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Hatay: Nur für Dschihadisten sicher? Die Auswirkungen des Kriegs in Syrien und der türkischen Syrien-Politik auf die Region Hatay – 2. Bericht
„… Nachdem der IS am 19. März 2016 einen Anschlag in der İstiklal Caddesi (Unabhängigkeitsstraße) in Istanbul verübt hatte, warnten die USA, Israel und Großbritannien ihre Bürger vor Reisen in die Region Hatay. Sicherheitswarnungen, Bombendrohungen und der Anstieg von Polizeimaßnahmen führten zu einem spürbaren Rückgang des öffentlichen Lebens in der Stadt. Hinzu kam eine steigende Anzahl offizieller Meldungen, dass die Anwesenheit von IS-Kämpfern an der Grenze oder gar innerhalb der Stadt befürchtet werde. (…) Gleichzeitig kam es zu Protesten syrischer Flüchtlinge, die keinen „Identitätsnachweis auf der Grundlage temporären Schutzes“ hatten erhalten können: Sie fordern die Rückkehr in ihr Heimatland und hielten dafür sogar Kundgebungen vorm Büro des Gouverneurs von Hatay ab. Es kam außerdem vermehrt zu Zusammenstößen und Auseinandersetzungen zwischen syrischen Flüchtlingen und Einheimischen, und hierbei zu einigen Verletzten. Wenn es ein Wort gibt, das die Atmosphäre in Hatay im Frühjahr 2016 beschreibt, dann wäre dies Beunruhigung. Diese Beunruhigung betrifft aber nicht nur die Einwohner von Hatay mit all den Unterschieden in der religiösen Verankerung und der ethnischen Herkunft. Es betrifft auch die syrischen Flüchtlinge, die Verwaltung und die internationale Gemeinschaft. Am sichersten können sich immer noch die Dschihadisten fühlen: sie gelten als de facto immun und werden weiterhin vom Staat unterstützt…“ Wir dokumentieren die deutsche Übersetzung des zweiten Berichts vom Friedensratschlag Hatay. Siehe auch den ersten Bericht des Friedensratschlags vom Februar/März 2016
Die Auswirkungen des Kriegs in Syrien und der türkischen Syrien-Politik auf die Region Hatay
2. Bericht des Hatay Halk Meclisleri (Zivilgesellschaftlicher Ratschlag) – Friedensratschlag – gegen den Krieg und für das Recht auf Leben – Hatay (März – April 2016)
- Dschihadisten bleiben unbehelligt und planen Anschläge im Ausland
- Geflüchtete werden in die Arme von Dschihadisten getrieben
- Vermehrt Konflikte in der Stadt
Inhalt
- Einführung
- Ziele und Methoden
I. De facto Immunität für Terroristen und Reisewege von Kriegsbeteiligten
- Rückkehrzentren: temporäre Unterkunft für IS-Kämpfer im Vorfeld militärischer Operationen
- Erkenntnisse bezüglich Überstellungen von IS-Kämpfern durch Anschlag in Brüssel bestätigt
- Tschetschenen in die Ukraine, Uiguren nach Kayersi
- Brand im Rückkehrzentrum erregt Verdacht
- Anwalt Cihat Açıkalın: Ausländische terroristische Kämpfer müssten festgenommen werden – werden aber nur wegen Pass-Vergehen in Gewahrsam genommen
II. Flüchtlinge direkt und indirekt zur Rückkehr gezwungen
- Zahl syrischer Geflüchteter in Hatay ist unklar
- Flüchtlinge zurückgeschickt – menschliche Schutzschilde für Dschihadisten
- Der Bericht von Amnesty International
- Indirekter Zwang und „freiwillige“ Ausreise
- Unzureichende und unhygienische Zustände in den Flüchtlingslagern
- Steigende Gewalt gegen Flüchtlinge
- Eskalation in Narlıca
- Krieg breitet sich entlang der Grenze aus
Einführung
Am 15. März 2016 hat der Friedensratschlag Hatay seinen ersten Bericht über „Die Auswirkungen des Syrien-Kriegs und der türkischen Syrien-Politik auf Hatay“ veröffentlicht. „Mit Wut und Sorge“, hieß es dort, „beobachten wir, wie in der Stadt neue Anschläge vorbereitet werden“. In diesem ersten Bericht stellten wir klar, dass die Politik der offenen Tür in Hatay beendet wurde. Syrische Flüchtlinge werden zur Rückkehr gezwungen, festgenommene IS-Kämpfer in Drittstaaten überführt. Die nötigen rechtlichen Verfahren werden dabei regelmäßig nicht eingehalten. Der Bericht wurde in türkischer, englischer und deutscher Sprache veröffentlicht und fand Widerhall in der türkischen, englischen, deutschen, französischen, portugiesischen und aserbaidschanischen Presse.
Eine Woche nach Veröffentlichung unseres Berichts, am 22. März 2016, verübte der IS einen schweren Anschlag in der belgischen Hauptstadt Brüssel. Mit verantwortlich für den Tod von 33 Menschen und 250 Verletzte war Ibrahim el-Bakraoui. Über ihn sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, er sei als ausländischer Kämpfer in der Provinz Gaziantep im Südosten der Türkei festgenommen und in die Niederlande abgeschoben worden. Erdoğan behauptete, die belgischen und niederländischen Behörden wären entsprechend gewarnt worden. Belgische Behörden gaben zu, dass es eine Warnung gegeben hatte – und diese unterschätzt worden war. Sie verwiesen aber auch darauf, dass die Warnung zu spät zugestellt worden war. Niederländische Behörden geben dagegen an, dass weder der Grund für el-Bakraouis Überstellung mitgeteilt noch das rechtliche Prozedere eingehalten worden waren.
Diese Ereignisse bestätigen die Erkenntnisse aus unserem ersten Bericht: IS-Kämpfer werden aus den Rückkehrzentren in Drittstaaten – auch nach Europa überstellt. Das Büro des Gouverneurs von Hatay hat bei diesen Überstellungen die Aufsicht, das Prozedere nach internationalem Recht wird nicht eingehalten. Offensichtlich stellen solche Praktiken eine Bedrohung für die internationale Sicherheit dar.
Am 1. April 2016 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht, demzufolge syrische Flüchtlinge unter Zwang in ihr Heimatland zurückgeführt wurden. Im Bericht ersten Bericht des Friedensratschlags Hatay hatten wir ebenfalls darauf hingewiesen, dass Flüchtlinge ohne den „Identitätsnachweis auf der Grundlage temporären Schutzes“ sowohl direkt als auch indirekt zur Rückkehr nach Syrien gezwungen werden.
Nach Veröffentlichung unseres ersten Berichts kam es in der Stadt zu einer Reihe Zwischenfällen. Die Menschen fühlen sich seither zunehmend unsicher. Nachdem der IS am 19. März 2016 einen Anschlag in der İstiklal Caddesi (Unabhängigkeitsstraße) in Istanbul verübt hatte, warnten die USA, Israel und Großbritannien ihre Bürger vor Reisen in die Region Hatay. Sicherheitswarnungen, Bombendrohungen und der Anstieg von Polizeimaßnahmen führten zu einem spürbaren Rückgang des öffentlichen Lebens in der Stadt. Hinzu kam eine steigende Anzahl offizieller Meldungen, dass die Anwesenheit von IS-Kämpfern an der Grenze oder gar innerhalb der Stadt befürchtet werde. Zwischenzeitlich brannte es im Rückkehrzentrum, es gab einige Verletzte. Über die Umstände, die zum Feuer führten, wurde nichts bekannt. Überhaupt bleibt das Rückkehrzentrum eine Quelle der Besorgnis. Gleichzeitig kam es zu Protesten syrischer Flüchtlinge, die keinen „Identitätsnachweis auf der Grundlage temporären Schutzes“ hatten erhalten können: Sie fordern die Rückkehr in ihr Heimatland und hielten dafür sogar Kundgebungen vorm Büro des Gouverneurs von Hatay ab. Es kam außerdem vermehrt zu Zusammenstößen und Auseinandersetzungen zwischen syrischen Flüchtlingen und Einheimischen, und hierbei zu einigen Verletzten.
Wenn es ein Wort gibt, das die Atmosphäre in Hatay im Frühjahr 2016 beschreibt, dann wäre dies Beunruhigung. Diese Beunruhigung betrifft aber nicht nur die Einwohner von Hatay mit all den Unterschieden in der religiösen Verankerung und der ethnischen Herkunft. Es betrifft auch die syrischen Flüchtlinge, die Verwaltung und die internationale Gemeinschaft. Am sichersten können sich immer noch die Dschihadisten fühlen: sie gelten als de facto immun und werden weiterhin vom Staat unterstützt.
In diesem zweiten Bericht des Friedensratschlags Hatay untersuchen wir die weitgehende Straffreiheit für ausländische Dschihadisten, die Mechanismen ihrer Überstellung in andere Städte in der Türkei bzw. in Drittstaaten sowie den zentralen Ort des Geschehens: das Rückkehrzentrum. Gleichzeitig thematisiert dieser Bericht auch die – direkt wie indirekt – erzwungene Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihr Heimatland.
Ziel und Methoden
Ziel dieses Berichts ist es, die Auswirkungen des Syrien-Kriegs und der Politik der türkischen Regierung in Bezug auf diesen Krieg auf die Region Hatay in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken. Dabei berichten wir direkt aus der Perspektive der Einwohner*innen und nutzen bestätigte Informationen aus erster Hand. Mit unseren Berichten wollen wir die herrschende Zensur unterlaufen. Zensur nutzt nur dem Krieg und führt zu Spannungen zwischen den Völkern. Wir wollen Desinformation vorbeugen und mit korrekten Informationen alle vorhandenen Bemühungen nach einem Leben in Frieden, Brüderlichkeit und Würde unterstüzten.
Der Friedensratschlag Hatay ist eine Organisation, die Individuen und Aktivist*innen verschiedener politischer Überzeugungen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenbringt. Bereits früher haben wir erfolgreiche Kampagnen organisiert: Wir haben etwa auf die Bewegungsfreiheit für Mitglieder von al-Nusra in Hatay aufmerksam gemacht. Außerdem ist es uns gelungen, das Ausbildungs- und Trainingsprogramm für Dschihadisten in Serinyol in den Blick der Öffentlichkeit zur rücken. Auch in Zukunft werden wir Probleme solcher Art weiter verfolgen.
Dieser Bericht stützt sich auf Veröffentlichungen staatlicher Einrichtugen -das Präsidialamt, die Türkischen Streitkräfte, das Innenministeriums, das Büros des Gouverneurs von Hatay, das Direktorat für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD) – sowie auf NGOs wie Amnesty International. Des weiteren werden vertrauenswürdige Berichte von lokalen, nationalen und internationalen Medien, persönliche Interviews mit Einwohner*innen, die die Kriegszerstörung aus erster Hand erlebt haben, sowie Beobachtungen aus verschiedenen Bereichen der Stadt herangezogen.
Für die Erstellung dieses Berichts wurden Beobachtungen in den Bezirken Antakya, Defne, Reyhanlı, Altınözü and Yayladağı angestellt. Persönliche Interviews wurden durchgeführt mit Flüchtlingen im Rückkehrzentrum, syrischen Flüchtlingen ohne „Identitätsnachweis auf Grundlage temporären Schutzes“, Beamten aus dem Innenministerium, Anwälten der Anwaltskammer Hatay, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen sowie einheimischen Journalisten. Aus Sicherheitsgründen haben wir in diesem Bericht einige der Namen unserer Kontakte geändert.
I. De facto Immunität für Terroristen und die Reisewege von Kriegsbeteiligten
Rückkehrzentren: temporäre Unterkunft für IS-Kämpfer im Vorfeld militärischer Operationen
Vor Beginn des Schuljahrs 2015/2016 schlossen die Behörden das Studentenwohnheim der Handelskammer, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Sabancı Studentinnenwohnheim im Bezirk Büyükdalyan in Antakya befindet. Als Grund wurden offiziell „Schwäche und Unbenutzbarkeit“ des Gebäudes angegeben. Das Büro des Gouverneurs von Hatay stellte anschließend das Gebäude dem Amt für Migration in Hatay zur Nutzung als Rückkehrzentrum zur Verfügung. [1]
Als offizielle Stellungnahmen zum Vorgang und zur weiteren Nutzung des Gebäudes ausblieben, wuchsen Argwohn und Besorgnis in der Bevölkerung. Die alte Wohnheimbeschilderung etwa war nicht geändert worden, selbst als Mauern und Zäune rings um das Gebäude errichtet und die Fenster verhangen wurden.
In unserem erster Bericht vom 15. März 2016 machten wir bereits auf die Situation aufmerksam: „Eine lokale Quelle, die anonym bleiben will, sagte uns, das Rückkehrzentrum beherrbergt IS-Kämpfer, die von hier aus in Drittstaaten überstellt werden sollen, auch in die Ukraine.“
Am 17. März 2016 sind wir von Sputnik Türkei zu unserem ersten Bericht interviewed worden. [2] Auch da haben wir unsere Quelle zitiert, derzufolge sich „illegale“ Flüchtlinge ohne „Identitätsnachweis auf Grundlage temporären Schutzes“[3] und ebenso ausländische Dschihadisten im Rückkehrzentrum aufhalten, die illegal eingereist waren. Wir haben darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass ausländische Terroristen in Drittstaaten überstellt – und damit letztlich die Probleme in andere Länder „exportiert“ werden. Nicht einmal das Prozedere nach internationalem Recht wird dabei eingehalten,obwohl die Verquickung mit terroristischen Organisationen bekannt ist.
Erkenntnisse in Bezug auf die Überstellung von IS-Kämpfern durch Anschlag in Brüssel bestätigt
Am 22. März 2016 führte der IS einen massiven Angriff auf die belgische Hauptstadt Brüssel durch. 33 Menschen starben, 250 wurden verletzt. Ibrahim el-Bakraoui, einer der Angreifer, war auf ähnliche Weise, wie wir es für das Rückkehrzentrum Hatay beschreiben, im Juni 2015 von Gaziantep in die Niederlande überstellt worden.
Einen Tag nach dem Anschlag in Brüssel verkündete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan während einer Pressekonferenz mit seinem rumänischen Gegenüber Klaus Iohannis, dass die Türkei einen der Angreifer im Juni 2015 aus der Türkei abgeschoben hatte.
„Wir setzten die belgische Botschaft über die Abschiebung des Attentäters mit einer Note vom 14. Juli 2015 in Kenntnis. Die belgischen Behörden aber entließen den Attentäter trotz seiner Abschiebung“, sagte Erdoğan. „Trotz unserer Warnung, dass diese Person ein ausländischer Terrorist ist, konnten die Belgier keine Verbindungen zum Terrorismus ausmachen. Das gleiche gilt für die Niederlande. Wir schickten ihn, entsprechend seinem Wunsch, in die Niederlande zurück und sandten eine Note an die niederländischen Behörden.“[4]
Höhere belgische Beamten gaben Nachlässigkeit in diesem Fall zu. Innenminister Jan Jambon und Justizminister Koen Geens boten sogar ihren Rücktritt an. Auch der Türkei wurde allerdings Fahrlässigkeit in diesem Zusammenhang vorgeworfen.
„Die Information aus der Türkei kam nicht schnell genug“, sagte Geens. Gleichzeitig gab er zu, dass Belgien auch verspätet reagierte. Der niederländische Justizminister Ard van der Steur machte einen Brief öffentlich, den Ankara am 14. Juli 2015 an die Niederlande gesandt hatte. Demnach wurde die Abschiebung des belgischen Staatsbürgers el-Bakraoui mit einem Flug der Pegasus Airline nach Amsterdam bekannt gegeben, Gründe für seine Überstellung wurden allerdings nicht genannt.[5]
Die Nachlässigkeit der belgischen Behörden jedenfalls ändert nichts an der Tatsache, dass die Türkei Dschihadisten, die sie als „ausländische terroristische Kämpfer“ identifiziert hatte, ohne Einhaltung des rechtlichen Prozederes und ohne rechtzeitige bzw. vollständige Information in andere Staaten abgeschoben hat. Kommentare unserer Quellen sowie Aussagen des niederländischen Justizministers bestätigen das generelle Vorgehen: Trotz ihrer Identifizierung als ausländische terroristische Kämpfer hat die Türkei Dschihadisten entweder in ihr Heimatland oder in Drittstaaten abgeschoben. Das nötige rechtliche Prozedere wurde dabei nicht beachtet und Informationen über die terroristischen Aktivitäten zurückgehalten.
Während Präsident Erdoğan Anschuldigungen gegen Belgien und die Niederlande erhebt, gibt er de facto zu, dass seine Regierung Strafgesetze und internationales Recht ignoriert. Stattdessen bestimmt eine Außenpolitik das Handeln, bei der die Unterstützung von Dschihadisten und der Sturz der syrischen Regierung an erster Stelle stehen.
Tschetschenen in die Ukraine, Uiguren nach Kayersi
C.T., ein Beamter aus dem Innenministerium, war zu einem Gespräch über die Situation im Rückkehrzentrum mit uns bereit – unter der Bedingung, dass wir seine Aussagen unter einem Pseudonym öffentlich machen.
C.T. sagte uns, die Politik gegenüber Flüchtlingen und Dschihadisten in Hatay hatte sich sehr plötzlich geändert. Flüchtlinge haben keinen Zugang mehr zu wirklichem Schutz und Sicherheit. IS-Kämpfer und anderen dschihadistischen Gruppen dagegen wird de facto Immunität zugestanden.
„Wenn ein Mitglied des IS festgenommen wird, werden keine rechtlichen Schritte eingeleitet – obwohl die Sicherheitskräfte in der Regel über die Zugehörigkeit zum IS im Bilde sind und eine Einordnung als ausländischer terroristischer Kämpfer erfolgt. Normalerweise gibt es darüber keine Dokumentation. Es geht darum, solche Leute schnell wieder loszuwerden, sie ohne Probleme abschieben zu können“, so C.T. weiter.
„Wenn bekannt ist, dass die Person zum IS gehört, dann wird sie entweder in ihr Heimatland abgeschoben – oder, wenn sie sich weigert, in einen Drittstaat. Wenn es zu riskant ist, einen ausländischen terrroristischen Kämpfer in sein Heimatland zurückzuschieben – wie es bei Russland der Fall ist – werden sie in ein anderes Land geschickt. Dschihadisten aus der Russischen Föderation, zumeist Tschetschenen, werden in die Ukraine überstellt. Einige werden auch nach Malyasia oder Jordanien abgeschoben“, sagte der Ministerialbeamte.
„Die Politik kann sich ständig ändern. Es ist nicht wirklich festgelegt, was mit den Männern passiert. Sie werden entweder in ihr Heimatland abgeschoben, oder auch nach Syrien, oder in einen Drittstaat… Manche werden sogar auf Bewährung entlassen – unter der Auflage einer regelmäßigen Meldepflicht“, sagte er.
C.T. sagte uns, die Überstellung ausländischer terroristischer Kämpfer werde vom Nationalen Nachrichtendienst (MİT) durchgeführt. Dabei liegt auch die Befehlsgewalt beim Geheimdienst und nicht etwa bei höheren Zivilbeamten. Im Fall chinesischer Staatsbürger uigurischer Herkunft aus „Ostturkestan“ [das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang in China – Anm. d. Üb.] werden oft türkische Ausweise ausgestellt und die Menschen nach Kayersi [Provinz in der Zentral-Türkei] geschickt.
Über eventuelle Gründe für den staatlichen Schutz derjenigen, die in andere Staaten oder in andere Städte in der Türkei verbracht werden, hat sich unsere Quelle nicht geäußert.
Die Beziehungen zu den Dschihadisten gestalten sich keineswegs problemlos. Im Rückkehrzentrum, das hinter all seiner Abschottung normalerweise eine gewisse Ruhe ausstrahlt, kam es zu einigen Zwischenfällen. Immer wieder eskalieren Spannungen zwischen IS-Kämpfern und Flüchtlingen, sagte uns C.T. Insbesondere sei es so, dass Angehörige des IS sich mit unerwünschten Maßnahmen nicht abfinden und in solchen Fällen Probleme verursachen. Ende 2015 waren fünf tschetschenische Dschihadisten aus dem Rückkehrzentrum geflohen. Die Sicherheitsmaßnahmen waren daraufhin verschärft worden.
Nach unserem Interview mit C.T. sprachen wir mit S.K., einem Flüchtling, der längere Zeit mit Syrern, Uiguren und Tschetschenen im Rückkehrzentrum verbracht hat. „Ich war sowohl im alten als auch in diesem neuen Rückkehrzentrum untergebracht. Die Behandlung und die Bedingungen im neuen Zentrum sind gut“, sagte uns S.K. Nach dem Schicksal der tschetschenischen und uigurischen Dschihadisten gefragt, sagte S.K.: „Es war im November oder Dezember – ich weiß es nicht mehr genau – als die Tschetschenen entkamen. Ich glaube, sie hatten Angst, man würde sie nach Russland zurück schicken. Die Leute aus Ostturkestan haben kein Problem, sie gehen nach Kayersi.“
Brand im Rückkehrzentrum erregt Verdacht
Am 23. März 2016 brach gegen 13.30 Uhr im Rückkehrzentrum ein Feuer aus. Polizei und Feuerwehr waren im Einsatz. Sechs Menschen waren im Gebäude eingeschlossen und wurden vor Ort behandelt, die anderen mit Polizeifahrzeugen evakuiert. Das Büro des Gouverneurs von Hatay ließ in einer kurzen Stellungnahme verlauten, Ursache für den Ausbruch des Feuers sei eine Fehlfunktion des Heizkessels gewesen.[6] In einer Stellungnahme vom 24. März 2016 sprachen auch Verantwortliche der Feuerwehr davon, dass der Brand im Heizungsraum ausgebrochen sei. Auf den präsentierten Fotos vom Brandort war allerdings weder ein Heizkessel noch ein Heizungsraum zu sehen. Auf den Bildern deutlich zu erkennen war jedoch das nicht geänderte Namensschild des Gebäudes: Noch immer hieß es „Studentenwohnheim der Handelskammer“.
Im Anschluss an die Stellungnahmen des Büros des Gouverneurs und der Feuerwehr wurden Spekulationen laut, Dschihadisten hätten das Feuer selbst angezündet, weil ihnen Maßnahmen drohten, mit denen sie nicht einverstanden waren. Kurz vor dem Brand, am 20. März, hatte der Generalstab die Verhaftung dreier ausländischer IS-Kämpfer verkündet.[7] Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete außerdem die Verhaftung von zwei Mitgliedern der al-Nusra Front.[8] Auf der Webseite des Gouverneurs, auf der „Ingewahrsamnahmen und Verhaftungen von Mitgliedern terroristischer Vereinigungen“ aufgelistet werden, ist nur die Rede von den beiden Mitgliedern der al-Nusra-Front.[9] Die drei IS-Mitglieder dagegen werden mit keinem Wort erwähnt.[10]
Anwalt Cihat Açıkalın: Ausländische Kämpfer müssten als solche strafverfolgt werden, werden aber nur wegen Passvergehen festgenommen
Der Anwalt Hüseyin Cihat Açıkalın, der viele Jahre im Bezirk Reyhanlı in Hatay gearbeitet hat, beantwortete unsere Fragen zur erfolgten Abschiebung ausländischer terroristischer Kämpfer am 19. April. Açıkalın sagte uns, Strafverfahren wegen Terrorismus werden ausschließlich gegen türkische Staatsangehörige eröffnet. Ausländische terroristische Kämpfer dagegen würden nur wegen Passvergehen verfolgt, was einer deutlich milderen Behandlung gleichkommt. Açıkalın fügte hinzu, diese Maßnahmen würden nicht aufgrund der Gesetzeslage so gehandhabt. Viel mehr wäre dies eine Frage der türkischen Außenpolitik.
Bezüglich der Abschiebung von Dschihadisten in Drittstaaten sagte Açıkalın: „Ausländische terroristische Kämpfer, die in Hatay verhaftet werden, werden – soweit nicht bereits frühere Ermittlungen gegen sie stattgefunden haben – in Drittstaaten überstellt. Wenn man sich dabei an das Vorgehen entsprechend dem internationalen Kampf gegen den Terror halten würde, müsste das Zielland entsprechend informiert und müsste der Verbleib der Abgeschobenen nachvollzogen werden.“
Im Hinblick auf den Anschlag in Brüssel und die zwischenstaatlichen Meinungsverschiedenheiten sagte Açıkalın: „Diese Abschiebungen finden nicht nach geltendem internationalen Recht statt. Wenn eine Person als Terrorist verdächtigt wurde, gab es dazu einen Vermerk in den Abschiebedokumenten? Wenn sie nur auf der Grundlage von Passvergehen abgeschoben werden, können sie zurückkehren und einfach überall einen Anschlag verüben.“
„[Es ist bekannt], wer diese Menschen sind… Sie müssen verhaftet und eingesperrt werden, entweder in der Türkei oder in einem anderen Land. Sie abzuschieben, löst das Problem nicht. Sie müssen vor Gericht“, sagte Açıkalın.
„Entsprechend der geltenden Rechtslage zur Bekämpfung von Terrorismus in der Türkei ist die Mitgliedschaft oder Befürwortung [von Terror] eine Straftat. Gegen Menschen, die unter einem solchen Verdacht festgenommen werden, müssen rechtliche Schritte eingeleitet werden und sie müssen mit Abschiebung rechnen. Wenn jemand Mitglied einer Terrororganisation ist, muss die Person eingesperrt und muss ein Verfahren eingeleitet werden“, sagte der Anwalt.
„Man kann die Verantwortung nicht einfach an jemand anderen weitergeben. Dazu gibt es Vorschriften nach internationalem Recht. Es müssen Ermittlungen durchgeführt und die vorgesehenen Warnungen übermittelt werden „, sagte er.
„Bis zum Anschlag in Brüssel haben sowohl Europa als auch die Türkei immer den jeweils einfachsten Weg gewählt. Die Überstellungen erfolgten unkoordiniert und ohne funktionierende Kommunikation. Diese Haltung entsprach außenpolitischen Erfordernissen. Geltendem nationalen Recht entspricht das aber nicht“, sagte Açıkalın.
„Ausländische Journalisten werden inhaftiert. Ein Journalist in Diyarbakır war für zwei Monate im Gefängnis, ehe er entlassen wurde. Warum also werden ausländische Terroristen anders behandelt? Das ist eine Frage des Strafrechts. Ich richte mich nach den Strafgesetzen und den Artikeln internationaler Konventionen“, sagte er.
Bezüglich des Umgangs mit Mitgliedern des IS und der al-Nusra-Front sagte Açıkalın: „Gegen türkische Staatsbürger werden generell Verfahren eröffnet. Von Verfahren gegen Ausländer weiß ich nichts. Auch gegen sie müssen Verfahren eröffent werden – und zwar nicht lediglich wegen Passvergehen oder illegaler Einreise, sondern wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung einer Terrororganisation.“
II. Flüchtlinge direkt und indirekt zur Rückkehr gezwungen
Zahl der syrischen Flüchtlinge in Hatay unklar
Der Gouverneur von Hatay, Ercan Topaca, verkündete am 15. Februar 2016, dass sich nach offiziellen Angaben 402.000 syrische Flüchtlinge in Hatay aufhalten. Auf der zweiten Regionalkonferenz der Ombudsmänner am 21. April 2016 dagegen sagte er, die Zahl hätte sich auf 408.000 erhöht.[11] Fast gleichzeitig, am 14. April 2016, gab die Generaldirektion der Einwanderungsbehörde im Innenministerium bekannt, die Zahl der Syrer*innen unter temporärem Schutz in Hatay beträgt 386.106.
Nicht nur wegen der Inkonsistenzen müssen die Zahlen genauer diskutiert werden. Die Zahl der Flüchtlinge in den Camps nämlich beträgt – nach den Angaben von Gouverneur Topaca – nur 18.000.[12] Die genauen Zahlen sind schwer einzuschätzen. Denn viele der Syrer*innen leben in anderen Bereichen der Provinz auf eigene Kosten – ohne dass es einen wirklichen offiziellen Überblick darüber gäbe. Wieder andere haben sich zwar in Hatay registrieren lassen, sind dann aber ohne offizielle Erlaubnis in andere Provinzen des Landes weitergezogen.
Die Diskrepanzen in den Angaben zur Zahl der syrischen Flüchtlinge und zu deren aktuellen Aufenthaltsorten führten zu größeren Problemen. Immerhin hatten die Europäische Union und die Türkei kürzlich eine Vereinbarung getroffen, nach der die EU Ankara die Zahlung von 3 Milliarden Euro für die Flüchtlinge zugesagt hat. In der Folge versuchte das Familien- und Sozialministerium genauer zu bestimmen, wieviele Personen sich an welchem Ort aufhalten.
Wir sprachen darüber mit zwei Mitarbeitern des Ministeriums. Sie sagten uns, syrische Flüchtlinge ohne „Identitätsnachweis auf der Grundlage temporären Schutzes“ wollten sich nicht registrieren lassen. Außerdem wurde die Aufklärungsarbeit aus Sicherheitsgründen ausgesetzt, nachdem Mitarbeitern des Ministeriums bei dieser Arbeit einige unerwünschte Reaktionen entgegengeschlagen waren.
Flüchtlinge zurückgeschickt – menschliche Schutzschilde für Dschihadisten
Die Verärgerung und das Misstrauen der syrischen Flüchtlinge gegenüber staatlichen Institutionen hat seinen Grund. Seit Mitte Februar wurden Syrer*innen in Hatay vermehrt kontrolliert – auf der Autobahn, an Busstationen und Shuttle-Bussen für Arbeiter*innen. Syrer*innen ohne „Identitätsnachweis auf Grundlage temporären Schutzes“ wurden im Anschluss am Grenzübergang Cilvegözü in Reyhanlı abgeschoben.
Am 14. Februar 2016 ist ein türkischer Soldat im Dorf Güveççi in Yayladağı’s an der syrischen Grenze getötet worden. Daraufhin wurden die Kontrollen verstärkt. Es wurden für Syrer*innen auch keine „Identitätsnachweise auf der Grundlage temporären Schutzes“ mehr ausgestellt. Am 5. März 2016 wurde der Grenzübergang Cilvegözü gesperrt. Grenzübertritte sind nur noch mit Sondererlaubnis und unter Aufsicht des Büros des Gouverneurs möglich.
Diese Karte zeigt das Dorf Bükülmez, den Grenzübergang Cilvegözü und das Flüchtlingslager Atme entlang der Grenze zwischen Reyhanlı (Türkei) und Idlib (Syrien):
Die „Zeltstadt“ Atme befindet sich direkt gegenüber dem Dorf Bükülmez in Reyhanlı auf der syrischen Seite der Grenze:
Am Grenzübergang Cilvegözü warteten auf der syrischen Seite Ahrar al-Sham und al-Nusra auf die abgeschobenen Syrer*innen. Ahrar al-Sham kontrolliert den Grenzübergang Bab al-Hawa. Al-Nusra ist die zweite vorherrschende Kraft in der Region. Einige Kilometer nördlich in dem Gebiet, dass von den beiden mehr oder weniger von al-Qaida inspirierten Gruppen kontrolliert wird, befindet sich das Lager Atme. Das Lager, nur einen Steinwurf entfernt vom Dorf Bükülmez im türkischen Reyhanlı, wächst kontinuierlich und ist auf dem besten Weg, zu einer richtigen Stadt zu werden. Der türkische Staat und islamistische NGOs haben für dieses und andere Camps in Idlib nahe der Grenze geworben. Der türkische İHH [eine der so genannten Hilfsorganisationen – mit Verbindungen in dschihadistische Kreise bis hin zum IS und al-Qaida – Anm. d. Üb.] leitete die Verteilung der Hilfsgüter im Camp. Unterstützung kam dabei vom Türkischen Roten Halbmond (Türk Kızılayı).[13] Im Endeffekt stellt sich die Lage so dar, dass der türkische Staat die weitere Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge verweigert und sie stattdessen zum Verbleib in von Dschihadisten kontrollierten Gebieten auf syrischer Seite zwingt. Dieses Vorgehen bringt nicht nur Erleichterung der „Flüchtlingslast“ für die Türkei. Sondern die Flüchtlinge werden als menschliche Schutzschilde für Dschihadisten missbraucht, die von der russischen und syrischen Armee angegriffen werden.
Der Bericht von Amnesty International
Die Erkenntnisse aus unserem ersten Bericht, dass syrische Flüchtlinge zwangsweise abgeschoben werden, wurden durch den Bericht von Amnesty International vom 1. April 2016[14] bestätigt. Amnesty gibt dort an, dass entgegen dem Abkommen zwischen der Türkei und der EU und unter Verletzung internationalen Rechts im Februar und März tausende syrischer Flüchtlinge zwangsweise zurückgeschoben wurden.
Einer der syrischen Flüchtlinge ohne „Identitätsnachweis auf der Grundlage temporären Schutzes“ hatte Amnesty gegenüber berichtet, nicht registrierte Syrer*innen wären zur Registrierungsstelle gelockt worden – nur um dann festgenommen, ins Rückkehrzentrum gebracht und von dort nach Syrien abgeschoben zu werden. Deshalb verzichten manche der nicht registrierten Syrer*innen lieber auf die Vorteile von medizinischer Versorgung und Lebensmittelhilfen, die mit der Registrierung einher gehen. So vermeiden sie das Risiko zwangsweiser Abschiebung nach Syrien, sagte der Flüchtling.
Nach der Veröffentlichung des Berichts von AI reiste ein Korrespondent des niederländischen staatlichen Fernsehens nach Hatay. Er führte eine Reihe von Interviews durch und veröffentlichte in seiner Sendung auch von Syrer*innen selbst aufgenommene Videos, die Szenen der Abschiebungen zeigen. [15]
Beitrag im niederländischen staatlichen Fernsehen mit einem Video über die zwangsweise Abschiebung von Syrer*innen aus Hatay
Auch unsere Interwievs mit Yunus Dolgun, der Anwältin Hatice Can und Mahmoud Bitar, die alle in Reyhanlı wohnen, bestätigen, dass nicht registrierte Syrer*innen, die innerhalb der Türkei verhaftet werden, nach Syrien zurückgeschoben werden.
Mahmoud Bitar zeigte uns ein Video, auf dem eine Gruppe Syrer*innen zu sehen war, die in einen Minibus gezwungen wurden. Mit einem anderen Flüchtling sprachen wir übers Internet. Er sagte uns, jeden Tag werden Syrer*innen mit Bussen nach Syrien zurückgebracht.
Indirekter Zwang und „freiwillige“ Ausreise
Am 30. März 2016 protestierten etwa 30 bis 40 Syrer*innen, darunter Frauen und Kinder, mit einer Sitzblockade vor dem Büro des Gouverneurs von Hatay im Zentrum von Antakya. Sie forderten, in ihr Heimatland zurückkehren zu können.
Syrische Flüchtlinge beim Sitzstreik vor dem Büro des Gouverneurs von Hatay:
In einer Diskussion mit Vertretern der Behörde erklärte die Gruppe, sie hätten keinen „Identitätsnachweis auf der Grundlage temporären Schutzes“. Deshalb seien ihre Bewegungsmöglichkeiten in Hatay zunehmend eingeschränkt. Sie wollten lieber nach Aleppo zurückkehren. Da die Grenze geschlossen ist, können sie das aber nicht. Deshalb forderten sie das Büro des Gourverneurs auf, ihre Rückkehr zu ermöglichen.
Die Polizei verweigerte der Gruppe den Zugang zum Büro des Gouverneurs. Behördenvertreter stellten sich aber dem Gespräch mit den Protestierenden. Sie gaben an, die Menschen müssten sich zuerst bei der Einwanderungsbehörde registrieren lassen. Dann könnten sie einen Antrag auf Rückkehr nach Syrien stellen. Soweit sie nicht in der Türkei für juristische Vergehen gesucht würden, würden sie auf dieser Grundlage nach Syrien zurückkehren können. Presseberichte zum Protest sollten allerdings unterbunden werden: Filmaufnahmen wurden der anwesenden Presse durch die Behördenvertreter verboten.
Der indirekte Zwang, der Flüchtlinge zur Rückkehr treibt, bezieht sich nicht nur auf Beschränkungen der Bewegungsfreiheit für nicht registrierte Syrer*innen, die im Fall ihrer Verhaftung mit Abschiebung rechnen müssen. Sondern syrische Flüchtlinge leben weiterhin in ausgesprochen ärmlichen Verhältnissen und sehen sich mit steigender Gewalt konfrontiert.
Unzureichende und unhygienische Zustände in den Flüchtlingslagern
Die übergroße Mehrheit der etwa 400.000 Flüchtlinge in Hatay wohnt irgendwo zur Miete – teils sogar in Scheunen und Schuppen. Nur etwa 18.000 von ihnen wohnen in den Flüchtlingslagern. Die Bilder unten wurden in den Lagern aufgenommen. Presse ist dort nicht erlaubt. Man sieht das Fehlen jedweder menschlicher Lebensumstände. Das Wasser von den unhygienischen Duschen und Toiletten läuft nicht richtig ab, immer wieder kommt es zu Überschwämmungen. Das Wasser, in dem die Kinder spielen, ist schmutzig. Und schmutzig ist auch das Waschbecken fürs Geschirr.
Die folgenden drei Fotos vom Lager Boynuyoğun in Altınözü zeigen jeweils die Zustände am Geschirrspülbecken, der Damentoilette und dem Bereich, wo Kinder spielen:
Sanitärbereich mit Duschen und Toiletten im Lager Tekel in Altınözü
Die folgenden beiden Bilder zeigen den Bereich außerhalb der Zelte sowie die unhygienischen Zustände im Sanitärbereich im Camp Apaydın
Diese drei Bilder zeigen den Bereich zum Geschirrspülen und Wäschewaschen sowie eine Dusche im Lager Tekel in Yayladağı
Frauen spülen Geschirr unter freiem Himmel im Lager YİBO in Yayladağı:
Steigende Gewalt gegen Flüchtlinge
Syrische Flüchtlinge in der Provinz Hatay sind konfrontiert mit sexueller Ausbeutung, Arbeit ohne Schutz und bei geringer Bezahlung, Verheiratung als Zweitfrau oder in sehr jungem Alter, Sexarbeit und unfreiwilliger Beteiligung an kriminellen Geschäften.
In jüngster Zeit haben sich zwei weitere Vorfälle ereignet, von denen syrische Flüchtlinge betroffen waren. Einer davon fand breiten Wiederhall in der Presse, der andere blieb dem Blick der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.
Beim ersten Vorfall schlugen Ladenbesitzer mit Knüppeln auf zwei Jugendliche ein, die gegen 5.30 morgens am 1. April 2016 in einem Geschäft in der Yavuz Sultan Selim Straße in Kanatlı/ Antakya versucht hatten, Brot zu stehlen.
F.A. und M.B., zwei 16jährige syrische Jugendliche mit Papieren nach temporärem Schutz, hatten in einem Geschäft ohne Erlaubnis Brot von einem Regal genommen. Daraufhin wurden sie vom Ladenbesitzer M.T. und einem seiner Angestellten, V.Z., über einen längeren Zeitraum mit Schlägen traktiert. [16]
Der Vorfall kam ans Licht, nachdem ein Video, das Szenen der Gewalt zeigte[17], in sozialen Medien veröffentlicht worden war. Viele der ähnlichen Attacken gegen Syrer*innen und Ausländern, die für Dschihadisten gehalten werden, bleiben auf Druck der Behörden der Öffentlichkeit normalerweise verborgen.
Eskalation in Narlıca
Am Sonntag, 17. April 2016 kam es im Bezirk Narlıca in Antakya zu Zusammenstößen, die weitere Nachwirkungen haben könnten. An besagtem Tag kam es zwischen syrischen Flüchtlingen und Bewohnern der Nachbarschaft zu massiven Auseinandersetzungen. Messer und Knüppel kamen zum Einsatz.
Die genaue Ursache für die Auseinandersetzungen ist nicht bekannt. Berichtet wird, ein Streit zwischen Kindern sei eskaliert. Dieser hätte sich zunächst auf die Familien der Kinder ausgeweitet. Später wären generell syrische Flüchtlinge einerseits und Bewohner andererseits aufeinander losgegangen.
Mehrere Teams der Polizei waren im Einsatz. Geschäfte und andere Arbeitsstellen wurden bei den Kämpfen beschädigt. Auch Vertreter des Büros des Gouverneurs von Hatay hatten sich vor Ort begeben. Lokale Journalisten dagegen wurden von Polizei und eben diesen Behördenvertretern an der Berichterstattung über die Ereignisse gehindert.
Am Tag nach den Auseinandersetzungen blieb die Recep Tayyip Erdoğan Schule, an der syrische Kinder aus der Nachbarschaft unterrichtet werden, geschlossen. Geschlossen blieben auch etliche Arbeitsstellen im Besitz von Syrer*innen.
Spannungen zwischen Flüchtlingen und der lokalen Bevölkerung hatten sich bereits in der Vergangenheit gelegentlich in gewaltsamen Auseinandersetzungen Bahn gebrochen. Der Zwischenfall in Narlıca jedoch der erste, bei dem sich syrische Flüchtlinge in einer klar pro-AKP ausgerichteten Nachbarschaft gegen die Einwohner zur Wehr gesetzt haben. Die soziale und ökonomische Infrastruktur in der Stadt zerfällt. Kriminelle Geschäfte breiten sich aus. Ebenso wachsen Gefühle von Fremdheit, Demütigung und Misstrauen unter den Flüchtlingen. In Verbindung mit wachsender Unzufriedenheit und Sorge unter den türkischen Einwohner*innen von Hatay über den Krieg in Syrien und die syrischen Flüchtlinge eröffnen sich neue, gefährliche soziale Spaltungslinien in der Provinz.
Nicht nur syrische Flüchtlinge in Hatay, sondern auch in anderen Teilen der Türkei fordern eine Rückkehr nach Syrien. Dort halten die Kämpfe zwar weiter an, in der Türkei aber wird ihnen eine menschenwürdige Behandlung vorenthalten. Wir trafen eine syrische Familie, die ursprünglich aus Idlib geflohen war. Nun hatten sie sich von Istanbul aus auf den Rückweg gemacht und waren mit dem Bus in Hatay angekommen. Hier erzählten sie uns von ihrem Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Auf unsere Frage, woher sie den Mut nahmen, mitten in den Krieg zurückzukehren, bekamen wir eine bewegende Antwort: „Wir kehren zurück. Wir werden sterben oder wir werden leben. Hier aber leiden wir nur.“
Krieg breitet sich entlang der Grenze aus
Am 24. April sind in der Provinz Kilis im Südosten der Türkei 17 Menschen durch Raketenbeschuss getötet und weitere 62 verletzt worden. Der Angriff kam von dschihadistischen Gruppen aus Syrien. Sechs der Getöteten waren selbst Syrer*innen, die anderen türkische Staatsbürger*innen.
In unserem vorangegangenen Bericht haben wir auf die vermehrten Reisebewegungen von Dschihadisten zwischen Hatay und Kilis hingewiesen. Im Februar war mit Unterstützung der türkischen Regierung zwischen Hatay und Kilis ein neuer Korridor für Dschihadisten entstanden: Dschihadisten reisen vom syrischen Idlib nach Hatay, von wo aus sie nach Kilis weitertransportiert werden. Von dort aus waren 2.000 Dschihadisten – mit ihren Waffen – wieder nach Syrien eingereist, diesmal in die Region nördlich von Aleppo. Die Regierung hat diese Anschludigungen niemals abgestritten.
In der Folge dieser Reisebewegungen hat der Krieg entlang der Grenze in Kilis mehrere Menschenleben gefordert. Auch der Bezir Yayladağı in Hatay war von syrischem Boden aus mit Artillerie beschossen worden.
Der Krieg der Dschihadisten, der auch mit Unterstützung durch türkische Machthaber geführt wird, hat nicht nur Auswirkungen auf die Grenzregion. Auch Bereiche im Landesinneren sind von den Auswirkungen der Kriegspolitik betroffen. Bewohner*innen des Dorfes Aşağı Terolar (Sivricehüyük) im südostanatolischen Kahramanmaraş wehren sich seit geraumer Zeit gegen die Einrichtung eines Flüchtlingslagers, das auf ihren Weideflächen entstehen soll. Offiziell soll das Lager die Probleme bei der Unterbringung syrischer Flüchtlinge mildern. Die Bewohner*innen befürchten allerdings die Entstehung eines Camps für Dschihadisten – ähnlich dem Camp Apaydın in Antakya (Hatay). Der Friedensratschlag Hatay hat die protestierenden Bewohner*innen am 13. April 2016 besucht und kann deren Sorgen bestätigen. Diese Sorgen sind nicht unbegründet: Das Lager wäre nur 130 Kilometer entfernt vom Grenzübergang Öncüpınar in Kilis – einem ausgewiesenen Versorgungspunkt der Dschihadisten.
Die Politik der türkischen Regierung hat zu Spannungen in Hatay, Kilis-Gaziantep und Kahramanmaraş geführt. Diese Politik ist der Grund, dass der Krieg in Syrien auch direkte Auswirkungen in der Türkei hat. Aus der gegenwärtigen Lage und dem bisherigen Geschehen sind für die Zukunft weitaus negativere Entwicklungen und neue Auseinandersetzungen zu befüchten.
26. April 2016, Hatay
Kontakt:
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Koordination: Ali Ergin Demirhan (ali@sendika.org / 0553 281 93 05 – Englisch/ Türkisch)
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Anmerkungen:
[1] Üniversite yurdu sığınmacılara, SES gazetesi http://www.iskenderunses.net/haber/universiteyurdusiginmacilara-26023.html
[2] Hatay için çarpıcı rapor: Kent El Nusra’nın soluk borusu, Elif Örnek http://tr.sputniknews.com/columnists/20160317/1021548126/hatay-sinir-turkiye-elnusra-cihatci.html
[3] Zum Verfahren der Erteilung eines „Identitätsnachweises auf der Grundlage temporären Schutzes“: Über Jahre hinweg hat die türkische Regierung über die Einwanderungsbehörden „Identitätsnachweise auf der Grundlage temporären Schutzes“ für jeden ausgestellen lassen, der über die syrische Grenze in die Türkei eingereist ist – unabhängig davon, ob es sich um syrische Staatsbürger auf der Flucht vor dem Krieg handelte oder nicht. Wer ein solches Dokument besitzt, hat Zugang zu Gesundheitsversorgung und weiteren Hilfsleistungen. Das Dokument ist allerdings unter anderem auch an ausländische Terroristen – und sogar an Touristen ausgestellt worden. Viele von diesen sind inzwischen gar nicht mehr in der Türkei, sind aber in der offiziellen Statistik weiter enthalten. Zu Beginn war das Dokument ausgesprochen simpel und konnte mit einfachen Mitteln kopiert werden. Mit dem Anstieg der syrischen Flüchtlinge verschärfte sich die Situation. Zur Erlangung eines „Identitätsnachweises auf der Grundlage temporären Schutzes“ wurde ein etwas seriöseres Verfahren eingeführt, bei dem etwa Identifikationsnummern vergeben wurden. Nach 2014 änderte sich die Politik bei der Vergabe des Identitätsnachweises fast täglich. Immer wieder wurde die Vergabe der Dokumente ausgesetzt. Seit Februar/ März diesen Jahres nun werden die Dokumente endgültig nicht mehr ausgestellt. Wie viele Syrer*innen leben in der Türkei? Wie viele davon sind mit dem Identitäsnachweis ausgestattet? Wie viele dieser Identitätsnachweise sind echt? Selbst die Regierung hat dazu keine gesicherten Informationen.
[4] Erdoğan: Bürksel saldırganlarından birini sınırdışı etmiştik, BBC Türkçe. http://www.bbc.com/turkce/haberler/2016/03/160323_erdogan_bruksel
[5] Belgium admits mishandling Turkich terror warnings, Financial Times. http://www.ft.com/intl/cms/s/0/65c89c22-f1cb-11e5-aff5-19b4e253664a.html#axzz46OTBQD3J
[6] Veröffentlichung des Büros des Gouverneurs von Hatay: http://www.hatay.gov.tr/geri-gonderme-merkezi-konulu-basin-bulteni
[7] http://www.sozcu.com.tr/2016/gundem/8-isidli-terorist-yakalandi-1146650/
[8] http://www.sabah.com.tr/gundem/2016/03/20/hatay-sinirinda-2-terorist-yakalandi
[9] http://www.hatay.gov.tr/teror-konulu-basin-bulteni2103
[10] http://www.hatay.gov.tr/tum-basin-aciklamalari
[11] http://www.hatay.gov.tr/kamu-denetciligi-kurumu-2-bolgesel-konferansi-hatayda-gerceklesti
[12] http://www.haberler.com/hatay-valisi-topaca-1-5-milyon-nufuslu-kentimizde-8186628-haberi/
[13] http://www.ihh.org.tr/tr/main/pages/suriyeye-yapilan-yardimlar/313
[14] https://www.amnesty.org/en/press-releases/2016/04/turkey-illegal-mass-returns-of-syrian-refugees-expose-fatal-flaws-in-eu-turkey-deal/
[15] http://nos.nl/uitzending/14471-nieuwsuur.html
[16] http://www.hurriyet.com.tr/suriyeli-cocuklara-dayak-atan-esnaflar-gozaltina-alindi-4008222