von Menschen ist also am 23. März gefallen.
Warum ist das Welternährungsprogramm gelähmt? Nun, ein Grund ist, dass die Geberstaaten vorgeben, eigene Probleme zu haben und sagen, dass sie nicht mehr bezahlen können oder wollen. Der zweite Grund ist, dass die Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel, also Mais, Reis und Getreide, die zusammen insgesamt 75 Prozent der weltweit konsumierten Nahrung abdecken, in den letzten Monaten explodiert sind. Ein Grund dafür sind die Börsenspekulationen mit Lebensmitteln. Ich hatte schon eine Reihe von Gerichtsprozessen am Hals, weil ich diese Dinge wiederholt angeprangert habe: Ich sage es hier dennoch ein weiteres Mal: Hedgefonds, große Banken, darunter auch die Deutsche Bank, machen astronomische Profite mit der Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Diese Börsenspekulation spielt sich in einem gänzlich legalen Rahmen ab – doch wenn die Preise hoch sind, kann das World Food Program nicht genügend Vorräte kaufen. Dies wäre aber dringend nötig, denn die UNO produziert ja nichts, sie transportiert die Güter lediglich zu den Opfern.
Zu all diesen Missständen kommt schließlich noch hinzu, dass die Veto-Mächte der UNO in den verschiedenen Kriegsgebieten die Handlungsmöglichkeiten der Vereinten Nationen total lähmen. Es gibt z.B. keine multilaterale Truppe, also keinen Blauhelm-Einsatz mit einem starken Mandat im Südsudan; außerdem konnte nicht durchgesetzt werden, dass ein humanitärer Korridor oder Flugverbotszonen über Wohngebieten eingerichtet werden. Grund dafür ist das chinesische Veto. Dieses Veto erklärt sich, wenn man bedenkt, dass elf Prozent des von China importierten Erdöls aus dem Sudan kommen. Im Jemen verhindert das angedrohte US-amerikanische Veto, dass Flugverbotszonen eingerichtet werden; Saudi-Arabien führt dort einen fürchterlichen Vernichtungskrieg gegen die schiitische Zivilbevölkerung. Wegen des US-amerikanischen Vetos ist eine Präsenz der UNO also ausgeschlossen. Das schreckliche ist, dass die Tragödien sich im Wissen all der Diplomaten abspielen, die an den Pledging-Konferenzen teilnehmen.
Hat nun die Zivilgesellschaft bei den Protesten in Hamburg die Aufgabe, die reichen Staaten davon zu überzeugen, ihrer humanitären Verpflichtung bei den Pledging-Konferenzen nachzukommen?
Jean Ziegler: Mein Buch trägt den Titel »Der schmale Grat der Hoffnung«. Der Grat ist schmal, aber die Hoffnung ist reell. Die Zivilgesellschaft, diese mysteriöse Bruderschaft der Nacht, die aus all den vielfältigen Bewegungen zusammengesetzt ist, aus den Kirchen, den Gewerkschaften, den NGOs, die an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung und gegen die Staatsraison Widerstand leisten, diese Zivilgesellschaft ist das neue historische Subjekt. Sie ist die Hoffnungsträgerin. Die Zivilgesellschaft hat kein Parteiprogramm, keine Parteilinie und kein Zentralkomitee – sie funktioniert nur nach dem kategorischen Imperativ. Menschen aus allen sozialen Klassen, Religionen und Altersgruppen kommen hier zusammen. Immanuel Kant hat gesagt: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.« Es geht schlicht um das Identitätsbewusstsein: Ich bin der andere, der andere ist ich. Diese einfache Feststellung ist der Motor des zivilgesellschaftlichen Aufstandes. Che Guevara hat gesagt: »Die stärksten Mauern fallen durch Risse.« Die kannibalische Weltordnung wird fallen – jedoch nicht weil die Staatschefs erwachen: Die Präsidenten der G20 – Trump, Merkel usw. – sind überdeterminiert durch die Befehle, die Strategien und den Willen der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Diese Oligarchien haben eine Weltdiktatur errichtet: Laut Weltbankstatistik vom letzten Jahr haben die 500 größten transnationalen Privatkonzerne aus allen Sparten, also Industrie, Finanzsektor usw. 52,8 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert, also mehr als die Hälfte aller auf der Welt in einem Jahr produzierten Reichtümer. Diese Konzerne entschwinden jeglicher sozialstaatlicher, gewerkschaftlicher oder parlamentarischer Kontrolle. Sie können zwar auch sehr viel – beispielsweise beherrschen sie den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt; jedoch haben sie ein einziges Aktionsprinzip und eine einzige Strategie, und zwar die Profitmaximalisierung in möglichst kurzer Zeit. Diese Konzerne haben heute eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, nie ein König zuvor auf diesem Planeten gehabt hat; sie sind stärker als alle Staaten. Es handelt sich hier um ganz schmale Oligarchien, die unglaublich mächtig sind. Die Staatschefs der G20 sind lediglich Wasserträger, Gehilfen und Ausführer der Interessen der Konzerne. Die Präsidenten sind Komplizen der Privatunternehmen, keine autonomen Staatsdenker. Doch ihnen gegenüber gibt es nun ein neues historisches Subjekt, nämlich die planetarische Zivilgesellschaft. Sie wird in Hamburg präsent sein. Ich selbst werde auch kommen und sprechen. Hamburg ist der Ort, an dem der Widerstand formiert wird.
Ich möchte mit einer Frage zurückgehen ins Jahr 1973: Sie haben nach dem Putsch in Chile zusammen mit vielen anderen Aktiven die Schweizer Freiplatz-Aktion für Chile-Flüchtlinge ins Leben gerufen. Worin bestand diese Aktion und wäre dieser Ansatz eine Inspiration für die Aufnahme von Geflüchteten in der heutigen Zeit?
Jean Ziegler: Ja, ganz sicher. Im September 1973 wurde Allende gestürzt und starb. Danach setzte die fürchterliche Repression von Pinochet ein. Tausende Menschen wurden gefoltert und ermordet, doch vielen gelang es zu fliehen. Die Regierung der schweizerischen Eidgenossenschaft sagte daraufhin, dass man diese Flüchtlinge nicht aufnehmen werde – viele rechtfertigten diese Haltung damit, dass man doch keine Kommunisten ins Land lassen könne. Ich war damals im Parlament und habe es selbst miterlebt – in den Debatten fielen die übelsten Argumente. Dann ist allerdings die Zivilgesellschaft gegen die Regierung aufgestanden und hat sich organisiert: Protestantische Pfarrer im Tessin, viele junge Leute, unter anderem von der Genossenschaftsbewegung Longo Mai und von anderen Gruppen, außerdem der großartige, mittlerweile leider verstorbene Priester Cornelius Koch. Diese Menschen haben nun gesagt: So geht das nicht – die Chilenen haben für unsere Ideale gekämpft, sie haben ihr Leben für die Demokratie aufs Spiel gesetzt, sie werden verfolgt und gepeinigt und suchen Zuflucht; wir müssen ihnen helfen! Wenn die Regierung behauptet, wir hätten keinen Platz, es gäbe kein Budget für die Aufnahme, es wäre technisch nicht möglich usw., dann werden wir zeigen, dass es sehr wohl möglich ist. Tausende Familien haben sich daraufhin bei der Freiplatzaktion gemeldet und kundgetan, dass sie chilenische Flüchtlinge aufnehmen werden. Daraufhin knickte die Regierung ein und konnte nicht mehr widerstehen. Die Freiplatz-Aktion war natürlich für die Flüchtenden Chileninnen und Chilenen eine sehr wichtige Sache, doch in erster Linie haben die Schweizer profitiert: Die kulturelle Bereicherung durch die Chile-Flüchtlinge war enorm. Ich bin Mitglied der sozialdemokratischen Partei in Genf, das ist eine kleine Sekte (lacht). Ich bin der Meinung, dass die schweizerische Linke längst tot wäre, hätte es nicht die chilenischen Flüchtlinge gegeben, die nach ihrer Ankunft in die sozialdemokratische Partei oder in die Partei der Arbeit eingetreten sind. Sie haben ihre Erfahrung und ihre Energie eingebracht, und wir müssen ihnen dafür sehr dankbar sein.
Wir bräuchten heute eine Freiplatz-Aktion wie damals – und zwar zu unseren eigenen Gunsten! Es geht ja nicht nur darum, Gastfreundschaft zu üben; es geht auch darum, von den anderen zu lernen! Es geht darum zu begreifen, dass die kulturelle Symbiose immer eine ungeheure Bereicherung für die Menschen im Gastland ist.
Herr Ziegler, vor knapp einem Viertel Jahrhundert wurde hier in Wien die zweite Menschenrechtskonferenz seit 1948 abgehalten, organisiert von Boutros Boutros-Ghali. Die Konferenz endete mit der Verabschiedung der »Erklärung von Wien«. Welche Erwartungen waren mit dieser Erklärung verbunden, und konnten die damaligen Zielsetzungen umgesetzt werden?
Jean Ziegler: Das ist tatsächlich eine gute Frage. Nun, als die Charta der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 in Paris von der Generalversammlung angenommen wurde, wurden nur die politischen und zivilen Rechte festgeschrieben. Es gab damals eine große Auseinandersetzung zwischen den Kommunisten und der westlichen Welt – die Kommunisten sagten, zuerst kommt das Essen; wie Brecht bereits sagte: »Ein Wahlzettel macht den Hungrigen nicht satt; für Analphabeten ist Pressefreiheit nichts.« Der kommunistische Block argumentierte also, dass zuerst die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte umgesetzt werden müssten, und später erst die politischen und zivilen Rechte folgen könnten. Die Westmächte sahen es umgekehrt und sagten: Ihr seid Heuchler – Ihr sprecht Euch ja nur für die sozialen und wirtschaftlichen Rechte aus, weil Ihr die Demokratie nicht umsetzen wollt. Der kommunistische Block hingegen warf dem Westen vor, eine Scheindemokratie zu errichten und an sozialer Gerechtigkeit und materieller Absicherung nicht interessiert zu sein. Damals setzten sich die Westmächte durch. Deshalb enthält die Menschenrechtserklärung von 1948 praktisch nur die politischen und zivilen Rechte.
Als die bipolare Weltordnung im August 1991 zusammenbrach, erkannte der damalige UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali sofort die Chance und berief hier in Wien eine Menschenrechtskonferenz ein, bei der zum ersten Mal die Universalität der sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte sowie der zivilen und politischen Menschenrechte festgehalten werden sollte. Das Verdienst der Konferenz von Wien war also, dass alle Rechte als universell, unteilbar und interdependent anerkannt wurden. Tragischerweise haben die Amerikaner sich bei der Schlussabstimmung ihrer Stimme enthalten. Die Konferenz in Wien ist dennoch ein sehr wichtiger historischer Moment. Nun geht es darum, die Menschenrechte auch umzusetzen – beispielsweise im Kampf gegen den Hunger.
Wir können uns zum Ziel setzen, die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel zu verbieten. Das können wir tatsächlich morgen früh tun – denn in der Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Denn es gibt ja keine Börse, die im rechtsfreien Raum agiert. Millionen von Menschen wären durch solch eine Maßnahme innerhalb von kürzester Zeit gerettet. Das können wir! Wenn der Finanzminister Österreichs im Juni zur Generalversammlung des Weltwährungsfonds nach Washington reist, können wir ihn dazu zwingen, dass er nicht für die Gläubigerbanken in Frankfurt, Wien, London usw. stimmt, sondern für die sterbenden Kinder, d.h. für die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder der Welt! Damit hätten diese Länder endlich die Mittel, um in Schulen, Spitäler, Dünger und Bewässerung zu investieren. Das können wir – denn der deutsche Finanzminister ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er ist auf der Grundlage der Wahlen der deutschen Bevölkerung auf seinem Posten. Wenn die Oligarchien des Raubtierkapitalismus uns also glauben machen wollen, dass wir vielleicht moralisch recht hätten, aber ja nichts tun könnten, dann müssen wir das Gegenteil beweisen und diese Entfremdung durchbrechen. Denn es sind nicht die Marktkräfte, die die Welt nach vermeintlichen Naturgesetzen beherrschen, es sind immer noch Menschen, die die Gesetze machen.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Welche politischen Forderungen würden Sie gerne unmittelbar durchsetzen?
Jean Ziegler: Sicher ist, dass die Reformen der UNO, die Kofi Annan ausgearbeitet hat, umgesetzt werden müssen – dafür werde ich weiterkämpfen. Kofi Annan ist 2006 aus dem Generalsekretariat geschieden. Er hat ein Testament hinterlassen, nämlich einen Reformplan für den Sicherheitsrat. Dazu muss man nochmal zurückgehen in das Jahr 1941, auf die USS-Augusta: Roosevelt war für eine total demokratisch aufgebaute UNO. Die gibt es jetzt: Die 193 Staaten haben je eine Stimme in der Generalversammlung: China, das bevölkerungsreichste Land der Erde mit 1,3 Milliarden Menschen hat eine Stimme, Vanuatu, der kleinste Staat (55.000 Einwohner), hat ebenfalls eine Stimme. Doch Churchill hat Roosevelt widersprochen und gesagt: Erinnern wir uns, wie Hitler an die Macht gekommen ist! Im November 1932 gewann er die Wahlen – Hindenburg berief ihn nach geltender Verfassung im Januar 1933 zum Reichskanzler. Zwei Monate später kamen die Ermächtigungsbeschlüsse: 491 Reichstagsabgeordnete stimmten damals gegen 94 Abgeordnete, die später in den KZs verschwanden, frei und demokratisch für den Selbstmord der Demokratie, sprich für die Vollmachtsbeschlüsse von Hitler.
Das Argument von Churchill gegenüber Roosevelt war, dass solch eine Katastrophe auch in der Generalversammlung der UNO passieren könne. Die Generalversammlung wäre also ebenfalls in der Lage, Beschlüsse zu fällen, die in diametralem Widerspruch zur Charta der UNO stehen. Es müsse also eine Notbremse eingebaut werden: Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die aus den Siegermächten des Krieges bestanden, müssten die Möglichkeit haben, Nein zu sagen. So kam also das Vetorecht zustande.
Heute sehen wir allerdings, dass dieses Veto-Recht die Uno komplett lähmt. Es ist ein Unheil! In Syrien ist wegen des russischen Vetos keine Intervention möglich; in Gaza und im Jemen wegen des amerikanischen Vetos; im Sudan wegen des chinesischen Vetos – vor unseren Augen entfalten sich fürchterlichste Kriege und die UNO ist wegen des Vetorechts gelähmt… Kofi Annan hat im Jahr 2006 gefordert, dass das Vetorecht nicht mehr zur Anwendung kommen dürfe, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Diese Verbrechen sind im Römischen Statut von 1998, das die Grundlage für die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshof bildet, genau definiert. Der Reformvorschlag von Kofi Annan verschwand jedoch in den tiefsten Schubladen der UNO in New York – und glauben Sie mir, diese Schubladen sind wirklich tief. Die Veto-Mächte sträubten sich damals mit allen Mitteln gegen die Annan-Reform.
Doch seit kurzer Zeit werden diese Pläne wieder aus der Schublade geholt: im Auswärtigen Amt, im State Department, im Foreign Office und am Quai d‘Orsay sind Expertenkommissionen am Werk, um zu prüfen, wie der Plan von Kofi Annan umgesetzt werden könnte. Denn der fürchterliche Krieg in Syrien produziert schreckliche Konsequenzen im Herzen der Veto-Mächte: Die dschihadistischen Mörder, die ein Produkt des Syrien-Krieges sind, töten in München, in Brüssel, Paris oder St. Petersburg. Ein zweiter Grund für die beginnenden Reformbemühungen sind die fünf Millionen Flüchtlinge, die dieser fürchterliche Krieg produziert hat, und die in der EU Einlass suchen. Das Drängen auf eine Reform des Sicherheitsrates wird also stärker.
Parallel zu diesen Entwicklungen muss man allerdings feststellen, dass das Asylrecht in Europa immer mehr mit Füßen getreten wird – hier tun sich vor allem die Regierungen in Osteuropa negativ hervor. Die EU müsste sich nur dazu durchringen, die Solidaritätszahlungen an diese Länder zu stoppen. Das Agieren der EU ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ihre Politik beruht auf Abschreckung. Offiziell gibt man es zwar nicht zu, doch man kalkuliert damit, dass weniger Flüchtlinge nachkommen werden, wenn Menschen an den Stacheldrahtzäunen der EU-Außengrenzen sterben oder im Mittelmeer ertrinken. Dieses Kalkül ist jedoch erstens objektiv falsch und zweitens moralisch absolut unhaltbar. Diese Haltung liquidiert die Grundwerte Europas – deshalb müssen wir gegen diese Politik aufstehen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie im tiefsten Inneren davon überzeugt sind, dass die Geschichte einen Sinn hat – sie sagen, dass sie an die Menschwerdung des Menschen glauben. Inwieweit unterscheidet sich Ihr Weltbild vom Stufenmodell des klassischen historischen Materialismus?
Jean Ziegler: Ich bin ein Bolschewik, der an Gott glaubt. Ich möchte mich Victor Hugo anschließen, der gesagt hat: »Ich hasse alle Kirchen, ich liebe die Menschen, ich glaube an Gott.« Die Liebe, die ich in meinem Leben erfahren habe, sowie die Liebe, die ich in den weltweiten Befreiungsbewegungen gesehen habe, die zeigt, zu welch großen Taten der Mensch fähig ist.
Vielen Dank für das Gespräch.
- Siehe zum Hintergrund im LabourNet Germany das „Dossier: Kommst Du mit ins Gefahrengebiet? Hamburg: Gipfel der G20 7./8. Juli 2017“