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Ausgepoldert? Streiks im niederländischen Nahverkehr gegen späteren Renteneintritt, im Bildungswesen für bessere Arbeitsbedingungen

Die große Lehrerdemonstration in Den Haag am 15.3.2019 war ein Höhepunkt der ungewohnten aktuellen streikwelle in den NiederlandenSeit dem 1. Januar 2019 liegt das Renteneintrittsalter in den Niederlanden bei 66 Jahren und 4 Monaten. Schritt für Schritt soll das Renteneintrittsalter aber bis 2022 auf 67 Jahren und 3 Monate erhöht werden. Ob das Renteneintrittsalter weiter erhöht wird, hängt indes davon ab, wie sich die Lebenserwartung entwickelt. Rente und Lebenserwartung sind in den Niederlanden nämlich aneinander gekoppelt. Der niederländische Gewerkschaftsbund FNV findet das jedoch ungerecht: Den Renteneintritt pauschal für alle Berufsgruppen festzulegen, sei realitätsfern, denn Arbeitnehmer mit körperlich fordernden Berufen könnten schlichtweg nicht bis 67 Jahre arbeiten. Gemeinsam mit den Schwestergewerkschaften VCP und CNV organisiert der FNV deshalb heute einen Aktionstag, um gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu protestieren. Das Ziel: Mit Streiks im öffentlichen Nahverkehr sollen die Niederlande lahmgelegt werden. (…) Auch in der Metallindustrie und im Baugewerbe sollen heute Streiks stattfinden. Die Organisatoren erwarten, dass sich rund 10.000 Menschen an neun Orten in den Niederlanden an den Streiks beteiligen. Die Gewerkschaften wollen erreichen, dass das Renteneintrittsalter bei 66 Jahren eingefroren wird. Länger könnten Menschen mit körperlich schwerer Arbeit nicht ihren Beruf ausüben. Auch soll die Strafzahlung abgeschafft werden, die Arbeitgeber zahlen müssen, wenn Arbeitnehmer früher in Rente gehen als gesetzlich vorgegeben. Des Weiteren fordern sie einen Rententopf für alle Arbeitskräfte, also auch für Solo-Selbstständige, Leiharbeiter und Unternehmer. Die letzte Forderung der Gewerkschaften beinhaltet die Anpassung der Rentenzahlungen an die Verbraucherpreise: Steigen die Preise für Einkäufe, Sprit, Möbel und andere Konsumgüter, soll auch die Rente entsprechend angehoben werden…“ – aus der Meldung „Landesweite Streiks im öffentlichen Nahverkehr“ am 18. März 2019 im Niederlande Net der Uni Münster externer Link, worin auch noch über die – wie in solchen Fällen üblich, gemischten – Reaktionen der Öffentlichkeit eben vor allem auf den Nahverkehrsstreik berichtet wird. Siehe zu den aktuellen Streiks zwei weitere Beiträge, sowie einen Hintergrundbeitrag und den Hinweis auf unseren ersten Beitrag zu Protesten im Bildungswesen:

  • „Keine Kompromisse mehr“ von Gerrit Hoekman am 19. März 2019 in der jungen Welt externer Link zum Streik und dem dadurch in Frage gestellten tradierten Poldermodell: „Arbeitsniederlegungen sind in den Niederlanden äußerst selten, die Streikbereitschaft gehört zu den niedrigsten in der gesamten EU. Im Zeitraum zwischen 2007 und 2014 fielen im Jahr im Durchschnitt nur acht Arbeitstage aus – einer mehr als in Deutschland. Zum Vergleich: In Frankreich waren es 123 Arbeitstage. Dass die niederländische Bevölkerung selten mit Streiks konfrontiert wird, liegt am sogenannten »Poldermodel«, wonach Beschäftigte und Unternehmer gemeinsam mit von der Regierung bestellten Wirtschaftsexperten nach einem Konsens im Tarifstreit suchen. Meistens erfolgreich. Als Beginn des Poldermodels gilt der »Vertrag von Wassenaar«, in dem sich im November 1982 die beteiligten Tarifparteien zu einer gemäßigten Lohnpolitik verpflichteten. Die Gewerkschaften erhielten im Gegenzug die Zusage für eine Verkürzung der Arbeitszeit. Der Drang zum Konsens in der niederländischen Gesellschaft geht bis ins Mittelalter zurück. Damals mussten Bauern und Adelige, Städter und Landbevölkerung gemeinsam am Bau der Deiche mitarbeiten und Polder trockenlegen, um das Land vor den Fluten der Nordsee zu schützen. Im Laufe der Zeit wurde dieses Modell auch auf andere Bereiche des Zusammenlebens ausgeweitet. Das Verb »polderen« ist in der niederländischen Sprache inzwischen ein geflügeltes Wort, wenn es darum geht, Kompromisse auszuhandeln. Doch das Poldermodell läuft im Moment anscheinend nicht mehr richtig rund – am Freitag hatten schon die Lehrerinnen und Lehrer an den Grundschulen und die Professorinnen und Professoren an den Universitäten die Arbeit niedergelegt. Sie fordern höhere Löhne und weniger Arbeitsdruck…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=146063
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