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Updated: 18.12.2012 15:51
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Tunesien, Teil VI: Übergangsregierung vor dem Aus - oder doch nicht?

Die Gewerkschaften des Dachverbands UGTT spielen eine entscheidende Rolle in der aktuellen Umbruchphase. Mehrere lokale Gewerkschaftsbüros wurden in den letzten Tagen zum Opfer des Terrors von Milizen, die treu zum alten Regime stehen. Unterdessen weht ein Wind der Revolte über die ganze Region - von Tunis über Kairo bis in den Yemen, wo heute in der Hauptstadt Sanaa Tausende für den Rücktritt des (seit 1978 amtierenden) Präsidenten Saleh demonstrierten.

Teil I und Teil II und Teil III und Teil IV sowie Teil V

und ein aktueller Nachtrag von Bernard Schmid vom 28.01.2011

Wann fliegt sie endlich 'raus, die aktuell amtierende Übergangsregierung in Tunesien? Dies ist die zentrale Frage, die sich in diesen Tagen zahlreiche in- und ausländische Beobachter stellen. Seit Wochenbeginn wuchs - und wächst - der Druck auf die provisorische Regierung unter Premierminister Mohammed Ghannouchi. Ihre Umbildung war zunächst am Dienstag als "unmittelbar bevorstehend" bezeichnet, dann für Mittwoch, dann für Donnerstag früh angekündigt worden. Bei Redaktionsschluss dieses Artikels (am heutigen Donnerstag um circa 13 Uhr) war die provisorische Regierung von Mohammed Ghannouchi jedoch noch immer im Amt.

Unterschiedliche Strömungen der politischen und sozialen Opposition fordern ihren Rücktritt, da sie mehrheitlich aus "Kaziken" des alten Regimes - das am 14. Januar dieses Jahres durch die Flucht des seit 1987 autoritär regierenden Präsidenten Zine el-Abidine Ben 'Ali zusammenbrach - bestehe. Auch wenn ihre führenden Mitglieder sowie Parlamentspräsident Foued Mebazaa, der die Übergangsperiode nach den geltenden Verfassungsbestimmungen leitet, formell ihre Mitgliedschaft in der bisherigen Staatspartei RCD (Demokratische Verfassungs-Sammlung) niederlegten, so bleiben sie doch Männer der alten Herrschaft.

Die UGTT

Die UGTT (der tunesische Gewerkschafts-Dachverband), die derzeit eine wesentliche Rolle als soziale Gegenmacht spielt - seine eigene korrupte Führung unter Generalsekretär Abdessalem Jrad steht mächtig unter Druck seitens seiner Basis -, hatte Mitte Januar 2011 ihre drei Minister zurückgezogen.

Innerhalb der UGTT arbeitet derzeit die Linke, die seit langem in scharfer Opposition gegen das diktatorische und (u.a.) durch das EU-Kapital ausgehaltene Regime Ben 'Alis stand, derzeit zusammen mit den zentristischen Fraktionen gegen die rechten Fraktionen. Letztere standen im Umfeld des alten Regimes, einige führende UGTT-Bürokraten waren Abgeordnete des RCD, der bisherigen Staatspartei unter Ben 'Ali. Die Mittelfraktionen befürworten eine "echte" Gewerkschaftspolitik, also eine halbwegs authentische Interessenvertretung (entlang materieller Verteilungsfragen wie Löhne etc.), fürchteten jedoch bislang eine "zu starke Politisierung". Auch durch Übernahme offen anti-diktatorischer und demokratischer Forderungen, die sich derzeit in der Durchsetzungsphase befinden, wurde in der Vergangenheit eine eventuell schädliche "Politisierung" befürchtet. Dagegen mischt sich auf der Gewerkschaftslinken seit langen Jahren der antidiktatorische Protest mit dem Eintreten für Frauenrechte, Lohnforderungen, dem Kampf gegen Prekarität und Ausbeutung usw. In einem Milieu, wo sich linke GewerkschafterInnen, Studierende, verfolgte Oppositionelle, die Menschenrechte verteidigende AnwältInnen usw. mischten, bildeten sie einen Teil einer aktiven "Gegengesellschaft" unter dem alten Regime.

Am Dienstag dieser Woche (25. Januar 11) wurden örtliche Büros der UGTT in der Phosphat-Bergbaustadt Gafsa sowie in Sousse durch Milizen, die treu zum alten Regime stehen und derzeit Terror verbreiten - auf dass die Anhänger eines "starken Staates" und/oder des gestürzten Ben 'Ali-Regimes lautstark vor "dem Chaos" warnen können - angegriffen. (In Gafsa, der Hochburg einer rebellischen Region, in der schon 1962 Unruhen durch das damalige Bourguiba-Regime blutig mit rund 100 Toten niederschlagen wurden, war die UGTT seit langem linksoppositionell.) Am gestrigen Mittwoch erfolgten weitere Angriffe auf Gewerkschaftsbüros u.a. in der tunesischen Stadt Kef (auch: Le Kef).

Die kämpferischen Teile der UGTT blieben unterdessen nicht untätig. In Sfax, der zweitgrößten Stadt Tunesiens an der östlichen Küste des Landes - eine Industriestadt, die durch die Touristen eher wenig aufgesucht wird -, riefen die Gewerkschaften am gestrigen Mittwoch zum Generalstreik auf. Lediglich in wichtigen Versorgungsbetrieben (Strom, Krankenhäuser) sollte der Betrieb aufrecht erhalten bleiben. Abertausende Menschen, genauere Zahlenangaben liegen zur Stunde leider nicht vor, forderten in einem Aufsehen erregenden Demonstrationszug den sofortigen Rücktritt der provisorischen Regierung. Heute, am Donnerstag, wird in Sidi Bouzid zum Streik aufgerufen. Von dieser zentraltunesischen Stadt mit rund 40.000 Einwohner/inne/n war, ab dem 17. Dezember 2010, die Revolte ausgegangen.

Auf sozialer Ebene hat die (demokratische) Revolution, die sich bislang auf zentraler Ebene noch nicht vollständigen durchsetzen konnte - siehe das Tauziehen um die Übergangsregierung und die Frage einer verfassunggebenden Versammlung, s.u. -, bereits einige Errungenschaft hervorgebracht. So wurde am Dienstag verkündet, dass Tunesien nun zum allerersten Mal eine Arbeitslosen-Unterstützungszahlung einführend wird. Diese beträgt demnach 150 Dinar (oder umgerechnet 106 Dollar, derzeit 78 Euro) monatlich. Zum Vergleich: Der tunesische Mindestlohn liegt bei monatlich 270 Dinar (oder umgerechnet 140 Euro). Bislang waren Arbeitslose in Tunesien allein und gänzlich auf ihre Familien angewiesen; insofern gilt dieser Beschluss als "kleine Revolution". Ferner hat die provisorische Regierung am selben Tag angekündigt, umgerechnet 260 Millionen Euro in die Strukturentwicklung der bislang "abgehängten" und systematisch unterentwickelten Regionen des Landesinneren zu investieren. Und Persönlichkeiten aus diesen Regionen sollen künftig auch in der neu zu bildenden Regierung vertreten sein.

Zahme und unzahme Oppositionelle

Zurück zur provisorischen Regierung. Die UGTT hat sich also, infolge eines Beschlusses vom Dienstag vergangener Woche (18. Januar), aus dem Übergangskabinett zurückgezogen.

Hingegen bleiben Ahmed Brahim, Generalsekretär der tunesischen Ex-Kommunisten von Ettajdid (Erneuerung), und der langjährige Chef der "Progressiv-Demokratischen Partei" (PDP) - Nejib Chebbi - nach einigem Zögern im Kabinett. Die zu Liberalen gewordenen Ex-Kommunisten haben zwar den Klassenkampf aufgegeben, aber dafür die Staatsgläubigkeit beibehalten. Sie berufen sich nunmehr auf eine "Angst vor dem Chaos" im Falle eines Rücktritts. Der PDP und dessen Chef wiederum zählen zu jenen bislang "tolerierten" zahmen Opponenten, die zudem mit den westlichen Großmächten in Verbindung standen und vom nordamerikanischen National Endowment for Democrazy (NED) gefördert wurden.

Beträchtliche Teile der Opposition fordern neben dem Rücktritt dieser Regierung auch eine Verfassunggebende Versammlung, um eine neuen Grundlagentext für die künftige tunesische Republik zu erarbeiten. Manche liberale Juristen dagegen sind der Auffassung, die bisherige Verfassung stamme nicht aus der Ben 'Ali-Ära - sie datiert von 1959, wurde jedoch in den letzten Jahren mehrfach abgeändert, um alle bis dahin geltenden Beschränkungen für die Dauer der Amtszeit sowie die Anzahl der Mandate des Präsidenten aufzuheben. Deswegen solle man sie überarbeiten, aber nicht aufheben.

Einig sind sich viele Linke und Liberale darin, dass man lieber einige Monate mit der Abhaltung von Wahlen warte, damit die bisher größerenteils illegalisierte Opposition sich organisieren, Programme erarbeiten und ihre Vorstellungen den Tunesiern bekannt machen kann. Die Verfassung sieht bei Eintritt eines "Machtvakuums" theoretisch Präsidentschaftswahlen innerhalb von 60 Tagen vor. Die Übergangsregierung hat hingegen in Aussicht gestellt, bis zu maximal sechs Monate dafür Zeit zu lassen. Teile der Opposition begrüßen dies und fordern ferner, erst ein Präsident und danach einen neuen Präsidenten wählen zu lassen, um nicht sofort wieder in ein tendenziell autoritäres Präsidialregime zu verfallen. Andere hingegen misstrauen der Ankündigung, sich Zeit zu nehmen - und befürchten, dass im Laufe der Monate der Druck der Straße nachlassen und die Kräfte des alten Regimes wieder Oberwasser gewinnen könnten. Dabei dürfte es letztlich eine wesentliche Rolle spielen, zu entscheiden, wer die Übergangsperiode anführt.

Leer-Räumen der Knäste?

Umstritten ist auch die Fortexistenz von Strukturen des alten Regimes in Polizei und Justiz. Der Polizeiapparat scheint bislang kaum von Veränderungen berührt worden zu sein. Hingegen ist die Armee, die in Teilen mit den Aufständischen fraternisierte, derzeit sehr populär. In den Gefängnissen wurden rund 1.800 politische Häftlinge entlassen, im Vorgriff auf die angekündigte Generalamnestie. Aber rund 3.000 unter angeblichem « Terrorismusverdacht » inhaftierte Personen - unter ihnen politische Kritiker der Regierung wie auch grundlos Verdächtigte - sollen sich noch in Haft befinden. Die Pariser Libération berichtete am Montag, in den Tagen zuvor seien mutmaßlich 100 bis 150 Gefangene durch ihre Wächter umgebracht worden. In den Haftanstalten gingen Angst und Schrecken um.

Am gestrigen Mittwoch nun gab die tunesische vorläufige Regierung ihrerselbst Zahlen dazu an. Ihr zufolge wurden "im Laufe eines Monats", in der Schlussphase des Ben 'Ali-Regimes, 71 Häftlinge getötet (unter ihnen allein 47 beim Abbrennen einer Haftanstalt in Monastir am Samstag, den 15. Januar). Es ist jedoch im Augenblick sehr fraglich, ob diese Angaben für die zurückliegende Periode wirklich auch nur annähernd vollständig sind. Unterdessen behauptet die Regierung auch, im Zuge des Umbruchs seit dem Abgang Ben 'Alis seien insgesamt 11.000 Gefangene aus den Haftanstalten geflohen.

Druck der Straße vor dem Regierungssitz

Am Montag früh kam es direkt vor seinen Büros, im "Kasbah" genannten Regierungssitz in Tunis, zu handfesten Auseinandersetzungen. Steine und Flaschen wurden auf die Polizei geworfen, die ihrerseits Tränengas und Knüppel einsetzte. Den Sonntag über hatten Tausende von Protestierern das Gebäude belagert. Verstärkung erhielten sie seit dem Vormittag von rund eintausend Demonstranten aus dem Landesinneren, dem Süden und Westen Tunesiens - aus jenen notirisch vernachlässigten und unterentwickelten Regionen, in denen seit dem 17. Dezember der Aufstand gegen das diktatorische Regime des vier Wochen später gestürzten Präsidenten Ben 'Ali begonnen hatte. Sie waren im Rahmen einer "Karawane der Befreiung" im Laufe des Wochenendes in die Hauptstadt aufgebrochen und hatten dabei zahlreiche Städte durchquert. Der noch immer geltenden nächtlichen Ausgangssperre trotzend, lagerten sie seit Sonntag Abend vor dem Regierungssitz. Als am Montag in den ersten Vormittagsstunden Regierungsbeamte diesen zu verlassen versuchten, um nicht dort eingeschlossen zu bleiben, brachen die heftigen Auseinandersetzungen aus.

Am Montag kündigte Regierungssprecher Taïeb Baccouch eine Umbildung des Kabinetts als "unmittelbar bevorstehend" an. Am Dienstag war allerdings dann davon die Rede, es könne noch "zwei bis drei Tage" dauern. Ferner erklärte Baccouch, im Namen der "Kontinuität des Staates" sollten "nicht alle" bisher dem RCD angehörenden Minister gefeuert werden. Unterdessen war auch am Donnerstag gegen 13 Uhr noch keine neue Regierung gebildet worden. Unterdessen wurde am Donnerstag früh bekannt, dass im Laufe des Tages weitere Unterredungen zwischen der provisorischen Regierung, der Anwaltskammer und der UGTT stattfinden sollen. Dabei geht es um die Zusammensetzung des künftigen Kabinetts. Die Übergangsregierung möchte demnach, neben Premierminister Ghannouchi - dessen Beibehalt trotz 11 Jahre treuer Dienste unter Ben 'Ali auch die Anwältekammer zuzustimmen scheint - mindestens zwei Minister, Jouini (den bisherigen Industrieminister) und Chelbi, in ihren Reihen behalten. Die radikalere Opposition, die sich inzwischen in einem « Bündnis des 14. Januar » zusammengeschlossen hat, möchte hingegen den Rücktritt der gesamten Übergangsregierung.

Die Demonstrationen umfassen derzeit meistens zwischen einigen hundert und rund 2000 Personen, werden aber durch beträchtliche Teile der Gesellschaft mit Sympathie begleitet und unterstützt. Auch am Donnerstag früh noch "belagerten" mehrere Hundert Demonstranten, die am vergangenen Wochenende aus dem Landesinneren gekommen waren, den Regierungssitz. Bei nächtlichen Temperaturen, die bis auf 8° Celsius herunter fallen, harren sie seit vier Tagen und drei Nächten beharrlich dort aus. Durch viele Angehörige der örtlichen Bevölkerung werden sie mit Lebensmitteln, Café und warmen Decken versorgt.

Umwälzungen in Unternehmen

Parallel zu ihnen findet derzeit eine Welle von Umwälzungen in den Betrieben und tunesischen Unternehmen statt. Dort werden reihenweise jene Chefs, die bislang zur "Kleptokratie" (Diebesherrschaft) genannten Mafia rund um den Familienclans von Ex-Präsident Ben 'Ali zählten, zur Rede gestellt oder davongejagt. Am vergangenen Mittwoch, den 19. Januar etwa feuerten die Angestellten der Versicherungsgesellschaft Star ihren Boss, ebenso jene der Nationalen Landwirtschaftsbank. Auch beim tunesischen Unternehmerverband, Utica, wurde der bisherige Chef Hedi Jilani aus dem Amt gejagt. Im tunesischen Fernsehen übernahmen Gewerkschafterkomitees die Kontrolle über die Nachrichtensendung. Am Freitag besetzten Stewardessen der bislang durch die Korruption schwer gebeutelten nationalen Fluggesellschaft Tunisair den Hauptsitz ihres Unternehmens. Der oberste Chef, Nabil Chettaoui, schloss sich in einem Büro im fünften Stockwerk ein und ließ erklären, er stünde "einer Untersuchungskommission zur Verfügung".

Das europäische Kapital in Tunesien

Eine Streikwelle hat inzwischen auch die Call Centers europäischer, insbesondere französischer, Unternehmen in dem nordafrikanischen Land erfasst. Zwischen 5 und 15 Prozent der Anrufe bei großen französischen Dienstleistern wurden über Tunesien abgewickelt. Derzeit werden die Telefonate umgeleitet, und die Wartezeiten für die Kunden haben sich erheblich verlängert. Da die tunesische Ökonomie sich auf aus Europa ausgelagerte Aktivitäten spezialisiert hatte, waren und sind die Verbindungen zu Kapital aus Frankreich und der EU eng. Orange - das ist die französische Telekom unter ihrem neuen Namen - etwa unterhielt eine tunesische Filiale. Von ihr gehörten 49 Prozent dem französischen Unternehmen und 51 Prozent einem tunesischen Eigentümer: Marwan Mabrouk, einem Schwiegersohn von Ben 'Ali und führenden Angehörigen der Mafia. Weil er zusammen mit dem gestürzten Präsidenten floh, liegt derzeit die Aktivität bei Orange Tunisie danieder.

Das internationale Kapital sorgt sich eher um die Zukunft seiner Investitionen in Tunesien, und die Bewertungsagentur Moody's hat dementsprechend am 19. Januar 11 die Note Tunesien um einen Punkt herabgestuft. Die Perspektiven Tunesiens wurden von "stabil" auf "negativ" abgewertet.

Hingegen freut sich auch ein beträchtlicher Teil der einheimischen tunesischen Bourgeoisie über den Umsturz. Denn sie musste bislang der mafiösen Überwucherung der Ökonomie des Landes durch die Familienclans von Ben 'Ali und seiner Gattin - Leila Trabelzi - einen beträchtlichen Tribut zollen. Die beiden Clans, die in direktem Kontakt mit Importeuren und ausländischen Investoren standen und Monopolstellungen einnahmen, verlangten von einheimischen Unternehmern oft eine Beteiligung an ihren Firmen. Zu diesen trugen die mafiösen Seilschaften jedoch nichts bei, sondern kassierten nur ab. Der Wirtschaftswissenschaftler El Mouhoub Mouhoud glaubt deswegen, dass durch das Ende der aufgezwungenen Racketpraktiken auch unter kapitalistischen Bedingungen nunmehr bessere Wachstumsperspektiven herrschen. Nichtsdestotrotz freut dies eher einheimische als internationale Unternehmen. Und zudem dürften die Interessen der tunesischen Bourgeoisie einerseits, der Jugend, des prekären Subproletariats im "informellen Sektor" und der Arbeiterschaft andererseits künftig erheblich auseinanderdriften. Bislang zogen sie noch an einem Strang. Eine soziale Revolte trug erheblich zum Erfolg der demokratischen Revolution in Tunesien bei. Der Tag, an dem Ben 'Ali floh, war nicht ganz zufällig jener Freitag, auf den der Beginn eines Generalstreiks angesetzt war, zu welchem die UGTT aufrief.

In Paris und anderswo verlor man einen "Freund".

Die Mehrzahl der westlichen Großmächte hielt dabei bis zuletzt an ihrem "Freund" Ben 'Ali fest. Die so genannten Sozialistische Internationale - ein Zusammenschluss sozialdemokratischer Parteien mit beträchtlichem Einfluss ihrer deutschen, österreichischen und französischen Ausgaben - schaffte es immerhin vier Tage nach der Flucht Ben 'Alis, dessen frühere Staatspartei RCD als Mitglied auszuschließen. Also doch erstaunlich früh. Immerhin hatte der tunesische RCD es noch Stunden zuvor vermocht, Ben 'Ali seinerseits aus der Partei zu werfen.

Ebenso zügig reagierte Frankreichs Regierung: Sie ließ eine Lieferung von Tränengas und "Sicherheitsmaterial" am Pariser Flughafen Roissy blockieren. An jenem Freitag, an dem Ben 'Ali floh, so behauptet sie es jedenfalls. Die französische Presse stellt es anders dar: Laut Le Monde waren es "einfache" untere Zollbeamte, die die Lieferung im Rahmen einer Routinekontrolle aufhielten. Erst am darauffolgenden Montag oder Dienstag erhielt die französische Regierung davon Kenntnis, dass die Ladung blockiert war. Mutig ordnete sie an, ihre Auslieferung zu unterbinden. Ben 'Ali befand sich zu dem Zeitpunkt bereits im saudi-arabischen Exil. Frankreichs Außenministerin Michèle Alliot-Marie hatte ihm eine Woche zuvor, am 11. Januar, noch Polizeihilfe angeboten: Dank "französischen Know-hows" könnten seine Sicherheitskräfte in die Lage versetzt werden, "sowohl die Sicherheit zu gewährleisten als auch Menschenleben zu bewahren", indem sie nicht unnötig allzu viele Menschen tötete. Dieses Angebot verschleiert unterdessen, dass beide Staaten auf polizeilicher Ebene längst intensiv kooperierten.

Letzte Meldung: Am heutigen Donnerstag zwischen 12 und 13 Uhr vermeldet die Pariser Abendzeitung ,Le Monde', der soeben - am Dienstag - ausgetauschte französische Botschaft in Tunis, Pierre Ménat, habe bis zuletzt an die Aufrechterhaltung des Ben 'Ali-Regimes geglaubt. Und offenkundig auch darauf gehofft. Der Botschafter, der in seiner gesamten Amtszeit keinen einzigen Oppositionellen getroffen hatte, glaubte demnach noch am Tag der Flucht Ben 'Alis (dem 14. Januar 11), dessen Rede vom Vorabend werde "die Dinge schon wieder ins Lot bringen". Vgl. http://www.lemonde.fr/tunisie/article/2011/01/27/tunisie-l-ambassadeur-de-france\
-pensait-que-le-regime-de-ben-ali-tiendrait_1471201_1466522.html
externer Link)

Unterdessen hatte die US-Administration Obama die Zeichen der Zeit ein bisschen schneller erkannt. Auch ihr Land unterstützte bis dahin die Diktatur Ben 'Alis; intern äußerten Diplomaten jedoch beträchtliche Kritik an ihr, wie die durch WikiLeaks publizierten Dokumente belegen, wo von einer "Quasi-Mafia" in den oberen Etagen des tunesischen Staates die Rede war. Am 10. Januar dieses Jahres - so besagen es jedenfalls französische Nachrichtendienstquellen, welche in die Presse durchsickerten - signalisierte die US-Administration der tunesischen Armee, mit deren Generalstab sie in Verbindung stand, sie möge Ben' Ali lieber fallenlassen. Die Armeespitze spielte eine nicht unwesentliche Rolle beim Umschlagen der Situation in den letzten Tagen des alten Regimes. Auch deswegen, weil die Militärs bislang durch das Regime Ben 'Alis und seines Vorgängers Habib Bourguiba eher vernachlässigt worden war, zugunsten der Polizei, aus der Ben 'Ali hervorging. Die tunesische Polizei beschäftigte schätzungsweise 120.000 Mann (unter ihnen 4.000 bis 5.000 Mann der Präsidentengarde und anderer Eliteeinheiten, die sich nun z.T. in den Terror ausübenden Milizen wiederfinden); die Armee dagegen verfügte "nur" über circa 36.000 S

Bernard Schmid, Paris, 27.01.2011


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