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Reihenweise Großaufgebote: Die italienische Variante des Weges zum Polizeistaat?
„Versuchen wir das große Polizeiaufgebot „nach Scelba-Art“ am Mailänder Hauptbahnhof, das Durchkämmen des „Ghettos“ in der ländlichen Umgebung von Foggia, die Jagd auf Straßenverkäufer in Rom – mit dem dramatischen Ergebnis des Todes eines senegalesischen Immigranten, der Vater zweier kleiner Kinder ist –, die Lawine restriktiver Maßnahmen, die Verurteilungen und finanziellen Sanktionen gegen soziale und gewerkschaftliche Aktivisten, den in Rom geradewegs gegen die Arbeiter einer Gesellschaft mit öffentlicher Beteiligung wegen der Proteste am römischen Kapitol verhängten Platzverweis (DASPO) sowie die „Falle“ und die Knüppelorgien gegen die Demonstranten am 1.Mai in Rom aneinanderzureihen“ – aus dem Beitrag „Das Land des „Großaufgebots der Polizei“ von Sergio Cararo ursprünglich am 04. Mai 2017 bei Contropiano, jetzt in deutscher Übersetzung (inklusive Erläuterung und Kommentierung) durch das Gewerkschaftsforum Hannover. Siehe: „Das Land des „Großaufgebots der Polizei“ – wir danken!
„Das Land des „Großaufgebots der Polizei“
Jeden Ansatz von Protest, Widerstand oder Erhebung gegen die immer unerträglicheren Verhältnisse im Keim zu ersticken und zugleich die Armen aus dem Stadtbild zu tilgen, damit das wachsende Elend nicht sichtbar wird. Das scheint die innenpolitische Maxime der Regierungen von Matteo Renzi und Paolo Gentiloni zu sein. Bezeichnenderweise beide Vertreter der so genannten „Mitte-Linken“, die einst als „Alternative“ zu Silvio Berlusconi ins Amt gelangten und als große „Hoffnungsträger“ gepriesen wurden. Mit der sich verschärfenden Repression gegen alle Regungen linker Opposition und „die da unten“ beschäftigt sich Sergio Cararo in einem Leitartikel der italienischen marxistischen Online-Tageszeitung „Contropiano“ („Gegenplan“/ „Gegenprojekt“ / „Gegenperspektive“; www.contropiano.org ) vom 4. Mai 2017. Sie wird vom Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten) gemacht, das aus der Arbeiterautonomie-Revolte von 1977 / 78 hervorgegangenen ist und der größten linken Basisgewerkschaft USB nahesteht. „Contropiano“ zählt inzwischen zu den wichtigsten linksalternativen Nachrichtenportalen Italiens.
Das Land des „Großaufgebots der Polizei“
Von Sergio Cararo
Die Szenen die seit einigen Tagen vor unseren Augen vorbeiziehen, sind ein sehr übles aktuelles und zukünftiges Szenario für unser Land.
Versuchen wir das große Polizeiaufgebot „nach Scelba-Art“ <Anm. 1> am Mailänder Hauptbahnhof, das Durchkämmen des „Ghettos“ in der ländlichen Umgebung von Foggia, die Jagd auf Straßenverkäufer in Rom – mit dem dramatischen Ergebnis des Todes eines senegalesischen Immigranten, der Vater zweier kleiner Kinder ist –, die Lawine restriktiver Maßnahmen, die Verurteilungen und finanziellen Sanktionen gegen soziale und gewerkschaftliche Aktivisten, den in Rom geradewegs gegen die Arbeiter einer Gesellschaft mit öffentlicher Beteiligung wegen der Proteste am römischen Kapitol verhängten Platzverweis (DASPO) sowie die „Falle“ und die Knüppelorgien gegen die Demonstranten am 1.Mai in Rom aneinanderzureihen.
Welches Bild liefern sie uns vom politischen Klima des Landes? Die Erregung von Lega Nord-Chef Salvini, der Selfies macht, um so dem Großaufgebot der Polizei seine Ehrerbietung zu erweisen, ist nur der widerlichste Aspekt. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf aus und heute ist dieser Kopf der des Innenministers Minniti <Anm. 2> und der Dekrete, die seinen Namen tragen.
Es ist wichtig, das Ziel dieser Repressionsmaßnahmen zu erfassen, die scheinbar präventiv und momentan leichter als jene sind, die in den vergangenen Jahren angewandt wurden. Das heißt als die Notstandsgesetze, die in den 70er und 80er Jahren im Land eingeführt wurden.
Niemand kann jedoch der Zusammenhang zwischen der Ausweitung der repressiven Vorkehrungen und den Folgen der Wirtschaftskrise entgehen, die zu Massenarbeitslosigkeit, Räumungen, Betriebsschließungen, abruptem Absturz von Millionen Menschen in Armutsverhältnisse sowie zu einem Schwindel erregenden Anstieg der sozialen Ungleichheiten führen.
Alle Indikatoren sozialer Unzufriedenheit nehmen zu, doch die Funktion der Politik hat komplett abgenommen: Lösungen zu finden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, sich der Zunahme sozialer Ungleichheit zu widersetzen. Im Namen der Sicherheit und der Governance <im neoliberalen Sinne: „guten Amtsführung“>, aber auch der Einhaltung der haushaltspolitischen Auflagen, der Europäischen Verträge, der Abgabe der Verantwortung des öffentlichen Subjektes für die Gestaltung des Wohlfahrtsstaates sehen sich die sozialen Forderungen immer öfter nur noch den Ordnungskräften gegenüber.
Das vor kurzem gebilligte Minniti-Dekret entspricht voll und ganz diesem Szenario. Die aktuelle Regierung und diejenigen, die ihr folgen werden, wissen ganz genau, dass sie die „Blut & Tränen“-Maßnahmen verschärfen müssen, um die von Brüssel aufgezwungenen Parameter einzuhalten, und dabei die Werktätigen, Rentner und Familien noch stärker belasten müssen. Kurzum: Die Institutionalisierung eines „Strafstaates“, der das leisten soll, ist eine Kriegserklärung gegen die Armen.
Im Bewusstsein der Dreckarbeit, die sie mit dem Minniti-Dekret verrichten muss, hat die Regierung ein Abschreckungssystem geschaffen, das jeden sozialen Protest entmutigen oder die aktivsten sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Subjekte neutralisieren soll. Geldbußen von mehreren tausend Euro oder polizeiliche Auflagen (Abschiebungen, Hausarreste, Verbote einige Zonen oder Städte zu betreten), welche Wirkung haben die auf einen Beschäftigten in einer gemeinnützigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (LSU), den Arbeiter einer Fabrik, die geschlossen werden soll, die Arbeiterin in einem Supermarkt oder einen jungen Arbeitslosen? Als Letztes – allerdings nicht was die Bedeutung anbelangt – hat das Minniti-Dekret einen doppelten rechtlichen Standard eingeführt: einen für die „Italiener“ und den anderen für die Einwanderer. So wird eine Legitimität „von oben“ geschaffen, die jede gravierende Intervention auf der Ebene der öffentlichen Ordnung gegen die Immigranten deckt und fördert.
Es ist offensichtlich, wie das Dogma der Legalität in offenen Widerspruch zu jedem Kriterium oder Forderung nach sozialer Gerechtigkeit tritt. Am 4. Dezember 2016 hat ein Volksentscheid die Verfassung und ihren demokratischen Ansatz gegen einen Angriff verteidigt, der von der Philosophie der autoritären Governance inspiriert war.
Doch diese ständige, mittlerweile tägliche, Wiederholung von Anzeigen, restriktiven Maßnahmen, finanziellen Sanktionen und großen Polizeiaufgeboten auf der Straße, Platzverweisen etc. formt einen Polizeistaat, der im Augenblick weniger Aufsehen erregend ist als der von Erdogan, aber von derselben Philosophie angetrieben wird.
Es ist dringend nötig, eine breite demokratische Reaktion im Land gegen dieses politische Klima und die angewandten Polizeigesetze auf die Beine zu stellen. Es wird – und zwar rapide – eine andere Gangart durchgesetzt. Das Land der „Großaufgebote der Polizei“ ist ein mieses Land.
Anmerkungen:
1) Mario Scelba (5.9.1901 – 29.10.1991), christdemokratischer Politiker und Anwalt für Zivilrecht. Vom 10. Februar 1954 bis zum 6. Juli 1955 italienischer Ministerpräsident und von 1969 – 1971 Präsident des Europaparlaments. Während des Mussolini-Regimes bis zur Landung der Alliierten auf Sizilien politisch inaktiv, dann einer der Autoren des ersten Programms der Democrazia Cristiana (DC). Von 1946 – 1983 italienischer Abgeordneter und von Anfang Februar 1947 bis Anfang Juli 1953 sowie von Ende Juli 1960 – Ende Februar 1962 Innenminister. Bis heute bekannt und berüchtigt insbesondere durch seine massive Aufrüstung der Polizei von 40.000 auf 70.00 Mann (neben den 75.000 Carabinieri und den 45.000 Beamten der Guardia di Finanza) von Juli 1947 bis Januar 1948 in Erwartung eines Bürgerkrieges mit der kommunistischen Bewegung im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1948; durch seine brutalen Repressionsmaßnahmen gegen Streiks und Demonstrationen, die unter den Teilnehmern zahlreiche Tote und Verletzte forderten; durch seine Abneigung selbst gegen banalste reformistische Ideen von „sozialer Gerechtigkeit“; und durch das sog. „Scelba-Gesetz“ vom 23. Juni 1952, das die Verteidigung des faschistischen Regimes und des Partito Nazionale Fascista (PNF) unter Strafe stellte, aber kaum jemals angewendet wurde und sich so als reine Alibiaktion gegen rechts erwies, um die Unterdrückung linker Bestrebungen als ausgewogenen Kampf „gegen jeden Extremismus“ verkaufen zu können.
2) Marco Minniti (geboren am 6.6. 1956 in Reggio Calabria) ist seit dem 12. Dezember 2016 italienischer Innenminister. Er besitzt einen Hochschulabschluss in Philosophie und war von 1980 bis zu ihrer Selbstauflösung 1992 Mitglied und rasch auch Funktionär der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI). 1992 bis 1994 erster Regionalsekretär ihrer offen sozialdemokratischen Nachfolgeorganisation PDS (Partei der Demokratischen Linken) in Kalabrien. Anschließend Mitglied des nationalen Sekretariats des PDS und ab Februar 1998 ihr organisatorischer Sekretär, also faktisch die Nr.2 der Partei. Nach deren erneuter Häutung von 1998 – 2007 Abgeordneter und Funktionär der Linksdemokraten (DS). Ab 2007 Spitzenfunktionär und Abgeordneter der aus der Fusion der DS mit Teilen der Christdemokraten hervorgegangenen Demokratischen Partei (PD), für die er 2013 auch zum Senator gewählt wurde. 1998 – 2000 Staatssekretär des Ministerpräsidenten Massimo D’Alema. 2000 – 2001 Staatssekretär im Verteidigungsminister im Kabinett von Giuliano Amato. Er gilt gemeinhin als „Mann der Geheimdienste“.