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Updated: 18.12.2012 15:51
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Heftige soziale Unruhen in Tunesien und Marokko: Tote im Phosphatrevier von Gafsa und in Sidi Ifni

Beinahe zeitgleich kam es am vergangenen Freitag und am Wochenende in "peripheren" Gebieten Tunesiens und Marokkos zu heftigen sozialen Unruhen. In beiden Fällen gab es (mutmaßlich) Tote. Und in beiden Fällen steht die Arbeitslosigkeit, darunter jene von Hochschulabgängern - der inzwischen in diesen Ländern zum eigenen Begriff gewordenen ,chômeurs diplômés' (Erwerblosen mit Universitätsabschluss) -, und die Perspektivlosigkeit von weiten Teilen der Jugend im Hintergrund.

Bilder von Attac MarokkoIm "Phosphatbecken" von Gafsa im Südwesten Tunesiens, rund 300 Kilometer von der Hauptstadt Tunis entfernt, circa 120.000 Einwohner/innen, fanden schon seit Anfang Januar dieses Jahres heftige soziale Auseinandersetzungen statt. Diese Region galt schon immer als "aufsässig": Im "Becken von Gafsa" sind die wichtigsten Figuren der tunesischen Gewerkschaftsbewegung geboren und aufgewachsen, und von hier gingen aufständische Bewegungen wie die "Brotrevolten" im Jahr 1984 (die um dieselbe Zeit auch Marokko erschütterten) aus.

Heute kommt der Reichtum der - durch die Zentralgewalt extrem vernachlässigten - Region, in Gestalt der Phosphatvorkommen, der örtlichen Bevölkerung so gut wie nicht zugute. (Das in Paris angesiedelte "Unterstützerkomitee für die Einwohner der Bergbauregion von Gafsa" schreibt dazu in einem Flugblatt vom 1. Mai 2008: "Paradoxerweise kommt dieser Reichtum der örtlichen Bevölkerung, die im Elend lebt, nicht zu nutze." Nun kann man dies in der real existierenden kapitalistischen Welt auch gar nicht "paradox" finden, sondern der Auffassung sein, dass es eine herrschende Logik sehr originalgetreu widerspiegelt...)

Die Arbeitslosigkeit beträgt regional (laut offiziellen Angaben) 30 Prozent, das ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Das angebliche tunesische "Wirtschaftswunder", das vor dem Hintergrund des Freihandels mit der Europäischen Union - seit dem Januar 2008 ist ein Abkommen zum freien Warenverkehr bei Industriegütern in Kraft - überwiegend an der Ansiedlung bestimmter ausgelagerter Produktions- und Dienstleistungszweige hängt, kommt hier nicht an. Um von diesem angeblichen "Wirtschaftswunder" ein Minimum zu profitieren, muss man in einer der Küstenstädte leben und entweder im Tourismusgewerbe oder in einer der an den Export in Richtung angebundenen Wirtschaftsbranchen (Call Centers, Automobilzulieferer) arbeiten. Oft freilich zu infamen Löhnen. Dass es in Tunesien dennoch kaum - für die Touristen - sichtbares Elend gibt, v.a. im Vergleich mit Ländern der Region wie besonders Marokko, hängt damit zusammen, dass die Tuneser/innen auf Kredit leben und Autos oder Wohnungen auf Pump kaufen können. Im Gegenzug sind immer mehr unter ihnen auf lange Zeit hin abhängig und überschuldet. Die Staatsmacht behauptet, "80 Prozent" der Tunesier/innen gehörten "zur Mittelschicht", und versuchen jegliche soziale Konflikte in einem vermeintlich widerspruchsfreien - und von harter politischer Repression gegen Menschenrechtler/innen und Journalisten, zur Abschreckung für "die Masse", begleiteten - autoritär-repressiven und "ideologiefreien" "Wohlstands"klima zu ersticken.Bilder von Attac Marokko

Nun fühlen sich die Einwohner/innen der (Phosphat-)Bergbauregion von diesem sehr relativen "Reichtum" abgehängt. Zumal die Automatisierung und Mechanisierung der Bergwerke dafür gesorgt hat, dass immer weniger Arbeitsplätze dort angeboten werden: Statt früher 14.000 Personen (zu Anfang der achtziger Jahre) arbeiten dort heute nur noch 5.000.

Doch Anfang Januar dieses Jahres wurden erstmals nach langen Jahren wieder 81 Stellen im Phosphatbergbau ausgeschrieben, um alters- und rentenbedingte Abgänge von Arbeitskräften zu ersetzen. Über 1.000 Kandidaten bewarben sich auf die Arbeitsplätze. Doch als am 7. Januar die Liste der "Gewinner" ausgeschrieben wurde, kam es zur sozialen Explosion, und die lang angestaute Wut und Frustration entluden sich. Noch am selben Tag kam es in den drei wichtigsten Städten des Bergbaureviers, in Redeyef, Oum Laârayes und M'Dhilla (in 20, 30 und 70 Kilometern Entfernung von der Regionalhauptstadt Gafsa), zu heftigen Protesten. Jeweils mehrere hundert Arbeitslose, die durch die örtliche Bevölkerung unterstützt wurden, griffen zu unterschiedlichen Protestformen: Demonstrationen und Kundgebungen, Besetzung von Räumlichkeiten des einzigen nennenswerten Arbeitgebers der Region - der Bergbaufirma Compagnie des phosphates de Gafsa (CPG) -, Hungerstreiks von ,arbeitslosen Universitätsabsolventen' usw. Nach Angaben des kämpferischen Gewerkschafters Hajji Adnane, des Sprechers der Protestierenden in der Stadt Redeyef (zitiert n. ,Le Monde' vom 25. April, wo anlässlich des dreitägigen Staatsbesuchs von Präsident Nicolas Sarkozy in Tunesien von Ende April eine Hintergrundseite zur tunesischen Ökonomie erschien), hatten die Protestler "eine Bestätigung für die zuvor ohnehin zirkulierenden Gerüchte erhalten: Die Neueinstellungen wurden durch Korruption und Vetternwirtschaft zugeteilt."

Bilder von Attac MarokkoAuf regionaler wie auf nationaler Ebene verurteilte der tunesische Gewerkschaftsverband, die UGTT (Union générale des travailleurs tunisiens), die Protestversammlungen und Unruhen. Das ist auch kein Wunder: In Redeyef beispielsweise ist der gewerkschaftliche Hauptamtliche und Vertrauensmann (délégué syndical) personalidentisch mit dem Repräsentanten des Arbeitgebers - der Phosphatfirma CPG - und, in einer Person, mit dem Abgeordneten der Regimepartei RCD (,Demokratische Verfassungs-Sammlung) des mafiös-autoritär regierenden Präsidenten Zinedine ben Abidine Ben Ali (laut ,Le Monde' vom 10. Juni 08).

Aber vor Ort ging der Protest ungebrochen weiter. Die Bergarbeiter traten in den Streik, und ihre Familien - und insbesondere die Frauen - demonstrierten immer wieder auf den Straßen. In Redeyef, wo oppositionelle Gewerkschafter (unter ihnen Hajji Adnane) die Bewegung strukturierten, nahmen Tausende von Einwohner/innen an Veranstaltungen und Demonstrationen teil. In Oum Laârayes errichteten die Witwen von Bergarbeitern, die infolge von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten gestorben waren, und Behinderte zusammen Zelte, in denen sie mehrere Wochen hindurch campierten. Dadurch blockierten sie den Zugang zu den Phosphatminen auf dem Schienenweg.

Die Behörden versuchten zuerst, die Proteste "auszusitzen". Aber dann kam es, in mehreren Schritten, zur Eskalation. In der Nacht vom 6. zum 7. April dieses Jahres verhaftete die Polizei rund 30 oppositionelle Gewerkschafter und Jugendliche in Redeyef, unter ihnen den Sprecher Hajji Adnane, und steckte sie ins Gefängnis. Die Polizei umstellte die Bergwerke. Aber daraufhin setzte ein Anschwellen der Massenproteste an, und "ein regelrechtes Menschenmeer" (so das Flugblatt des in Paris ansässigen Unterstützungskomitees zum 01. 05. 2008) strömte auf die Straßen und Plätze. Am Abend des 10. April wurden sämtliche Festgenommenen aus der Haft freigelassen.

Bilder von Attac MarokkoSeit Anfang Mai kam es zu erneuten Eskalationsschritten. Am 6. Mai starb ein junger Arbeitsloser, der 26jährige Ali Ben Jeddou El Aleimi, bei einer Besetzungsaktion an einem Stromschlag, und der 21jährige Taoufik Ben Salah landete im Koma. Zusammen mit einer Gruppe anderer Erwerbslosen hatten sie einen Stromgenerator besetzt, der die Phosphatminen mit Elektrizität beliefert, und hatten dadurch deren Stromversorgung unterbrochen. Aber noch während sie sich im Inneren befanden, wurde der Generator wieder unter Strom gesetzt, und mehrere Personen erhielten einen heftigen Stromschlag. Der Körper des toten El Aleimi wurde unter dessen Wucht nach draußen geschleudert. Die "Erste Hilfe" rückte erst Stunden nach dem tödlichen Unfall an. Am Nachmittag des 7. Mai verließen Tausende von Einwohner/innen der (30.000 Menschen zählenden) Bergbaustadt Redeyef im Rahmen einer "kollektiven Evakuierung" ihre Stadt, um sie den marodierenden "Polizeikräften zu überlassen". Und brachten dadurch Ihren Überdruss gegenüber der seit Wochen andauernden Besetzung ihrer Stadt durch uniformierte Kräfte zum Ausdruck.

Am 2. Juni dieses Jahres Nabil Chagra, nachdem er bei einer Demonstration junger Arbeitsloser von einem Auto erfasst worden war.

Am vergangenen Freitag (05. Juni) nun begann die Polizei im Phosphatrevier das Feuer zu eröffnen. Sie schoss in Redeyef in die protestierende Menge und tötete den 22jährigen Hafnaoui Ben Ridha Hafnaoui Maghzaoui, in der Nähe seiner Wohnung. 26 weitere Personen wurden verletzt. Ahmed Ahmadi Baccouch, ein weiteres Opfer, wurde mit zwei Kugeln im Rücken ins Regionalkrankenhaus von Gafsa transportiert. Die Polizei schoss ferner Tränengasgranaten ab, bis ins Innere von Häusern hinein, und setzte Wasserwerfer ein. Zugleich bezog auch die Armee Aufstellung.

Wiederholung am Samstag in Marokko ?

Bilder von Attac MarokkoAm darauffolgenden Tag flammten im südmarokkanischen Sidi Ifni, einer Hafenstadt von rund 20.000 Einwohner/inne/n, die in einer als traditionell "aufsässig" geltenden Berberregion (südlich von Agadir am Atlantik) liegt, ebenfalls soziale Unruhen auf. Anlass war auch hier die Ausschreibungspraxis bei Arbeitsplätzen in einer durch die Zentralgewalt vernachlässigten Region, wo die Arbeitslosigkeit weit überdurchschnittlich hoch liegt. In diesem Falle hatte das Rathaus die Neueinstellung von drei Personen versprochen, und die Bekanntgabe der Ziehung der Namen der "glücklichen Gewinner" durch Los hatte Proteste ausgelöst. Aus Protest gegen die Methode der Losziehung blockierten junge Arbeitslose den Hafen, und es kam zu heftigen Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräfte, die hemmungslos drauflos prügelten (VGL. AUCH DIE NEBENSTEHENDEN FOTOS ZU DEN ERGEBNISSEN DIESES POLIZEIEINSATZES).

Örtliche Initiativen und Vereinigungen, wie das Marokkanische Zentrum für Menschenrechte (CMDH), sprachen daraufhin von "mindestens zwei Toten". Der Korrespondentenbericht des arabischsprachigen Fernsehsenders El-Jazeera (dessen Zentrale in Qatar ansässig ist) sprach seinerseits von "zwei bis acht Getöteten", und auf Radio Africa Numéro 1 war am Montag früh von mutmaßlich fünf Toten die Rede.

Hingegen dementieren die marokkanischen Behörden energisch, dass es Tote gab. Sie sprechen ihrerseits davon, dass es 44 Verletzte, "unter ihnen 27 verletzte Polizisten", sowie 20 Verhaftungen gegeben habe. Daraufhin haben die marokkanischen Behörden nun Vertreter des Fernsehsenders El-Jazeera, den sie der "Leichtfertigkeit bei der Sammlung und Verbreitung von Informationen" vorwerfen, zur Aussprache vorgeladen und Erklärungen von ihnen gefordert. Am Samstag wurde der Leiter seines marokkanischen Büros, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in der Hauptstadt Rabat hin, durch die Kriminalpolizei vernommen. (Vgl. den Artikel in der Le Monde externer Link) Inzwischen hat die marokkanische Regierung in Rabat - mit drohendem Unterton? - präzisiert, "die Schließung des Büros von El-Jazeera stehe zwar nicht auf der Tagesordnung", aber sie fordere den Sender (ultimativ) "zu einer Entschuldigung auf".

Fortsetzung folgt garantiert...

Bernard Schmid, 10.06.2008 (Bilder von Attac Marokko)


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