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Gorgopotamos in Alamana: Die ersten Monate der SYRIZA-Regierung
John Milios, der schon mehrfach im express geschrieben hat, ist Professor für Ökonomie in Athen, Mitglied des ZK von Syriza und einer der Verfasser von deren Wirtschaftsprogramm. Er war bis vor kurzem ökonomischer Berater der Syriza-Regierung. Aus dem Text, dessen Überschrift sich auf zwei bedeutende Orte des Widerstands in der Geschichte Griechenlands bezieht[1], wird ersichtlich, warum Milios – Befürworter eines harten Kurses in den Verhandlungen, nicht jedoch eines Ausstiegs aus der Eurozone – das nicht mehr ist. Artikel erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 05/2015
1. Weiterführung des Bestehenden?
In den ersten beiden Monaten ihres Handelns scheint die Regierung der Linken und ihrer Verbündeten dazu zu neigen, sich zu einer populistischen Geschäftsführerin des Bestehenden zu wandeln, also der Herrschaft des Kapitals in Gestalt seiner globalen neoliberalen Form. Verlautbarungen staatlicher Akteure ebenso wie Stimmen des Volkes zeigen Verärgerung bei einer solchen Beschreibung der politischen Lage Griechenlands. Sie empfehlen Geduld und Warten auf Zeit und Geld, oft metaphorisch verbunden mit Begriffen wie »langem Atem« und »Brücke«.
Die Frage ist aber keine quantitative (lasst uns warten bis Juni, bis »2016« etc.), sie ist rein qualitativ. Was genau erwarten wir, was in diesem Zeitraum passiert? Mit welcher Strategie bewegt sich die griechische Regierung?
Die Verlautbarungen empfehlen dauerhaften Optimismus. Das griechische Volk und vor allem die Partei SYRIZA und ihre Anhänger befinden sich heute in einem Zustand bejubelter Passivität, während sie doch rebellieren sollten gegen soziale Ungleichheit, gegen illegale Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und das Kapital (mit dem Symbol der »Schulden«). Das Volk traut der Regierung keine mutigen Entscheidungen zu, mit dem Bestehenden zu brechen. Die Regierung ist auf europäischer Ebene isoliert, während die »Kontakte« mit China und Russland nur politische Exotik sind, die allenfalls fanatischen Nationalisten Hoffnung geben.
So zieht sich also die Regierung zurück, unterschreibt die zweifelsohne verschlechterte Fortführung des Bestehenden mit unterschiedlichen Namen, feiert, dass es nicht zu den von Hardouvelis (dem Finanzminister der Regierung Samaras, Anm. d. Ü.) angekündigten weiteren Sparmaßnahmen kam, und erwartet irgendein Licht am Ende des Tunnels. Sie will nicht bei den Thermopylen[2] fallen und sucht verzweifelt die Aussicht auf einen triumphalen Sieg bei irgendeinem Salamis[3]. Aber wenn niemand weiß, was zu erwarten ist, wandelt sich die Logik der »Diaspora« der Kräfte und Fronten in die Apologetik des Bestehenden.
Es sieht zumindest bisher so aus, als fehle eine Strategie, die immense soziale Polarisierung zu bekämpfen, die aus der Kombination von Rezession, Arbeitslosigkeit und Armut, die in Griechenland auf ein in der Nachkriegszeit beispielloses Niveau gestiegen ist, resultiert. Diese ökonomisch-soziale Situation war es, die zu veränderten politischen Konstellationen und – auch das wäre vor wenigen Jahren undenkbar gewesen – letztlich zum Wahlsieg von SYRIZA geführt hatte. Was bedeutet dies nun für die Zukunft? Wird sich die Umverteilung zugunsten der Reichen auf der Ebene der Primärverteilung fortsetzen, also eine Umverteilung zugunsten ihrer Einkommen und ihrer Macht, die sich von selbst aus den Regeln ergibt, die auf dem Arbeitsmarkt herrschen? Oder wird die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu Maßnahmen der Umverteilung von Einkommen und Macht führen, mit oder ohne soziale Explosionen?
Die soziale Spaltung kann nicht verringert werden, solange »die Reichen nicht zahlen«, d.h. solange der Sozialstaat und die öffentlichen Ausgaben nicht auf ein gerechtes Steuersystem aufgebaut werden, das dem Kapital einen größeren Teil jener Lasten auferlegt, die heute die Arbeiterklasse, die Selbständigen und die Kleinunternehmer tragen. Auch Peter Bofinger, einer der fünf »Wirtschaftsweisen«, die die deutsche Bundesregierung beraten, schien linker als viele Linke zu sein, als er forderte, dass in Griechenland »die Reichen zahlen« sollen und unter Berufung auf die Erfahrungen Nachkriegs-Deutschlands ein Modell hoher Besteuerung für die »Besitzenden« vorschlug. Obwohl offiziell Keynesianer, beeilte sich der »Weise« jedoch festzustellen, dass es in Griechenland keine Erhöhungen der direkten Löhne und Renten geben sollte, genauso wenig sollten die Sozialausgaben erhöht werden (mit Ausnahme derer für die »Verarmten«). Bofinger schlägt jedoch zumindest ein »Memorandum für die Reichen« vor, um finanzielle Stabilität zu gewährleisten.
Wird die Regierung ihren Blick auf die soziale Umverteilung richten, mit anderen Worten, wird sie in diesem internen Konflikt eine klare Position zugunsten der unteren Klassen einnehmen? Wenn nicht, bedeutet dies in der Praxis, dass die »Armen« auch weiterhin zu zahlen haben.
2. Nationale »Rettung«? Soziale »Rettung« ohne Umverteilung?
Bis jetzt beruht die Identität der SYRIZA-Regierung im Wesentlichen auf zweierlei: zum einen auf der »humanitären« Intervention, die der Regierung den Charakter eines sozialen Retters verleiht, wenn auch nur in einem ganz minimalistischen Rahmen. Es werden Unterstützungsmaßnahmen zugunsten schwacher sozialer Gruppen und vor allem der Hochverschuldeten ergriffen. Die Regierung reagiert zudem auf einige extreme Formen staatlicher Brutalität, wie die Gefangenenlager für Flüchtlinge und einige der schlimmsten Gefängnisse. Aber sie hat zumindest bis jetzt weder ein radikales Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt, noch hat sie ihr ausdrückliches Versprechen einer radikalen Änderung des Steuersystems umgesetzt, das heute die unteren und mittleren Klassen belastet und das Großkapital auf vielfältige Weise schützt.
Diese »soziale Rettung« verursacht direkte Kosten. Aber das Problem ist nicht so sehr die »externe Front« (die Verhandlungen), sondern die »interne«: Die »soziale Rettung« wird so lange in der Schwebe bleiben, bis die Regierung die herrschenden Klassen zwingt, deren Kosten zu tragen!
Das zweite Element, das die Identität der SYRIZA-Regierung kennzeichnet, ist ihr »nationaler« Charakter. Ständig sind patriotische Reden unterschiedlicher nationalistischer Intensität zu hören. Es werden Festreden gehalten und Märsche angestimmt, die »Deutschen« (und in zweiter Linie die »Europäer«) scheinen unsere Feinde zu sein, manchmal auf einem Niveau des Deliriums, das dem Unsinn der Bild-Zeitung Konkurrenz machen will. Nachdem einst die deutsche Fahne auf der Akropolis wehte, scheint es nun eine Lösung zu sein, die deutsche Flagge vom Athener Goethe-Institut herunter zu holen.
Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob dieser Nationalismus zu Fremdenfeindlichkeit führen wird. Doch während dieser Artikel geschrieben wird (März 2015), erklärt Minister Panousis, dass Griechenland keine weiteren Einwanderer ertragen kann. Es ist sicher, dass die Regierung keine Konfrontation mit den griechisch-christlichen Elementen des sogenannten ›tiefen Staates‹ (Militär, Polizei, Geheimdienste, orthodoxe Kirche) sucht. Streitkräfte und die Polizei haben weiterhin Vorrang und die orthodoxe Kirche braucht nichts zu fürchten.
Dies gefährdet das Programm der Zivilisierung des Landes und des Schutzes von Rechten auch und besonders für ausländische, inländische und andere Minderheiten. In jedem Fall übernimmt die Regierung mit ihrem Charakter der »nationalen Rettung« nationalistische Modelle, die konsequent als Deutungsmuster der politischen Auseinandersetzung projiziert werden.
Noch bilden die SYRIZA-Regierung und ihre Verbündeten ein Amalgam. Sowohl im Hinblick auf die Biographie und politische Integration ihrer Mitglieder als auch hinsichtlich ihrer politischen Orientierung. Die Kampagnen vor der Wahl beruhten auf der Idee, dass das »Ende des Memorandums« auf eine Umverteilung von Lasten, Erträgen und Macht zielt. Die »Reichen« (die herrschenden Klassen) müssten bezahlen: Es würde ein »Memorandum für das Kapital« geben. Von den ersten Momenten der Regierungsbildung an wurde jedoch klar, dass diese soziale Allianz sich dem Motto der »Entwicklung« verschreiben würde, dem »ehrlichen Deal« mit Europa und (für die romantischsten) der »Würde« und der Achtung der Legalität: Wir halten uns an »jedes Wort« der Verfassung und werden »unsere« Schulden in vollem Umfang zahlen…
Bis heute versteht die Regierung staatliches Handeln als neutral in dem Sinne, dass sie nicht die Umverteilung von Einkommen und politischer Macht fordert. Sie sieht staatliches Handeln als Werkzeug zur Umsetzung wichtiger politischer Entscheidungen – ohne soziale Änderungen. Hinter dieser Neutralität verbirgt sich jedoch eine klare Klassenorientierung. Es fehlen nicht nur jegliche Hinweise auf strategische Transformationen in den Klassenbeziehungen und Produktionsstrukturen, es herrschen auch darüber hinaus unklare Verhältnisse, die sich lediglich auf »Rechtmäßigkeit« und »Gerechtigkeit« berufen. So bleibt die linke Strategie verwirrt: Wo das Ziel die Würde aller und die Entwicklung aller ist, scheint der Staat ohne interne Frontstellung zu arbeiten.
Gibt es also wieder eine Regierung »aller Griechen«, wie die Präsidenten der Republik in ihrem festlichen Geschwätz zu sagen pflegen?
Bereits im Jahr 2014 hatten wir festgestellt, dass es eine »wesentliche Veränderung im Diskurs innerhalb der Organisation von SYRIZA« gegeben hat, nämlich einen »relative[n] Rückgang der Forderung nach ›Umverteilung‹«‚ und dass die Forderung, dass »die Reichen zahlen, zugunsten der Forderung nach ›produktivem Wiederaufbau‹ [verschoben wurde]. Diesen Wandel spiegelt auch der Versuch, die sozialen Allianzen um Teile der Geschäftswelt zu erweitern […]. Das allgemeine Bild von SYRIZA ist das eines politischen Gebildes, das die ›Spielregeln‹ übernimmt.«[4] Leider hat sich diese Befürchtung bewahrheitet.
3. Die Verschiebung: Alone in Brussels!
Das auffälligste Merkmal der aktuellen Situation ist, dass die griechische Regierung international isoliert ist. Einsam innerhalb der Europäischen Union und ohne jede andere externe Unterstützung. Sie ist die einzige, die aus der Reihe tanzt, wie die Deutschen sagen würden. Dies stört das Gleichgewicht in Europa und führt zu extremen Reaktionen. Sowohl die »Institutionen« wie auch die Regierungen der Mitgliedstaaten halten es für Erpressung, wenn die griechische Regierung autonome politische Entscheidungen trifft; Griechenland finanzielle Unterstützung zu verweigern, wenn Griechenland nicht den Kotau macht, halten sie demgegenüber nicht für Erpressung.
Während SYRIZA die Bestie fürchtet und die Bestie SYRIZA, ist eine Übereinkunft möglich, die ein halbwegs autonomes Handeln der Regierung mit externer Finanzierung erlaubt. Die rezessiven Tendenzen, die intensiven politischen Umbrüche in Spanien, der Ukraine-Konflikt und die aus internen wahltaktischen Gründen unklare Haltung in Frankreich und Italien zeigen, dass es keine eindeutigen Bruchlinien gibt, und dass die griechische Regierung auch in ihrer »Ausnahmesituation« ihre Ziele erreichen kann.
Ein Großteil der Menschen in Griechenland scheint damit zufrieden (und die Nationalisten stolz) zu sein, wenn die SYRIZA-Regierung die Entwicklung der europäischen Koexistenz als einen Konflikt »Griechenland-Europa« darstellt. Die Kontinuität des Staates mit »nationalem« Konzept und mit Unterstützung nationalistischer Kräfte beruht auf der Verbindung von »Nationalen« und »Humanitärem«. Es ist interessant zu sehen, wie viele Politiker der Nea Demokratia SYRIZA bereits Lob gezollt haben. »Ich, der Rechte, habe Hochachtung, wie man beim Militär sagt, vor dem, was die linke Regierung von SYRIZA macht – schade für uns – und ich hoffe, wünsche und bitte darum, dass auch wir das tun, was diese Menschen tun«, erklärte beispielsweise Takis Baltakos[5] am 6. Februar 2015.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Schema »Griechenland-Deutschland« oder »Griechenland-Europa« noch in die nationalistische Härte des »Wir« gegen »Sie« führen wird. Denn sowohl »Salamis« wie auch die »Thermopylen« bedeuten letztlich die »Kontinuität des Staates« – nämlich die Weigerung, den internen Klassenkonflikt anzugehen.
4. Die Kontinuität des Staates
Gibt es eine »Kontinuität des Staates« in der SYRIZA-Regierung? Strukturell haben die Entscheidungen im Zeitraum 2002-2008, keine internen Konflikte anzugehen und die »Reichen« (das Kapital) weiterhin keine Steuern zahlen zu lassen (ohne dass dies das Ende des relativen Wohlstands der Arbeiterklasse bedeutet hätte), zu steigenden öffentlichen Defiziten und so in die Schulden geführt. Diese sollten seit 2010 von den Armen (der Arbeiter- und Mittelklasse) bezahlt werden. Wenn sich die Befürchtung bestätigt, dass die Regierung es nach 2015 zu einem weiteren Sozialabbau kommen lassen will, dann bestätigt sich parallel dazu die »Kontinuität des Staates«. Natürlich entscheidet die Regierung dabei nicht einfach, sondern unter Berücksichtigung einer sich verändernden sozialen Dynamik und komplexer innerer Widersprüche.
Der Waffenstillstand an der Heimatfront (d.h. die Verwaltung des Bestehenden mit kleinen Verbesserungen innerhalb des hergestellten Klassengleichgewichts) bei gleichzeitiger Pflege einer kontrollierten Spannung mit den »Institutionen« kann erfolgreich sein, d.h. er kann politische Zeit »kaufen« – allerdings nur unter der Bedingung, dass die Volksbewegungen gegenüber den hegemonialen Strukturen schweigen dass Kämpfe außerhalb der Mechanismen nationalen Regierungshandelns unterbleiben. Denn obwohl es viele wichtige Bewegungen der Selbstorganisation gibt, die wesentlich zum Sieg von SYRIZA beigetragen haben, so sind diese Bewegungen nach den Wahlen doch nicht zu einem Kristallisationspunkt auf der zentralen politischen Bühne geworden, der die Umsetzung der strategischen Ankündigungen vorantreiben könnte, auf deren Basis SYRIZA die Regierungsmacht übernehmen konnte.
Aber diese Politisierung und Mobilisierung der Arbeitswelt ist es, worauf es im aktuellen historischen Moment ankommt. Wenn sie sich aber nicht verwirklichen lässt, dann wird Gorgopotamos weiterhin nur seinen stolzen Gruß nach Alamana schicken.
Der vorliegende Text wurde am 31. März 2015 in der Zeitung Avgi, der »Parteizeitung« von SYRIZA veröffentlicht. Es handelt sich um einen Nachdruck aus der Zeitschrift Θέσεις , H. 131, April-Juli 2015. John Milios ist Herausgeber dieses Periodikums zu »Analyse, Kritik, Fragen des Klassenkampfes«, online unter: http://www.avgi.gr
Übersetzung: Ralf Kliche
[1] Die Überschrift bezieht sich auf eine Schlacht des griechischen Unabhängigkeitskrieges vom April 1821 in Alamana, wo an einer Brücke nahe der Thermopylen die hoffnungslos unterlegenen griechischen Aufständischen den osmanischen Truppen lange Widerstand leisteten, bevor sie im Kampf starben. Die Schlacht gilt als Symbol für griechischen Widerstand und Märtyrertum. Bei dem Ort Gorgopotamos – nur wenige Kilometer von den Thermopylen entfernt – sprengten im November 1942 griechische Partisanen eine wichtige Brücke, die deutschen Besatzer erschossen daraufhin dort 16 Zivilisten. Die beiden Ereignisse werden in dem berühmten Lied des griechischen antifaschistischen Widerstands »St’armata« (»Zu den Waffen«) in Zusammenhang gebracht: »Gorgopotamos schickt Alamana seinen stolzen Gruß«.
[2] In der Antike verloren die Griechen bei den Thermopylen gegen die Perser. In der Seeschlacht von Salamis siegte die griechische Flotte gegen die persische (Anm. d. Ü.).
[3] Dies greift eine Idee von Akis Gavriilidis auf: »This is not Sparta, this is Salamis: Eurogroup, Eurocentrism, nomadism«, online unter: https://nomadicuniversality.wordpress.com/2015/03/01/this-is-not-sparta-this-is-salamis-eurogroup-eurocentrism-nomadism/ – (1. März 2015)
[5] Takis Baltakos war Sekretär im Kabinett und rechte Hand des ehemaligen Premierministers Samaras. Aktuell plant er die Bildung einer neuen rechten Kraft mit Hilfe von »seriösen« Personen der faschistischen Partei »Goldene Morgenröte«. (Anm. d. Ü.)