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Die Auswirkungen des Kriegs in Syrien und der türkischen Syrien-Politik auf die Region Hatay

Aktivist*innen des Friedensratschlags Hatay bei der Vorstellung ihres ersten Berichts (15. März 2016/ sendika.org)Hatay ist die südlichste Provinz der Türkei, zwischen dem Mittelmeer auf der westlichen Seite und der syrischen Grenze im Süden und Osten. Der Krieg ist damit gleich nebenan, die Auswirkungen sind direkt vor Ort zu greifen. Türkische Friedensaktivist*innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Berichterstattung aus der Region zu objektivieren. Vielfach liest man von der Verquickung der türkischen Politik mit dschihadistischen Umtrieben im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien. Hier will der Friedensratschlag mit gesicherten Informationen zu einem fundierteren Bild beitragen. Die Aktivist*innen nehmen aber ebenso die Lage der syrischen Flüchtlinge vor Ort sowie die Einschätzungen der lokalen Bevölkerung in den Blick. Inzwischen liegt der erste Bericht vor, der sich auf die Monate Februar und März 2016 bezieht. Wir dokumentieren hier die deutsche Übersetzung.

Zuvor für die Orientierung: Eine Karte der Provinz Hatay mit ihren Bezirken (Quelle: http://cografyaharita.com/haritalarim/4l_hatay_ili_haritasi.png)

Karte der Provinz Hatay im Südwesten der Türkei mit ihren Bezirken

sowie eine Karte des angrenzenden syrischen Gebiets inklusive der örtlichen Verteilung der kämpfenden Gruppierungen (Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Template:Syrian_Civil_War_detailed_map. Legende: Rot = Regierung, Grün = Opposition, Gelb = Syrian Democratic Forces inklusive YPG, Grau = Al-Nusra, Schwarz = IS)

Nordwestliches Syrien mit Verteilung der kämpfenden Gruppierungen


 

1. Bericht des zivilgesellschaftlichen Ratschlags (HALK MECLİSLERİ)  – FRIEDENSRATSCHLAG – GEGEN DEN KRIEG UND FÜR DAS RECHT AUF LEBEN – Hatay  (Februar – März 2016)

ÜBERBLICK

  • Al-Nusra dominiert de facte die Grenzregion; der IS ist in Stadtgebieten präsent; die Gegend ist zum Umschlagplatz für Dschihadisten geworden
  • Auffällige Entwicklungen in YAYLADIĞI; in REYHANLI werden Kriegsausbruch und neue Bombenanschläge befürchtet; drohender Krieg in ALTINÖZÜ
  • Arabische Alawiten und Christen werden bedroht; die sunnitische Mehrheitsbevölkerung wird mit haltlosen Gerüchten zu provozieren versucht
  • Angespannte Wirtschaftslage geht einger mit erhöhter Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen
  • Geflüchtete sind Menschenhändlern, unzureichender Gesundheitsversorgung, unsicheren Arbeitsbedingungen, Prostitution, Frauenhandel, Kinderheirat und sexueller Ausbeutung ausgesetzt

ZIELSTELLUNG DES BERICHTS

Ziel dieses Berichts ist es, die Auswirkungen des Syrien-Krieges und der türkischen Politik in diesem Konflikt auf die Provinz Hatay im Südwesten der Türkei sichtbarer zu machen. Als Grundlage dafür dienen die Ansichten der einheimischen Bevölkerung sowie vertrauenswürdige Primärquellen. So soll Zensur und Desinformation vorgebeugt werden, die sonst in Krieg und Feindschaft zwischen Völkern eskalieren können. Die sachlich korrekten Informationen mögen Unterstützung geben auf dem Weg zu einem Leben in Frieden, Brüderlichkeit und Menschlichkeit.

Nimmt man die Zeit vom Bombenanschlag im Bezirk Reyhanlı in Hatay am 11. Mai 2013 und bis zum jüngsten Anschlag am 13. März 2016 in Ankara, dann illustriert dieser Bericht zu Hatay nicht nur ernsthafte Probleme in einer der Provinzen in der Türkei. Vielmehr werden Problemlagen beschrieben, die sich auf das Land als Ganzes auswirken. Aus einer solchen Perspektive ist dieser Bericht erstellt. [Inzwischen ist ein weiterer islamistischer Anschlag in Brüssel (22. März 2016) hinzuzuzählen, spätestens damit erlangt der vorliegende Bericht europaweite Relevanz – Anm. d. Üb.]

Der Friedensratschlag – gegen den Krieg und für das Recht auf Leben, der für diesen Bericht verantwortlich zeichnet, hat bereits in der Vergangenheit auf die völlige Freizügigkeit für Dschihadisten, insbesondere aus der Al-Nusra-Front hingewiesen. Ebenso hat der Ratschlag ein Trainings- und Ausrüstungsprogramm in der Nähe von Serinyol öffentlich gemacht und dieses mit einer erfolgreichen Kampagne stoppen können. Der Friedensratschlag wird seine Arbeit auch in Zukunft fortsetzen und die aufgeworfenen Probleme weiter verfolgen.

METHODEN

Dieser Bericht basiert auf folgenden Quellen: Veröffentlichungen des Präsidenten der Türkei, der Türkischen Streitkräfte (TSK), des Innenministeriums, des Gouverneurs von Hatay und anderer staatlicher Organisationen; Statistiken, Berichten und Mitteilungen des Rats Türkischer Exporteure (Türkiye İhracatçılar Meclisi), der Türkischen Vereinigung der Landwirtschaftskammern, der Türkischen Ärztevereinigung und des Menschenrechtsvereins; persönlichen Interviews mit Einwohner*innen, die die Schrecken des Krieges aus erster Hand erlebt haben, sowie Beobachtungen aus verschiedenen Gegenden der Provinz.

Für den Bericht wurden Beobachtungen in den Bezirken Antakya, Defne, Reyhanlı, Altınözü und Yayladağı aufgezeichnet. Interviews wurden durchgeführt mit Geflüchteten, Dorfbewohnern in den Grenzgebieten, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen, Arbeiter*innen, Schleusern, ortsansässigen Journalisten, Studierenden, Vertreter*innen von Großorganisationen und Mitgliedern politischer Parteien. Aus Sicherheitsgründen werden die Namen der Interviewpartner nicht veröffentlicht.

Der Bericht bezieht sich auf die Zeit vom 3. Februar 2016, als die bis dahin von Dschihadisten benutzte Versorgungslinie zwischen Gaziantep und Aleppo abgeschnitten wurde [durch den Vormarsch der syrischen Armee – Anm. d. Üb.], und dem 14. März 2016.

Selbstverständlich spiegelt der Bericht nur einen Teil der Wirklichkeit wieder. Die Reichweite aber wird sich Stück für Stück vergrößern: Mit jedem Fortschritt in der Arbeit des Friedensratschlags und mit der Unterstützung all jener Menschen und Organisationen, die nach Frieden und Brüderlichkeit für Hatay, die Türkei und den Nahen Osten streben.

VERLAUF

Wesentliche Entwicklungen seit Februar 2016:

  • Nach dem Abschuss eines russischen Flugzeugs durch das türkische Militär am 24. November 2015 intensivierten die russischen und syrischen Streitkräfte ihre Militäroperationen im Norden von Latakia (Syrien). Andererseits wurden am 3. Februar 2016 die von Dschihadisten genutzten Versorgungslinien zwischen Gaziantep (Türkei) und Aleppo (Syrien) gekappt. Beides führte zu einer steigenden Zahl von Grenzübertritten von Syrien nach Hatay: Es kamen Flüchtlinge, die dem Krieg entkommen wollten, sowie Dschihadisten auf der Flucht vor Gefechten. Es kamen aber auch Dschihadisten, die sich zeitweilig in die Türkei zurückzogen, um sich für eine Rückkehr nach Syrien vorzubereiten.
  • Die Zahl der syrischen Flüchtlinge in Hatay stieg auf 402.000. Dieser enorme Anstieg bot beste Voraussetzungen dafür, dass Hatay ein wichtiger Transitweg für Dschihadisten wurde – die sich auf Unterstützung durch die türkische Regierung verlassen können. Dabei dient die Grenzregion von Hatay für den Hin- wie Rückweg von und nach Syrien. Die Provinz Hatay ist auch Zwischenstation für die Weiterreise nach Kilis (Türkei) und von dort nach Azaz (Syrien).
  • Die Einwohner*innen der Grenzbezirke Reyhanlı, Altınözü und Yayladağı sind in Anbetracht der vermehrten Kampfhandlungen auf der syrischen Seite der Grenze beunruhigt. Hinzu kommen verstärkte militärische Mobilmachung auf der türkischen Seite und die sichtbare Anwesenheit der Dschihadisten. Granateneinschläge sowie Raketenfeuer und Artilleriebeschuss über die Grenze hinweg tun ihr übriges.
  • Immer wieder erscheinen Medienberichte, die gegen die arabisch-alawitischen Bevölkerungsteile von Hatay gerichtet sind: Sunniten sollen mit haltlosen Gerüchten provoziert werden. In einem Fall wurde der ethnisch-religiöse Hintergrund einer Abgeordneten als angebliche Ursache für Kontroversen präsentiert.
  • Weiterhin sind wirtschaftliche Verluste zu verzeichnen, die aus dem Krieg und der Politik der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) resultieren.
  • Die Lebensumstände für Geflüchtete sind weiterhin mangelhaft. Dies betrifft unzureichende Unterbringung, unzureichenden Zugang zu Gesundheitsversorgung, Menschenhandel, Zwangsprostitution, sexuelle Ausbeutung, Kinderheirat sowie undokumentierte Arbeit und Beschäftigung im Niedriglohnbereich.

ANWESENHEIT SYRISCHER UND AUSLÄNDISCHER KRIEGSBETEILIGTER IN DER STADT

Die ersten Flüchtlinge erreichten die Türkei am 29. April 2011. In den folgenden fünf Jahren sind schätzungsweise 3 Millionen Syrer*innen in die Türkei geflohen. In einer Ansprache am 5. Februar 2016 gab der türkische Präsident Tayyip Erdoğan an, dass 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei angekommen sind.[1] Diese Zahl wird auch vom türkischen Innenminsiter Afkan Ala unterstützt,[2] nach Angaben der Vereinten Nationen halten sich 2.715.789 Syrer*innen in der Türkei auf.[3]

Seit etwa einem Jahr ist die türkische „Politik der offenen Tür“ ausgesetzt. Angesichts der Kampfhandlungen in der Gegend von Bayır-Bucak nördlich von Latakia Ende 2015 wurde der Zugang zum Bezirk Yayladağı in Hatay allerdings wieder erleichtert. Die syrische Armee kontrolliert die syrische Seite des Grenzübergangs von Yayladağı. Deshalb wurde de facto ein neuer Übergang in Güveççi eröffnet. Das Dorf Kızılçat im Bezirk Yayladağı wurde zu einem wichtigen Umschlagplatz. Grenzübertritte am Übergang Cilvegözü in Reyhanlı unterliegen inzwischen der Zustimmung des Büros des Gouverneurs von Hatay. Dessen Büro erlaubt Zugang für Verwundetesowie die Ein- und Ausfahrt für Fahrzeuge von (ggf. nur so genannten) Hilfsorganisationen. Menschen, die ohne Erlaubnis in die Provinz Hatay einreisen, werden abgeschoben. Anfang Februar waren regelmäßig völlig verschmutzte Menschen zu sehen: Sie hatten von der Fernbusstation in Hatay in andere Städte weiterreisen wollen, ergriffen bei Kontrollen aber die Flucht. Nach dem Tod eines türkischen Soldaten am 14. Februar 2016 am Grenzübergang Güveççi wurden die Kontrollen verschärft. Waren syrische Neuankömmlingen bisher mit neuen Ausweispapieren versorgt worden, so wurde dieses Vorgehen auf den Vorfall hin eingestellt. Wer jetzt aus der Türkei kommt, muss gezwungener Maßen in Camps auf der syrischen Seite der Grenze bleiben.

402.000 registrierte Syrer in Hatay

Ercan Topaca, Gouverneur von Hatay, sagte in einer Pressekonferenz am 15. Februar 2016, dass in der Provinz fünf Flüchtlingslager errichtet wurden: In Altınözü, Yayladağı, Reyhanlı, Apaydın und Karbeyaz. In der Provinz Hatay leben 1,533 Millionen Menschen, davon seien 402.000 Flüchtlinge – und von diesen 132.000 Kinder. Einige der Flüchtlinge seien türkische Staatsangehörige. Topaca fügte außerdem hinzu, dass „von den 402.000 Flüchtlingen in Hatay 18.000 in Flüchtlingslagern leben, während 185.000 als Gäste auf eigene Kosten an verschiedenen Orten der Provinz leben.“ [4]

Büro des Gouverneurs: 500-1.500 illegale Grenzübertritte pro Tag

Nach Angaben des Gouverneurs Topaca wurden pro Tag etwa 500 Menschen aufgegriffen bei dem Versuch, die Grenze zu passieren. Zeitweise würden diese Zahlen auf 1.000 bis 1.500 versuchte Grenzübertritte ansteigen.[5]

In der europäischen Presse wird die Richtigkeit dieser Angaben bezweifelt.[6] Es besteht der Verdacht, diese Zahlen würden für eine bessere Position in den Verhandlungen mit der EU manipuliert.

Zwar steht fest, dass 402.000 Flüchtlinge in Hatay registriert sind. Die tatsächliche Zahl syrischer Flüchtlinge kann allerdings nicht ermittelt werden: Die Zahl von Syrer*innen, die illegal einreisen, ist genauso wenig bekannt wie die Zahl derer, die die Provinz Hatay unerlaubt verlassen. Ebenso ist unklar, wie viele der registrierten Flüchtlinge tatsächlich syrische Staatsangehörige sind.

„80 Prozent der im Februar eingereisten ‚Turkmenen‘ sind Dschihadisten“

Unsere Interviews mit Vertretern des Büros des Gouverneurs von Hatay, mit Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und Bewohnern der Grenzregion bestätigen frühere Medienberichte, nach denen ein signifikanter Anteil derjenigen, die in der jüngsten Einreisewelle als vorgebliche Flüchtlinge über Yayladağı in die Türkei gekommen sind, tatsächlich Dschihadisten sind. Darunter befinden sich auch Kämpfer aus Zentralasien, Nordafrika und dem Kaukasus. Eine unserer Quellen, deren Namen wir nicht veröffentlichen, gab an, dass 80 Prozent derjenigen, die als angebliche Turkmenen über Yayladağı eingereist sind, überhaupt keine Turkmenen sind.

Entlang der Grenze in Reyhanlı, Altınözü und Yayladağı wird inzwischen eine Mauer gebaut. Weiterhin bleiben aber Bereiche offen zugänglich, andernorts ist es möglich, die Mauer zu überwinden. Die meisten illegalen Grenzübertritte sind in den Dörfern Bükülmez in Reyhanlı und Güveççi in Yayladağı zu verzeichnen.

Illegale Einreise in die Türkei für 100 Dollar pro Person

Wir haben auch Menschen in den Grenzdörfern in Reyhanlı and Altınözü interviewt, die sich gelegentlich als Schleuser betätigen. Nach deren Angaben werden Menschen durchaus in beide Richtungen über die Grenze geschleust. Der Übergang in die Türkei kostet auf diesem Weg 100 Dollar, in manchen Gebieten sogar nur 40 TL (entspricht etwa 12,40 EUR). Berichten zufolge kommt es auf der syrischen Seite zu Entführungen durch Gruppierungen, die dort die Grenze kontrollieren. Das dabei erzielte Lösegeld liegt dann deutlich oberhalb der „normalen“ Schleuserpreise.

Dschihadisten nutzen beim Grenzübertritt normalerweise ihre eigenen Verbindungen. Al-Nusra, die mit al-Qaida in Verbindung steht, und Ahrar al-Sham, die als Verbündete der AKP-Regierung in der Türkei gelten, kontrollieren die Grenze auf der syrischen Seite. Dies wird durch unsere Interviews mit syrischen Flüchtlingen bestätigt, die aus den Dörfern nahe der türkischen Grenze kommen: Sie sehen die beiden Gruppierungen als „die muslimische Opposition“ und geben an, dass die syrische Seite der Grenze zu Reyhanlı und Altınözü weitgehend unter deren Kontrolle ist.

VERKEHR VON DSCHIHADISTEN FINDET WIEDERHALL IN DER PRESSE UND WIRD DURCH LOKALE QUELLEN BESTÄTIGT

Das Lager Apaydın in Antakya dient als Zuhause für Kommandeure der Opposition, für Soldaten und ihre Familien. Für die Presse besteht kein Zutritt.

Kämpfer von al-Nusra kamen im Dezember nach Reyhanlı

Als Teil der Vereinbarung, die auf Vermittlung der UN im Dezember 2015 zustande kam, wurden 126 verwundete Kämpfer der Opposition und Zivilisten aus der belagerten syrischen Stadt Zebadani nach Hatay ausgeflogen. Ein dschihadistischer Kommandeur, der 52-jährige Muhammed, gab Al-Monitor ein Interview „in einem Hotel in Reyhanlı“. Der Kommandeur erklärte, er stehe der Freien Syrischen Armee (FSA) nahe. Er sei aber entschlossen, bei Ahrar al-Sham zu bleiben – wie viele Menschen in der Region. Ahrar al-Sham seien es, die für die Kosten seiner Behandlung und Unterbringung aufkommen.[7]

Seit al-Nusra von der UN als terroristische Vereinigung gelistet wird, hissen sie ihre Fahne in den Grenzgebieten nicht mehr offiziell. Mancherorts ist die Fahne dennoch weiterhin zu sehen.[8]

Neue Versorgungslinie für Dschihadisten zwischen Reyhanlı und Kilis seit Februar

Im Februar schrieb der Journalist Fehim Taştekin bei Al-Monitor, hunderte von Mitgliedern von al-Nusra würden über Reyhanlı auf türkisches Gebiet einreisen, um dann über Kilis in den nordöstlichen Teil Syriens zurückzukehren. Damit sollte Unterstützung für Tel Rıfat sichergestellt werden, eine zweite Front, wo die Lage ähnlich schwierig war wie in Azaz. Die in London ansässige oppositionelle Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete, 350 Kämpfer wären auf diesemWeg wieder in Syrien eingesetzt worden externer Link, sowohl mit leichten als auch mit schweren Waffen. Einige dieser Einsatzkräfte hätten auch Tel Rıfat erreicht. Einige lokale Quellen gaben im Gespräch mit Al-Monitor dagegen an, die Zahl der über die Grenze gereisten Kämpfer läge deutlich höher.

Nach diesen Informationen ist einer der dafür genutzten Grenzübergänge das Dorf Bükülmez in Reyhanlı. Direkt gegenüber von Bükülmez liegt auf syrischer Seite Atme, wo die Logistik organisiert wird. Ein Journalist in Afrin erklärt, „zwischen Atme und Azaz [beide Syrien – Anm. d. Üb.] ist eine Versorgungslinie eingerichtet worden – über Hatay und Kilis [beide Türkei – Anm. d. Üb.]“.[9]

Kämpfer von al-Nusra halten sich in Yayladağı auf

Wiederum nach Taştekin gilt es – unter denjenigen, die die Entwicklungen in der Region verfolgen – als allgemein bekannt, dass al-Nusra nicht nur auf der syrischen Seite aktiv ist. Ebenso agieren sie auf türkischem Gebiet in Hatay und Kilis. „Kämpfer von al-Nusra sind mehr oder weniger Einwohner von Yayladağı. Wann immer sie es für nötig halten, kommen und gehen sie über die Grenze“, sagte ein Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation in Yayladağı.

Vermehrte Bewegungen in der Stadt im Februar

Seit die syrische Armee die Versorgungslinie zwischen Gaziantep und Aleppo gekappt hat, ist andernorts massiv erhöhter Verkehr zu verzeichnen: Dies betrifft sowohl die Grenzübergänge in Hatay und Kilis zu Gebieten in Syrien, die unter der Kontrolle von Dschihadisten stehen, als auch die Straßen zwischen beiden Provinzen. Zwei Wochen lang gab es massiven Verkehr großer Lastwagen, deren Ladung unbekannt geblieben ist. Außerdem fahren vermehrt zivile und gepanzerte Fahrzeuge, Artilleriepanzer, Krankenwagen sowie Busse, die „Syrer ohne Papiere“ in ihr Heimatland zurückbringen. Das türkische Militär (TSK) hat mehrfach deutlich gemacht, dass ihrerseits – anders als auf Seiten der AKP – kein besonderes Interesse an Einmischung in grenzüberschreitende Aktivitäten in Syrien besteht. Entsprechend hat das Militär versucht, die Situation an der türkischen Grenze unter Kontrolle zu behalten. Augenscheinlich gibt es aber Interessengruppen innerhalb des türkischen Staates, die illegale Grenzübertritte unterstützen.

Der außergewöhnliche Anstieg an Aktivitäten in Hatay und den Dörfern an der Grenze lässt sich sehr gut beobachten. Dieser Anstieg begann im Dezember 2015 und steigerte sich im Februar 2016 noch einmal, dies sogar im Zentrum der Provinz. Gepanzerte zivile und Militärfahrzeuge sowie „LKW mit Hilfsgütern“ sind im Stadtbild sichtbar. In der Folge haben sich die Spannungen an der Grenze erhöht, an den Übergängen kam es zu Zusammenstößen, die sowohl Zivilisten als auch Angehörige des Militärs trafen.

Dass in der letzten Woche im Februar zwischen 500 und 2.000 Dschihadisten von der Türkei nach Syrien ausgereist sind, steht mit diesen erhöhten Aktivitäten in direktem Zusammenhang.

7. Februar: Zollbeamte nach versuchter Fahrzeugkontrolle versetzt

Am 7. Februar kam es am Grenzübergang Cilvegözü in Reyhanlı zu einem Zusammenstoß zwischen Zollbeamten und Personen, die ohne Kontrolle mit einem Fahrzeug nach Syrien einreisen wollten. Als der Konflikt eskalierte, wurden Teams der Gendarmerie zur Unterstützung eingesetzt. Vorgesetzte Beamte sprachen anschließend davon, dass zwei der Zollbeamten versetzt würden. Andere Beamte, die über die Auseinandersetzungen im Bilde waren, weigerten sich Auskunft zu geben – aus Angst um die Sicherheit ihrer Person wie ihres Jobs.

10. Februar: Nach Verschärfung der Grenzkontrollen werden Soldaten zum Ziel von Dschihadisten

Die Behörden haben damit begonnen, Syrer sowohl im Zentrum von Hatay als auch am Busbahnhof zu kontrollieren. Wer keine gültigen Übergangspapiere nachweisen konnte, wurde in Gewahrsam genommen.

Einige Social-Media-Accounts, die mit Dschihadisten in Verbindung gebracht werden, nahmen Grenzsoldaten ins Visier. So hat Yılmaz Bilgen, Journalist bei YeniŞafak, gegen Soldaten aus dem Dorf Güveççi in Yayladağı gehetzt. Siehe Twitter-Screenshot:

Screenshot mit Twitter-Äußerungen von Yilmaz Bilgen

[Post oben: „Da sind Offiziere und Soldaten an der Grenze, die hassen Syrer. Niemand kann Nationalismus bloß vortäuschen…“
Post unten: „Am militärischen Grenzposten Yayladağı-Güveççi
foltern Soldaten weiter Syrer. Irgendjemand muss endlich Stopp sagen, um Himmels willen.“]

11. Februar: LKWs mit „Hilfsgütern“ unterwegs

Die Polizei stoppte 10 LKWs und kontrollierte deren Fahrer. Die LKWs gehörten zum staatlichen Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet). Die Fahrzeuge waren komplett in schwarz gehüllt und trugen die Aufschrift „Es ist Zeit, die Wunden zu heilen“. Das Amt für Religiöse Angelegenheiten hatte zuvor angekündigt, es würde 20 LKW-Ladungen mit Hilfsgütern schicken – „zur Unterstützung der Turkmenen von Bayır-Bucak und der Bevölkerung, die unter dem Terror im Südosten des Landes leidet“.

13. Februar: Heftiges Artilleriefeuer gegen Syrien beginnt

Nach heftigem Artilleriebeschuss gegen Syrien überqueren Berichten regierungsfreundlicher Medien zufolge 500 Dschihadisten die Grenze von der Türkei nach Syrien.

14. Februar: Ausnahmezustand in Yayladağı

Mit dem vermehrten Verkehr von zivilen und militärischen gepanzerten Fahrzeugen und Krankenwagen in Richtung Harbiye-Yayladağı breitet sich in Yayladağı eine angespannte Atmosphäre aus. Im Dorf Güveççi in Yayladağı, wo zuvor Dschihadisten und islamistische Journalisten türkische Soldaten zur Zielscheibe erklärt hatten, wird ein Soldat getötet.

16. Februar: Panzerhaubitzen in Stellung gebracht

Panzergeschütze und gepanzerte Fahrzeuge in Hatay werden in Richtung Grenze verlegt.

17. Februar: Soll ein Angriff auf Syrien legitimiert werden?

Menschen aus Syrien, die keine gültigen Papiere vorweisen konnten, sollen mit vier Bussen über den Grenzübergang in Cilvegözü nach Syrien zurückgeschickt worden sein.

Bei einem Bombenattentat gegen einen Militärkonvoi in Ankara werden am Abend 28 Menschen getötet und etwa 60 verletzt. Die Detonation ereignete sich direkt neben dem Gebäude des Kommandos der Luftstreitkräfte im Herzen der türkischen Hauptstadt. Wie sich später herausstellte, war der Attentäter ein zu den Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) gehörender türkischer Staatsbürger. Er war mit gefälschten Papieren aus Syrien in die Türkei eingereist – die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen des türkischen Staates an der syrischen Grenze machten dies möglich.

18. Februar: Detonationen in der Gegend um das Dorf Bükülmez

Gegen 23.30 Uhr waren Explosionen um die Dschihadisten-Hochburg Atme (Syrien) zu hören. Atme befindet sich nahe des Kantons Afrin, der wiederum in der Nähe des Dorfes Bükülmez (Reyhanlı -Türkei) liegt.

Als die Einwohner von Bükülmez die Explosionen hörten, flohen sie aus ihren Häusern. Sie berichten von mindestens acht Explosionen, die sich ereigneten.

Über Quellen aus dem Umfeld der Dschihadisten wurde unmittelbar als Nachricht verbreitet, die Volksbefreiungseinheiten (YPG) hätten gegen die Türkei das Feuer eröffnet – und das türkische Militär hätte zurückgeschlagen. Laut Berichten, die später in der Nacht öffentlich wurden, hatten dagegen türkische Geschütze Ziele in Syrien beschossen und dabei Menschen getötet.

26. Februar: Granaten treffen Yayladağı

Während die Auseinandersetzungen im Grenzgebiet anhielten, gingen fünf Granaten auf einem leeren Feld in Yayladağı nieder.

28. Februar: In Latakia verwundete Kämpfer werden in die Türkei gebracht

Acht Kämpfer, die in Kampfhandlungen um Latakia verwundet wurden, wurden nach Yayladağı an die Grenze und von dort mit Krankenwagen in Krankenhäuser der Provinz Hatay gebracht.

5. März: Grenzübergang Cilvegözü für alle Einreisen aus Syrien geschlossen

Der Grenzübergang Cilvegözü wurde für alle Einreisen aus Syrien geschlossen. Bis dahin waren täglich etwa 200 Syrer über diesen Zugang in die Türkei eingereist. Weder der Grund noch die geplante Dauer der Schließung wurden veröffentlicht.

6. März: Yayladağı mit Artillerie beschossen

Aus Artilleriegeschützen von syrischem Boden schlugen drei Granaten in einem Bauernhof im Bereich Cabala von Yayladağı ein. Am nächsten Tag erklärte Russland, der Artilleriebeschuss wäre von al-Nusra ausgegangen mit dem Ziel, die Türkei zu provozieren.

ANWESENHEIT VON DSCHIHADISTEN IN DEN BEZIRKEN UND DIE DARAUS RESULTIERENDEN SPANNUNGEN

ANTAKYA: DSCHIHADISTEN BLEIBEN UNBEHELLIGT

In den Monaten Februar und März wurden trotz erhöhter Kontrollen weiterhin Ausländer im Stadtbereich beobachtet, die Tarnuniform sowie lange Haare und Bärte trugen. Regelmäßig waren solche Personen an Busbahnhöfen und in der Nähe von Krankenhäusern anzutreffen. In Anbetracht vermehrter Ausweiskontrollen stellt sich die Frage, ob diese Menschen mit Wissen des türkischen Staates unterwegs sind und deshalb unbehelligt bleiben. Foto – Sonntag, 22. Februar 2016: Bärtiger Mann in einschlägiger Tarnhose vorm Geburtszentrum in Antakya:

Sonntag, 22. Februar 2016: Bärtiger Mann in einschlägiger Tarnhose vorm Geburtszentrum in Antakya (Friedensratschlag Hatay)

Internat wird Dschihadisten bereitgestellt?

In der Stadt Anayazı gab es Unruhe um das ehemalige Internat: Die Schüler*innen waren hier evakuiert worden, weil der Aufenthalt im Gebäude als gefährlich galt. Dennoch wurde es später als bewachte Einrichtung weitergeführt. Das Fehlen jedweder Erklärung zum Vorgehen ließ eine Vielzahl an Gerüchten aufkommen. Tatsächlich war es so, dass der Gouverneur das Gebäude in ein Rückkehrzentrum hatte umfunktionieren lassen.
Von einem Anwohner, der anonym bleiben möchte, erfahren wir, dass in diesem Rückkehrzentrum IS-Kämpfer untergebracht sind, die von dort in Drittstaaten verbracht werden sollen. Berichten aus der internationalen Presse ist zu entnehmen, dass etwa die Ukraine ein solcher Drittstaat ist. Die Mauern um das Gebäude waren erhöht worden, nachdem vor etwa 4 bis 5 Monaten tschetschenischen Dschihadisten die Flucht gelungen war. Fotos – Mauern und Stacheldraht am ehemaligen Wohnheim-Gebäude:

Mauern und Stacheldraht am ehemaligen Wohnheim-Gebäude (Friedensratschlag Hatay) Mauern und Stacheldraht am ehemaligen Wohnheim-Gebäude (Friedensratschlag Hatay)

REYHANLI: WARTEN AUF DEN KRIEGSBEGINN UND DIE SICHTBARKEIT VON KÄMPFERN DES IS

Menschen mit schwarzen Tüchern, Pumphosen und langen Bärten sind in Reyhanlı zum Bestandteil des täglichen Lebens geworden. Vom Dorf Bükülmez, ganz in der Nähe des Camps in Atme, das wiederum in unmittelbarer Nähe zu türkischen Militärposten liegt, sind Explosionen zu hören. Es kommt außerdem regelmäßig zu „illegalen“ Grenzübertritten.

Die Familie eines Arbeiters, den wir interviewten, berichtete folgendes:

„Als der Krieg begann, kamen eine Menge Syrer hier an. Wir öffneten unsere Türen für sie alle. Immerhin waren sie Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten, um dem Krieg zu entkommen. Viele hatten ihre Familie verloren. Viele von ihnen sind Sunniten, teilen unseren Glauben. Wir versuchten, jedem von ihnen zu helfen. Wir gaben ihnen Arbeit, luden sie zu uns nach Hause ein, verlangten keine Miete. Wir gaben ihnen Kleidung. Wir gaben ihnen Essen. Dies sind die Syrer, die in unser Dorf gekommen sind. Jeder kann sehen, wie arm sie sind. Viele von ihnen sind Frauen. Wir haben ihnen geholfen, und tun das immer noch.“

„Im Stadtzentrum von Reyhanlı war die Lage etwas anders. Die Menschen, die dort geblieben sind, machten einen wohlhabenderen Eindruck. Viele von ihnen waren Männer. Viele von ihnen hatten keine Familie. Ich sage das, weil wir von ihren Familien nichts gesehen haben. Meist war es so, dass eine Gruppe dieser Männer zusammen in einem Haus lebte. Manche von ihnen hatten sogar ein Auto. Tagsüber waren sie zuhause, nachts unterwegs.“

„Einer unserer Verwandten hat ein Haus am See Yenişehir. Wir sahen die Männer, wenn wir zu diesem Haus unterwegs waren. Die Männer waren dort in der Gegend unterwegs. Sie trafen sich mit Menschen, die Englisch konnten. Alle Cafés um den See waren voll mit diesen Männern. Reyhanlı ist keine große Stadt, man kennt sich. Man weiß, wer zu wem gehört. Wir wissen auch, wer wen besucht. Wir haben aber nie verstanden, wer diese Männer eigentlich waren. Eines Tages kam es zu dieser Explosion in Reyhanlı [am 13. Mai 2013 – Anm. d. Red.]. Wer war dafür verantwortlich? Diese Männer natürlich. Die Syrer in unserem Dorf hatten genauso viel Angst wie wir bei der Explosion. Nach dem Bombenanschlag ging die Zahl dieser Männer zurück. Also, es war, als ob sie einfach verschwinden würden nach der Explosion. Ob noch etwas anderes passiert ist [das zu ihrem Verschwinden führte – Anm. d. Üb.], weiß ich nicht.“

„Dann, wisst Ihr, begann Russland, dem syrischen Präsidenten Asad zu helfen. Von da an waren die Männer wieder bei uns zu sehen. Ich habe gehört, sie halten sich in der Nähe des Grenzübergangs von Cilvegözü auf. Als ob ihnen der Staat gehören würde und sie die Grenzposten unter Kontrolle hätten. Das ist, was ich gehört habe. Ich denke, wir werden unsere Dörfer bald verlassen müssen. Genau wie die Syrer. Denn wenn die Männer hierher zurückgekommen sind, bedeutet das, sie haben etwas Schlimmes vor. Vielleicht einen neuen Bombenanschlag. Ich weiß es nicht genau. Aber wir haben Angst. Die ganze Zeit warnen wir unsere Angehörigen in der Stadt. Wir sagen ihnen, sie sollen die Märkte, die Bazare und generell Plätze mit vielen Menschen meiden. Aber was sollen sie machen, sie müssen dorthin gehen. Wir warten darauf, dass der Krieg uns erreicht.“

Präsenz des IS

Beim Besuch eines anderen Grenzdorfes von Reyhanlı konnten wir Fahrzeuge beobachten, die die Fahne des IS zeigten: weiße Buchstaben vor schwarzem Hintergrund, mit denen auf Arabisch la-ilaha-illallah geschrieben steht, dazu das Siegel des Propheten Mohammed [= erster und zweiter Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses – Anm. d. Üb.]. Die Fahrzeuge fuhren unbehelligt vor den Augen der türkischen Gendarmerie. Anwohner erzählten, dieselben Symbole seien an Häuserwänden angebracht worden.

ALTINÖZÜ

Am 8. März wurden Flugblätter in Altınözü angeweht, die die syrische Armee auf syrischer Seite in von Dschihadisten kontrollierten Gebieten abgeworfen hatte. Foto:

Am 8. März wurden Flugblätter in Altınözü angeweht, die die syrische Armee auf syrischer Seite in von Dschihadisten kontrollierten Gebieten abgeworfen hatte (Foto: Firedensratschlag Hatay)

Vor Beginn der Operation Jisr al-Shughur sollten die Dschihadisten gewarnt werden: „Ergebt Euch, oder sterbt – die Entscheidung liegt bei Euch.“ Im Gebiet Altınözü waren schon bisher illegale Grenzübertritte zu verzeichnen. Mit der Operation Jisr al-Shughur kommen nun vielleicht erneut mehr Flüchtlinge und Dschihadisten über die Grenze.

ETHNISCHE UND RELIGIÖSE KONFLIKTE – ARABISCHE ALAWITEN WERDEN ZUR ZIELSCHEIBE

Presseberichte streuen Argwohn zwischen arabischen Alawiten und der türkisch-sunnitischen Bevölkerungsmehrheit

Am 7. Februar wurde auf der Seite http://www.islahhaber.com externer Link ein Artikel publiziert, der den Titel trug: „Kitab al-Majmu, das heilige Buch der Familie Asad mit 16 Versen“. Der Artikel, der eine ganze Reihe provokanter Analysen und falscher Anschuldigungen enthielt, wurde auch auf der Webseite der islamistischen Zeitung Yeni Akit veröffentlicht. Im Text wurde behauptet, die arabisch-alawitische Religionsgemeinschaft, der auch die Familie des syrischen Präsidenten Asad angehört – die aber außerdem in Hatay, Adana und Mersin in der Türkei präsent ist – hätte mit dem Islam nichts zu tun. Yeni Akit griff die arabischen Alawiten ebenfalls an und erklärte, sie würden überwiegend in den Gebieten Harbiye und Samandağ in Hatay leben.

Der islamistische Journalist Fatih Teczan schrieb von seinem Twitter-Account: „Seit geraumer Zeit werden Muslime in der Türkei durch die Asad-treue Minderheit der Nusairier [andere Bezeichnung für arabische Alawiten – Anm. d. Red.] bedroht oder gar getötet. Möge Allah dieser Nation Geduld geben.“ – „Wenn die Sunniten in der Türkei wissen wollen, was die Nusairier vorhaben, sollten sie sich ansehen, was die Nusairier den Sunniten in Syrien angetan haben.“ – „Für manche Nusairier geht es in Ordnung, Waffen in alewitischen Gotteshäusern [Cemevleri, so genannte Versammlungshäuser, werden von türkischen Alewiten für Gebetshandlungen genutzt; türkische Alewiten sind aber mit arabischen Alawiten nicht gleichzusetzen – Anm. d. Üb.] zu bunkern. Aber es ist falsch, wenn ich das öffentlich mache? Dann wartet die Polizei auf mich? Meine Güte.“

Die Anschuldigung Teczans, Alawiten hätten Waffenlager in ihren Versammlungshäusern, wurde später von der Zeitung Aydınlık publiziert, als ob es sich um eine bestätigte Tatsache handeln würde. Die Zeitung bezeichnete die arabischen Alawiten als einen verlängerten Arm der PKK. Arabische Alawiten beten aber nicht in Cemevis, deshalb gibt es solche Gebäude in den von arabischen Alawiten bewohnten Gegenden gar nicht.[10]

Christen in Hatay als Zielscheibe

Die Sprecherin der Republikanischen Volkspartei (CHP), Selin Sayek Böke, geriet wegen ihres Vaters ins Visier, einem orthodoxen Christen aus Hatay. Die Zeitung Bugün druckte am 9. Februar eine frei erfundene Meldung, die sich auf die religiöse Identität ihres Vaters bezog. In der Meldung wurde behauptet, die Tatsache, dass ihr Vater christlich getauft sei, hätte zu einer Krise und zu Spannungen innerhalb der CHP geführt.[11] Böke war gezwungen, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen.[12] Die Zeitung Yeni Akit verdrehte den Sinn ihrer Stellungnahme und legte ihr stattdessen die Worte in den Mund, „Ich bin stolz, eine Christin zu sein; ich schäme mich, Türkin zu sein.“ Auch der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek (AKP), betonte Bökes christliche Identität und unterstützte damit den Artikel der Zeitung Akit.

ÖKONOMISCHE AUSWIRKUNGEN

Rückgang der Exporte und in der Folge Rückgang der Beschäftigung

Nach den Angaben des Rats Türkischer Exporteure gab es in den ersten zwei Monaten des Jahres 2016 einen massiven Einbruch im Exportvolumen. Dies geht zum einen zurück auf die Sanktionen, die Russland ab dem 1. Januar 2016 verhängt hat. Andererseits führte die problematische Sicherheitslage in Hatay zu fehlenden Transportmöglichkeiten. Der Einbruch im Außenhandel traf vor allem Exporteure von Zitrusprodukten. Im Vergleich zu 2011 – dem letzten Jahr vor dem Krieg in Syrien – fielen die Exporte um 28 %. Gegenüber dem Jahr 2013 sanken die Exporte um 34%, gegenüber dem Jahr 2015 um 12%.

Exporte in US Dollar:

2016:
Januar 2016:      129,9 Millionen
Februar 2016:    141,2 Millionen
Die ersten beiden Monate insgesamt: 261,1 Millionen

2015:
Januar 2015:      171,0 Millionen
Februar 2015:    125,6 Millionen
Die ersten beiden Monate insgesamt: 296,7 Millionen

2014:
Januar 2014:      172,9 Millionen
Februar 2014:    210,7 Millionen
Die ersten beiden Monate insgesamt: 383,2 Millionen

2013:
Januar 2013:      185,6 Millionen
Februar 2013:    210,7 Millionen
Die ersten zwei Monate insgesamt: 396,3 Millionen

2012:
Januar 2012:      160,1 Millionen
Februar 2012:    150,2 Millionen
Die ersten beiden Monate insgesamt: 310,3 Millionen

2011:
Januar 2011:      176,2 Millionen
Februar 2011:    185,1 Millionen
Die ersten beiden Monate insgesamt: 361,3 Millionen[13]

Die Türkische Landwirtschaftskammer gibt an: „Nach der Krise mit Russland sank der Export von Früchten und Gemüse um 38,4 %. Lagen die Exporte im Januar 2015 noch bei 215,2 Millionen US$, sanken sie auf 132,7 Millionen US$ im Januar 2016.“ [14]

Die Türkei hat die größte LKW-Flotte in Europa, insbesondere in den im Exportsektor führenden Städten wie Hatay. Durch die Krise in Syrien, dem Irak, Ägypten und mit Russland entstehen ernsthafte Transportprobleme.[15] Viele Firmen haben deshalb aufgegeben. Die genaue Zahl kann allerdings kaum bestimmt werden, da im landwirtschaftlichen Bereich Schwarzarbeit weit verbreitet ist.

LEBENSBEDINGUNGEN FÜR FLÜCHTLINGE

Unterbringung: Lediglich 18.000 der 402.000 registrierten syrischen Flüchtlinge leben in einem der Flüchtlingslager. Alle anderen versuchen, auf der Grundlage eigener Ressourcen Unterkunft zu finden. Manche der Geflüchteten leben in umfunktionierten ehemaligen Ställen. Ein syrischer Flüchtling, der in einem ehemaligen Pferdestall untergekommen ist, sagte uns: „Die Hilfsgelder, die von der EU kommen werden, werden bei den organisierten Banden landen, nicht bei den Flüchtlingen.“[16] Neuankömmlinge, die zurück geschickt werden, werden demnach in Flüchtlingslager gezwungen, die von Dschihadisten betrtieben werden.

Finanzielle Unterstützung: In einem unserer Interviews mit einem Geflüchteten in Altınözü gab dieser an, Flüchtlinge erhielten alle drei Monate eine Gutscheinkarte im Wert von 450 TL (entspricht etwa 140 EUR). Der Einsatz der Karte ist auf Einkäufe in speziellen Geschäften beschränkt.

Bildung: Die 132.000 syrischen Kinder in Hatay erhalten so gut wie keine schulische Bildung seitens des Staates. Die Kinder werden von Einzelpersonen unterrichtet, die das Curriculum eigenständig bestimmen. Der Unterricht erfolgt in Gebäuden, in denen es selbst an grundlegender Ausstattung fehlt. Verbreitet hört man den Vorwurf, die Stundenpläne hätten weder mit der Türkei, noch mit Syrien zu tun, sondern würden sich im Wesentlichen am Islam orientieren.

Gesundheit: Der Türkische Ärzteverband (TBB) hat unter dem Titel „Krieg, Migration und Gesundheit“ einen Bericht über die Lage der syrischen Flüchtlinge herausgegeben, wonach die Menschen vermehrt unter folgenden gesundheitlichen Problemen leiden: Vitaminmangel, Anämie, ungewollte oder Risikoschwangerschaften, Fehlgeburten, Komplikationen bei der Geburt, Entwicklungsverzögerungen bei Kindern, chronische Krankheiten und damit verbundene Komplikationen, Durchfall, Malaria, Hirnhautentzündung, typhusartige und andere ansteckende Krankheiten. Weiterhin Krankheiten, die durch Impfung vermeidbar wären, sowie Tuberkulose, Hepatitis und ähnliche Erkrankungen, HIV/AIDS und andere sexuell übertragbare Krankheiten. Verletzungen infolge von physischer Gewalt und sexuellem Missbrauch; Depressionen, Angststörungen, Erschöpfungszustände, verlängerte Trauerphasen, posttraumatische Belastungsstörungen sowie Zahnprobleme. Der Bericht betont außerdem, dass Sprachschwierigkeiten und religiöse Differenzen die psychischen Störungen begünstigen.

Darüber hinaus macht der Bericht auf die besondere Anfälligkeit von Frauen und Mädchen für sexuellen Missbrauch aufmerksam.[17]

Arbeit: Syrer arbeiten im Allgemeinen in der Landwirtschaft und verdienen dort pro Tag 20-40 TL (entspricht 6,20 – 12,40 EUR). Soziale Sicherung oder Schutzbestimmungen gibt es nicht.

Probleme von Frauen und sexueller Missbrauch: Zwangsprostitution, sexueller Missbrauch in den Flüchtlingslagern, Zwangsheirat als zweite oder dritte Frau sowie Zwangsheirat in sehr jungem Alter sind noch immer weit verbreitete Phänomene. Wohnungen und zum Teil Hotels werden benutzt, um Frauen in die Prostitution zu zwingen, insbesondere um die ehemaligen Busstationen Serinyol und Reyhanlı – etwa das Cansu Café, Foto:

Cansu Café: Ort für Zwangsprostitution

TBB und der Türkische Menschenrechtsverein weisen in ihren Berichten auf diese Problemlage hin. Demnach ist dies der Bereich der massivsten und zugleich der am wenigsten sichtbaren Ausbeutung der Flüchtlinge.

Koordinator des Berichts und Ansprechpartner:
Ali Ergin Demirhan – ali@sendika.org (englisch/ türkisch)

Informationen zum Friedensratschlag (türkisch) auch unter
https://twitter.com/halk_meclisleri externer Link
https://www.facebook.com/HALK-MECL%C4%B0SLER%C4%B0-893577630757064/ externer Link
peoples.assembly.antioch@gmail.com

Bildanhang

Auf der Straße nach Harbiye, vor Dükkan Ğabbut: Bilder eines Militärkonvois auf dem Weg nach Yayladağı. Fotos:

Auf der Straße nach Harbiye, vor Dükkan Ğabbut: Bilder eines Militärkonvois auf dem Weg nach Yayladağı. (Foto: Friedensratschlag Hatay)Auf der Straße nach Harbiye, vor Dükkan Ğabbut: Bilder eines Militärkonvois auf dem Weg nach Yayladağı. (Foto: Friedensratschlag Hatay) Auf der Straße nach Harbiye, vor Dükkan Ğabbut: Bilder eines Militärkonvois auf dem Weg nach Yayladağı. (Foto: Friedensratschlag Hatay)

 

Ein Fahrzeug versorgt Dschihadisten mit Hilfsgütern. Foto:

Ein Fahrzeug versorgt Dschihadisten mit Hilfsgütern. (Foto: Friedensratschlag Hatay)

Anmerkungen:

[1] http://www.milliyet.com.tr/erdogan-rusya-nin-bu-tavrina/siyaset/detay/2190011/default.htm externer Link

[2] http://www.trthaber.com/haber/gundem/125-ulkeden-37-bin-kisiye-giris-yasagi-233966.html externer Link

[3] http://data.unhcr.org/syrianrefugees/country.php?id=224 externer Link

[4] http://www.haberler.com/hatay-valisi-topaca-1-5-milyon-nufuslu-kentimizde-8186628-haberi/ externer Link

[5] http://www.hatay.gov.tr/vali-topacadan-basin-aciklamasi externer Link

[6] http://www.bbc.com/turkce/haberler/2016/03/160311_times_suriyeli_sayi externer Link

[7] “Warum einige der in die Türkei überführten Syrische Kämpfer ihre Rückkehr geloben”, Shelly Kittleson, 12. Februar 2016, Al Monitor – englische Fassung: http://www.al-monitor.com/pulse/en/originals/2016/02/syria-zabadani-starvation-turkey-fighting.html externer Link

[8] http://tr.sputniknews.com/ortadogu/20160304/1021283745/ypg-turkiye-nusra-rt-azez.html externer Link

[9] “Warum die Lage in der syrischen Grenzstadt Azaz für die Türkei hoffnungslos ist”, Fehim Taştekin, 17. Februar 2016, Al-Monitor -englische Fassung: http://www.al-monitor.com/pulse/en/originals/2016/02/turkey-syria-hopeless-azaz-battle.html externer Link

[10] http://www.aydinlikgazete.com/ozgurluk-meydani/amerikanin-hatay-plani-ne-h83555.html externer Link

[11] http://www.bugun.com.tr/gundem/chp-sozcusu-boke-vaftiz-edilmis-2051201.html externer Link

[12] http://www.diken.com.tr/selin-sayek-bokeden-kayyumun-bugunune-yanit-bu-nefret-sucundan-ben-utandim/ externer Link

[13] Türkiye İhracatçılar Meclisi’nin açıkladığı rakamlar: http://www.tim.org.tr/tr/ihracat-ihracat-rakamlari-tablolar.html externer Link

[14] http://www.tzob.org.tr/Bas%C4%B1n-Odas%C4%B1/Haberler/ArtMID/470/ArticleID/1908/Rusya-ambargosu-sonras%C4%B1-ya%C5%9F-sebze-ve-meyve-ihracat%C4%B1 externer Link

[15] http://www.al-monitor.com/pulse/en/originals/2016/02/turkey-russia-jet-crisis-hits-turkish-trucks.html externer Link

[16] http://www.diclehaber.com/tr/news/content/view/503731?page=1&key= 04219edeacd662ec1862c41287d832df externer Link

[17] http://www.ttb.org.tr/kutuphane/siginmacilar_rpr.pdf externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=95970
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