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Frankreichs umkämpfte Arbeitsrechts-„Reform“, Teil 39
Artikel von Bernard Schmid vom 29. Juni 2016
Erneut fand eine Pariser Demonstration gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ mit einem Rekord-Aufgebot an Polizei statt * Pariser Gewerkschaftshaus umstellt und belagert – diese Regierung ist immer wieder für eine Überraschung gut! * Der konservativ dominierte Senat verabschiedet, wunschgemäß, eine z.T. beträchtlich verschärfte Version des Gesetzentwurfs (…auf dass die regierende Sozialdemokratie ihren Text als „kleineres Übel“ verkaufen kann) * Gewerkschaftsverbände werden heute und morgen bei Premierminister Valls empfangen * Die CFDT bietet an, einen „Kompromiss“ mit CGT und FO einzufädeln * Nächste Mobilisierungsdaten: 05. Juli d.J., 09. und 10. Juli sowie „Tag X“; und Pläne für September…
Paris, am gestrigen Abend gegen 22 Uhr. Am Rande der place de la République fahren lange Kolonnen im Blaulichtgewitter entlang und in Richtung Süden davon. Auf fünfzehn Mannschaftsbusse der Bereitschaftspolizei CRS folgen nochmals fünfzehn Busse der Gendarmerie nationale (Erstere untersteht dem französischen Innen-, Letztere dem Verteidigungsministerium). Es handelt sich um den Abzug der starken Einsatzkräfte, die zuvor rund um das nahe des Platzes gelegenen Gewerkschaftshaus – die Bourse du travail, wörtlich „Arbeitsbörse“ – stationiert worden waren.
Am gestrigen Dienstag Vormittag gegen 11 Uhr fing es an: Seit circa zehn Uhr tagte eine AG des luttes (ungefähr: Vollversammlung der kämpferischen Sektoren) im Pariser Gewerkschaftshaus in der rue Château d’Eau. Es ging darum, für die am Nachmittag stattfindende Demonstration gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ den cortège de tête („Kopfblock“), vorzubereiten. Also den ebenso schwarzen wie bunten Block, der inzwischen regelmäßig der offiziellen Demospitze mit den prominenten Vertreter-inne-n der Gewerkschaftsvorstände vorausgeht. Dieser „Spitzenblock“ ist im Laufe der sozialen Bewegung dieses Frühjahrs bei den Pariser Demos auf i.d.R. zwischen 1.000 und 3.000 Menschen angeschwollen. Es handelt sich um eine der Neuerscheinungen der diesjährigen Sozialproteste.
Doch im Laufe des Vormittags umstellten starke Polizeikräfte das Gewerkschaftshaus. Die drinnen Versammelten (unter ihnen viele Gewerkschaftslinke) konnten nicht nach draußen, oder, wie einige Zeit später verlautete, nur unter Auflagen: Personalienfeststellung und Durchsuchung. Dies wurde durch die Betreffenden jedoch abgelehnt. Daraufhin harrten rund 200 Personen im Inneren des Gewerkschaftshauses aus; unter ihnen auch Prominente wie der CGT-Gewerkschafter aus dem dichtgemachten Werk von Continental, Xavier Mathieu, und der kritische Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon.
Am Spätnachmittag gesellten sich ihnen mehrere Hundert Menschen hinzu, die zum Teil an der 14-Uhr-Demonstration teilgenommen hatte, zum Teil aber auch direkt zum Gewerkschaftshaus kamen. Gegen plus/minus 18 Uhr wurde die unmittelbare Blockade des Gebäudes aufgehoben, Menschen konnten faktisch hinein- und hinauskommen. Zuvor hatten sich Hunderte von Menschen um den Polizeiring herum versammelt. Kurz darauf begann im überfüllten Erdgeschoss-Saal des Gewerkschaftshauses eine „Vollversammlung der Kämpfe“ mit über 500 Menschen. Leider kam es aus diesem Anlass auch zu kleinen Polemiken mit Menschen von der nahe gelegenen place de la République, da die dortige Vollversammlung der Platzbesetzerbewegung Nuit debout – deren Wortführer/innen ihrerseits alle am Protest beteiligten Kräfte eben dorthin einluden – gleichzeitig sehr personalschwach blieb. Kleinere Rivalitäten bleiben eben nicht aus.
Polizei und Gendarmerie rückten jedoch erst nach 22 Uhr ab. Zuvor hatten die Teilnehmer/innen an der Vollversammlung „drinnen“ über eine eventuelle Besetzung des Gewerkschaftshauses und ihre Modalität diskutiert. Nur eine relativ kleine Minderheit wollte dieses Vorhaben jedoch letztendlich durchziehen, denn dadurch hätte man es sich nicht nur mit den Gewerkschaften verscherzt – es stellte sich zudem die Frage, welchen Sinn es mache, Tag und Nacht im Inneren eines Gebäudes verharren zu müssen, um dieses „zu halten“. Man drohte sich davon eher vom äußeren Geschehen abzuschneiden, statt produktiv zu ihm beizutragen. Gegen 21.30 Uhr löste sich die Versammlung de facto auf. Zuvor hatte sie aber noch einige Mobilisierungsdaten verabschiedet (siehe unten).
Noch zur Belagerung des Gewerkschaftshauses, siehe dazu an Dokumenten:
- eine Stellungnahme des (eher linken) Pariser Kreisverbands der CGT: https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=814401791994325&id=346594778775031
- eine Stellungnahme der Union syndicale Solidaires: https://www.solidaires.org/Communique-de-Solidaires-Paris-suite-la-repression-policiere-autour-de-la-manif
- den Erlebnisbericht einer Solidaires-Gewerkschafterin, die sich der Personalien-Aufnahme unterzog und bis auf die Unterwäsche durchsucht wurde: http://danactu-resistance.over-blog.com/2016/06/bourse-du-travail-temoignage-d-une-manifestante-fouillee-palpee.html
- eine Photoreportage der linksliberalen Tageszeitung Libération: http://www.liberation.fr/france/2016/06/28/a-paris-la-police-a-encercle-la-bourse-du-travail_1462671
- einen Artikel der, eher progressiven, Onlinezeitung Mediapart: https://www.mediapart.fr/journal/france/280616/paris-premier-nassage-d-une-bourse-du-travail
- eine Radiosendung mit Text & Ton dazu: http://la-bas.org/spip.php?page=player&id_document=37046
Um circa 14 Uhr hatte unterdessen andernorts in Paris, an der place de la Bastille, die nachmittägliche Demonstration begonnen – an der teilzunehmen, die Menschen im Inneren des Gewerkschaftshauses abgehalten wurden. (Der Verfasser dieser Zeilen nahm erst an der Demonstration teil und am Spätnachmittag dann an dem Menschenauflauf rund um das Gewerkschaftshaus, der seinerseits die Polizei einzukreisen versuchte.)
„Trotz allem“ gab es auch bei dieser Demonstration einen, rund eintausendköpfigen, schwarz-bunten „Spitzenblock“. Rund um den Bastille-Platz waren erneut drastische Zugangskontrollen zu verzeichnen. Ferner hatten die Behörden, auf poliziliche bzw. innenministerielle Anordnung hin, die gesamte Métro-Linie 5 in Nord-Süd-Richtung von der Bastille-Platz ab bis zur place d’Italie (der Enthaltestelle im Süden, wo zudem die Demo ankommen sollte) lahmgelegt. Eine Anreise per Métro war also vom Auftaktort bis zum Abschlusspunkt nicht möglich, sondern die Menschen mussten Umwege gehen und sich zu Fuß zur Demo bewegen, was eine leichtere polizeiliche Kontrolle der Menge gewährleisten sollte. Entlang der Route waren viele Seitenstraßen, etwa entlang des boulevard de l’Hôpital, der zur place d’Italie führt, mit großflächigen Absperrgittern und Plexiglasscheiben dichtgemacht.
Insgesamt waren an dem Tag 2.500 Polizisten im Einsatz, das ist ein neuer Rekord (jedenfalls für eine gewerkschaftlich unterstützte Demo in Paris). Am vorigen Donnerstag, den 23. Juni waren es 2.000 gewesen, damals bereits ein Rekord.
Die Teilnahme betrug nach realistischer Einschätzung rund 30.000 Personen. (Auf folgender Grundlage: Dauer des Vorbeiziehens kurz vor Erreichen der place d’Italie – fünfzig Minuten, aber mit einer Breite von rund dreißig Personen pro Reihe.) Unsere Zählung vom vergangenen Donnertag, den 23. Juni erreichte rund 35.000.
Die CGT sprach am vorigen Donnerstag offiziell von „60.000“, am gestrigen Dienstag von „55.000“ Teilnehmer/inne/n. Die Polizei machte wie üblich niedrigere Angaben und bezifferte die Teilnehmerzahl am vergangenen Donnerstag auf „19.000 bis 20.000“, gestern hingegen von „14.000 bis 15.000“. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/06/28/97002-20160628FILWWW00230-loi-travail-55000-manifestants-a-paris-fo-cgt.php . Dass die Angaben beider Seiten auseinander klaffen und keine davon wörtlich zu nehmen ist, entspricht einem altbekannten Ritual…)
Bezogen auf ganz Frankreich sprach das französische Innenministerium von „64.000“, die beteiligten Gewerkschaften sprachen dagegen von „200.000“ Demonstrierenden. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr/economie/emploi/carriere/vie-professionnelle/droit-du-travail/direct-nouvelle-journee-de-manifestation-contre-la-loi-travail_1521251.html )
Als vorläufiges Fazit lässt sich festhalten, dass die Mobilisierung in Paris auf quantitativ eher hohem Niveau bleibt, aber auf gesamtfranzösischer Ebene eher die Zunge heraushängen lässt.
In Paris kam es rund rund dreißig Festnahmen (unter ihnen wohl ein Deutscher aus Berlin). Zwei Verletzte sah der Verf. mit eigenen Augen, möglicherweise hat es mehr gegeben. Sachschäden waren entlang der Demo-Route keine nennenswerten zu verzeichnen. (Dagegen zerstörten Leute, die mutmaßlich mit der Protestbewegung zusammenhängen, an der place de la République die neuen Reklametafeln, welche durch die – ansonsten zu Recht kritisierte – Werbefirma J.-C. Décaux wohl im Auftrag des Pariser Rathauses dort aufgestellt worden waren. In diesem Falle enthielten die rund zehn Werbetafeln allerdings Plakate mit individuellen Lebenszeugnissen von Flüchtlingen, von vor kurzem nach Frankreich Geflüchteten. Viele hatten inständig gehofft, dass niemand sich trauen würde, gerade diese zu zerstören. Aber wie in den meisten Menschenmengen, gibt es auch in dieser Protestbewegung Vollidioten, die dümmer sind als ihre Zehennägel…)
Weitere Aussichten
Und wie wird das Wetter sonst noch?
Am heutigen Mittwoch und morgigen Donnerstag (29. und 30. Juni) empfängt Premierminister Manuel Valls die Gewerkschaftsverbände, unter ihnen die die Proteste mittragenden Dachverbände CGT und FO. (Dagegen ist die Union syndicale Solidaires nicht auf nationaler Ebene als représentatif, also ungefähr „tariffähig“, anerkannt und wird also bei solchen Anlässen nicht eingeladen.)
Als „Kompromiss“versuch der Regierung deutet sich an, dass diese „anbieten“ wird, zwar keine zentralen Bestimmungen an dem Gesetz zu ändern – aber den Branchenverbänden eine Rolle bei der, sagen wir, kritischen Begleitung der künftigen Vereinbarungen auf Unternehmensebene einräumen wird. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr/economie/emploi/carriere/vie-professionnelle/droit-du-travail/info-francetv-info-loi-travail-ce-que-le-gouvernement-va-proposer-aux-syndicats-mercredi_1522003.html )
Das Gesetzesvorhaben bezweckt u.a., Kollektivverträge auf Unternehmensebene insbesondere zu den Arbeitszeiten (ihrer Ausdehnung und „Flexibilisierung“) zu begünstigen. Abkommen mit Minderheitsgewerkschaften, das wird in der Regel besonders die CFDT betreffen, sollen erleichtert werden. Dies Alles soll bestehen bleiben. Aber die Gewerkschafts- und Arbeit„geber“verbände auf Branchenebene sollen jeweils Kommissionen einrichten dürfen, die dann den Verhandlungs„partnern“ in den Unternehmen Empfehlungen aussprechen können. Zweck des Ganzen wäre es insbesondere, den Gewerkschaftsverbänden zu erlauben, Einspruch zu erheben, wenn ihre Ableger in den einzelnen Betrieben „Mist bauen“. Nur: Das mag zwar innerhalb der CGT oder innerhalb von FO einigen Sinn machen. Aber wenn die CFDT ihrerseits Vereinbarungen mit der Kapitalseite trifft, die für die Lohnabhängigen ungünstig ausfallen, dann weiß ihr Apparat in aller Regel genau, was er da tut…
Am gestrigen Dienstag, den 28. Juni verabschiedet der konservativ dominierte französische Senat („Oberhaus“ das Parlaments) seinerseits den Gesetzentwurf, den die Senatsmehrheit jedoch abgeändert hatte. An einigen Stellen wurde er z.T. erheblich verschärft, und in manchen Fällen handelt es sich um offensichtliche pure Provokationen. (So soll die Schwelle für die Einrichtung eines Comité d’entreprise, UNGEFÄHRE Entsprechung zum deutschen Betriebsrat, einfach mal von 50 auf 100 Beschäftigte angehoben werden.) Dies arbeitet jedoch dem Regierungslager in die Hände, das dadurch aufzeigen möchte, wie sehr es doch selbst für das berühmte „kleinere Übel“ stehe.
Am Dienstag, den 05. Juli kommt der Entwurf in die französische Nationalversammlung zurück – in das „Unterhaus“ des Parlaments, das bei abweichenden Voten beider Kammern im Endeffekt das letzte Wort hat.
An diesem Tag gibt es bereits einen Aufruf für einen neuerlichen gewerkschaftlichen „Aktionstag“ mit Demonstrationen (es wird der zwölfte in Folge sein), die die CGT im Laufe des gestrigen Tages veröffentlichte.
Auch die „Vollversammlung der Kämpfe“, die am gestrigen Abend im Pariser Gewerkschaftshaus versammelt war, ruft nun zu Aktionen am 05. Juli auf. Ferner ruft sie nun zu einem Aktionswochenende, mit einer Demo der „kämpferischen Sektoren“ am Samstag und einem Treffen am Sonntag, für den 09. und 10. Juli auf. Und am „Tag X“ – dem der drohenden endgültigen Annahme des Gesetzentwurfs in dritter Lesung, vielleicht rund um den 13. Juli – sollen die Menschen spontan in Richtung Nationalversammlung strömen.
Um den Druck aufrecht zu erhalten, ist an eine neue Zentraldemonstration im September d.J. gedacht (doch, ja, es hat bereits Gesetze gegeben, die nach ihrer Verabschiedung doch wieder zurückgezogen werden mussten). Zuvor wird es am 02. September 16 eine Aktion gegen das Bundesarbeitsministerium in Berlin geben, die auch ein Genosse von Blockupy Berlin am gestrigen Abend im Pariser Gewerkschaftshaus vorstellte. Auch dazu soll es französische Unterstützung geben, etwa mit gleichzeitig Aktionen.
- Siehe frühere Berichte von Bernard Schmid und weitere in unserer Rubrik Internationales » Frankreich » Politik » Widerstand gegen das neue Arbeitsgesetz 2016