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EU-Gleichschritt: Für Flüchtlinge aktiv sein ist ein Verbrechen. Auch in Ventimiglia an der italienisch-französischen Alpengrenze
Dossier
Ein Urteil in Frankreich, ein Untersuchungsverfahren in Italien. Zwei Länder, ein Gedanke, eine Politik: Wer sich für Flüchtlinge einsetzt ist kriminell. Nicht nur im mörderischen Wassergraben der EU oder bei ihren libyschen Söldnern, sondern auch innerhalb der Festung Europa, an der italienisch-französischen Alpengrenze. Soziales Engagement und Selbstorganisation sind ohnehin Erscheinungen, die innerhalb der EU immer mehr attackiert werden – und wenn das auch noch den Krieg gegen Flüchtlinge betrifft, muss heutzutage gehandelt werden, dafür gibt es die (Klassen)Justiz. Siehe zur Repression gegen Aktivisten weitere Beiträge aus Italien und Frankreich:
- Priester Mussie Zerai vom Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise freigesprochen
„Am 26. Mai 2022 wurde der Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise gegen den Priester Mussie Zerai fallen gelassen, nachdem fünf Jahre lang in Italien gegen ihn ermittelt wurde. Zerai, der selbst als Jugendlicher aus Eritrea flüchtete, ist seit Jahrzehnten daran beteiligt, Flüchtende in lebensbedrohlichen Situationen auf See oder in Gefängnissen und Haftlagern zu unterstützen. Dafür wurde er sogar im Jahr 2015 für den Friedensnobelpreis nominiert und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Luzern. Sein Einsatz inspirierte außerdem die Gründung des Alarmphones, einer Notrufnummer für Flüchtende in Seenot. Dass wegen dieser Arbeit fünf Jahre lang gegen Zerai ermittelt wurde, erscheint wie eine grausame Verdrehung der viel zitierten europäischen Werte. Es ist jedoch bei Weitem kein Einzelfall. Die EU versucht mit allen Mitteln, unerwünschte Migrant:innen fernzuhalten…“ Aus dem Artikel von Sarah Spasiano vom 07.06.2022 beim Migazin („„Illegale Einreise“ & „Schlepperei“: Freisprüche und Hoffnung für kriminalisierte Migrant:innen“) - [Bericht aus Ventimiglia von der italienisch-französischen Grenze] Illegale Push-Backs: „Was geht hier eigentlich mitten in Europa?“
„Die Stadt Ventimiglia nahe der französisch-italienischen Grenze ist ein Migrationshotspot in Europa. Tagtäglich gibt es illegale Push-Backs durch die französische Grenzpolizei, bei der Menschen am Grenzübertritt gehindert, eingesperrt und nach Italien abgeschoben werden. Durch verstärkte Kontrollen an der Grenze, neue transnationale Polizeikooperation und COVID-Restriktionen gelingt immer weniger Menschen die Weiterreise nach Frankreich. So steigt der Druck in der Kleinstadt an der Grenze, wo Schleuser*innen und Menschenhändler*innen mit dem Leid und der Frustration der Menschen Geschäfte machen. Wir sprechen mit zwei Aktivist*innen der Gruppe Kesha Niya, einer unabhängigen Graswurzelorganisation, die in der italienisch-französischen Grenzregion solidarische Arbeit mit Migrant*innen leistet.“ Sendung von Radio Dreyeckland vom 7. April 2021 (Audiolänge: ca. 14 Min.) - Die Fluchtroute über die Alpen: Solidarität mit einem italienischen Unterstützungsprojekt
Der „Checkpoint“ Ventimiglia an der italienisch-französischen Alpengrenze war immer wieder Thema beim Widerstand gegen die Repressionswelle gegen jegliche Migration, vor allem seitdem Frankreich 2015 die Grenzkontrollen wieder eingeführt hat – und heute selbst in Wäldern Überwachungskameras einsetzt. Im Susa-Tal, wo auch auf italienischer Seite okzitanische Geschichte den Mythos der Nationalstaaten (eigentlich) gefährdet, landen viele auf der Flucht – und nicht wenige von ihnen denken zunächst, sie seien bereits in Frankreich. Von dort abgewiesen, lauern Gefahren – im letzten Winter sind drei Menschen auf der Flucht erfroren. Dagegen haben sich Initiativen gebildet, die unter anderem die Casa Cantoniera betreiben, ein Zufluchtsort im lange Jahre verfallenden früheren Haus der Straßenmeisterei. In dem Beitrag „Migration in the Alps – a call-out for volunteers“ von Dick Gherkin and @_Partigiana am 25. Januar 2019 bei realmedia wird nun dazu aufgerufen, dieses Projekt mit freiwilliger Arbeit zu unterstützen. Ex Casa Cantoniera Occupata di Oulx braucht vor allem weitere Helferinnen und Helfer und politische Unterstützung gegen die Hetzkampagnen von Regierungen und Medien. (Alle weiteren Infos, wie Adresse, E-Mail-Adresse etc. im Betrag) – siehe zum Hintergrund auch unser Dossier Italienische Flüchtlingspolitik
- Französische Verfassungsrichter: „Fraternité“ hat Gesetzeskraft, Hilfestellung für Papierlose ist demnach legal
„Mit einem weitreichenden Grundsatzurteil haben Frankreichs oberste Verfassungshüter den Helfern von Geflüchteten den Rücken gestärkt: Der Verfassungsrat in Paris erklärte am Freitag, Aktivisten dürften nicht länger wegen humanitärer Hilfe für illegal Eingewanderte verurteilt werden. Dies widerspreche dem französischen Prinzip der »Brüderlichkeit«. Die Regierung hat nun bis Anfang Dezember Zeit, das Strafgesetzbuch zu ändern. (…) Der Anwalt des bekannten französischen Geflüchtetenhelfers Cédric Herrou nannte das Urteil einen »immensen Sieg«. Der Landwirt war im vergangenen Jahr zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er Asylsuchenden im Grenzgebiet zu Italien geholfen hatte. Auch Präsident Emmanuel Macron hatte Flüchtlingsorganisationen mehrfach vorgeworfen, sie trügen zur »illegalen Einwanderung« bei“ – aus der Meldung „Verfassungsrat stärkt Flüchtlingshelfern den Rücken“ am 06. Juli 2018 in neues deutschland online , worin auch – einmal mehr – die Gesinnungsgleichheit zwischen dem französischen Präsidenten und rechtsradikalen italienischen Ministern und diverser größerer und kleinerer Regierungskoalitionen anderer EU-Staaten deutlich wird. Siehe dazu zwei weitere aktuelle Beiträge zu verschiedenen Aspekten der Bedeutung dieses Urteils:- „In Grenzen brüderlich“ von Hansgeorg Hermann am 09. Juli 2018 in der jungen welt verweist unter anderem abschließend darauf: „Die amtlich geschützte Brüderlichkeit betrifft aber nur Aktionen auf niedrigem Niveau, etwa die Begleitung eines »illegal« eingereisten Menschen zum Krankenhaus oder zur Asylbehörde. Wer aber einem vor Krieg, Folter oder Hunger geflohenen Menschen über die Grenze ins Land hilft, wer ihn aus dem Meer rettet und den »Irregulären« an Land bringt, riskiert auch künftig den Konflikt mit der Justiz. Innenminister Gérard Collomb stellte noch am Freitag klar: Der »Schutz öffentlicher Ordnung und die Legitimität des Staates« seien nicht in Frage gestellt, die restriktive Politik der Regierung von Präsident Emmanuel Macron sogar »gestärkt« worden.“
- „Hilfe für Migranten: „Brüderlichkeit“ und öffentliche Ordnung“ von Thomas Pany am 08. Juli 2018 bei telepolis skizziert den Gang der Auseinandersetzung um die Bedeutung des Verfassungsgebits „Brüderlichkeit“: „Der Streitbegriff dazu lautet „Delikt der Solidarität“ und enthält den Vorwurf, dass der Gesetzgeber ein Verhalten bestraft, das letztendlich auf Solidarität gründet. Aufgekommen ist der Begriff angeblich schon 1995 durch eine Gruppe, die Migranten unterstützt: Groupe d’information et de soutien des immigrés (Gisti). Im Mai 2003 gab es dazu ein Manifest, in dem erklärt wird, dass man Fremden geholfen haben, die sich illegal in Frankreich aufhalten und dass man fest entschlossen sei, diese Hilfe fortzusetzen. Am Ende kommt der Schlüsselsatz, der zum polemischen Begriff „Delikt der Solidarität“ für Aktivitäten geführt hat, die von der einen Seite als Hilfe verstanden werden und von staatlicher Seite als Straftat: „Wenn die Solidarität ein Delikt ist, dann verlange ich, dass ich für dieses Vergehen verfolgt werde“, heißt es im Manifeste des délinquants de la solidarité. Aus Sicht der zivilen Organisationen und Personen, die sich diesem Manifest angeschlossen haben oder ihm nahestehen, bedeutet die Entscheidung der Verfassungswächter viel Rückenwind, weil die Solidarität über den Rückgriff auf den traditionellen Begriff der Brüderlichkeit aus der französischen Revolution und der ersten Republik sehr hoch veranschlagt wird. Wie sich das dann im Streit darüber, ab wann NGOs oder andere Hilfsorganisationen dem kriminellen Schleusergeschäft zuarbeiten, bemerkbar machen wird, wird sich erst zeigen. Für den Gesetzgeber haben die Verfassungsweisen die oben angedeutete Auflage gemacht, bis zum 1. Dezember dieses Jahres das Gesetz zu ändern, das ab diesem Zeitpunkt in der bisherigen Form außer Kraft gesetzt wird. (…) Allerdings betont der Verfassungsrat auch, dass seine Entscheidung keine Unterstützung für die illegale Einreise von Migranten sein soll und auch nicht in die Befugnisse des Gesetzgebers eingreifen will oder kann…“
- Das Freiluft-Gefängnis von Ventimiglia: Ein Hotspot migrantischen Widerstandes, nicht nur in Italien
Italien will seinen EU-Auftrag erfüllen, das Mittelmeer als Wassergraben gegen Fluchtbewegungen aufzurüsten. Eine Vorgehensweise dabei: Terror pur. Die Flüchtlinge in Ventimiglia, an der Grenze zu Frankreich werden in einer Art Freiluft-Gefängnis unter einer Brücke, am Flussufer fest gehalten: Sie wollen sich zumeist hier nicht registrieren lassen, also auch nicht hier bleiben. Der Stadtrat in seiner tiefen Menschlichkeit hat ihnen die einzige Wasserversorgung unterbrochen, weswegen sie gezwungen sind, mit dem dubiosen Flusswasser zu leben. Von der Polizei in eine unsichtbare Ecke abgedrängt und permanent kontrolliert. Es handelt sich zumeist um Menschen aus dem Sudan: Eines der vielen Länder, deren Diktaturen im Zuge des Krieges der EU gegen Flüchtlinge demokratisiert wurden. Was die Klassifizierung betrifft, natürlich nur: Ein sicheres Land eben, kein Grund zur Flucht. Wo die Menschen auch nachts auf die Straße gehen können, im Gegensatz zu deutschen Städten. An das bisschen Krieg und ab und zu erschossen werden, haben „die“ sich doch längst gewöhnt. „Striking the Border. Migrants’ Daily Struggles from Ventimiglia to the World“ von Lorenzo Delfini am 07. Oktober 2017 bei der Transnational Social Strike Platform ist ein Beitrag über den alltäglichen Widerstand, der sich in diesem Lager und darum herum entwickelt hat: Wie sie etwa darum kämpfen, die französische Grenze zu überschreiten – oder, nach Süditalien deportiert, wieder hierher zurück kommen… - „Ein Held des zivilen Ungehorsams“ von Axel Veiel am 09. August 2017 in der Frankfurter Rundschau online berichtet über das Urteil gegen Cédric Herrou und seine Aktivitäten: „Am Dienstag hat ein Gericht in Aix-en-Provence den Bauern zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Die Richter befanden, er habe 200 an der italienisch-französischen Grenze gestrandeten Flüchtlingen zur illegalen Einreise verholfen. In erster Instanz war Herrou noch mit 3000 Euro Geldstrafe auf Bewährung davongekommen. Der Mann, der in Nizza „unter Schwarzen und Arabern aufwuchs“, wie er sagt, bevor er sich in die hinter der Stadt aufragenden Seealpen absetzte, steht zu seinen Taten. Mit dem Kleinbus pflegt er das Roya-Tal entlang zu fahren und Flüchtlinge einzusammeln, die am italienisch-französischen Grenzübergang aufgehalten wurden und sich auf Gebirgspfaden nach Frankreich durchzuschlagen versuchen. Manchmal fährt er auch ins italienische Ventimiglia, wo gestrandete Flüchtlinge unter einer Autobahnbrücke hausen“.
- „Cédric Herrou réagit à sa condamnation“ am 08. August 2017 bei L’Humanité ist die Dokumentation der Erklärung des Aktivisten nach dem Urteil gegen ihn, worin er unterstreicht, weder linksradikal noch ein „No Border“ Aktivist zu sein, sondern für seine Person festhält: „Ich habe nicht die Wahl, ob ich solche Aktivitäten fortsetze oder nicht. Ich muss es tun“.
- „Italien: Ermittlungen gegen Flüchtlingsretter Zerai“ von Anna Maldini am 11. August 2017 in neues deutschland online , worin es zur Jagd auf den früher als Kandidaten für den Friedensnobelpreis „gehandelten“ Priester einleitend heißt: „Im sizilianischen Trapani wird italienischen Medienberichten zufolge gegen den eritreischen Priester Don Mussie Zerai ermittelt. Der Mann, der seit Jahren in Italien lebt, wird beschuldigt, die »illegale Einwanderung« begünstigt zu haben. »Don Moses«, wie er von den Flüchtlingen genannt wird, war vor zwei Jahren Kandidat für den Friedensnobelpreis – eben weil er Migranten hilft. Die Staatsanwaltschaft bestätigte die Berichte am Donnerstag auf Anfrage zunächst nicht. Wie schon beim Fall der deutschen NGO Jugend Rettet scheinen die Anschuldigungen gegen den katholischen Priester auch dieses Mal von zwei Wachleuten auszugehen, die auf einem Schiff der Hilfsorganisation Save the Children arbeiten. Die beiden, das haben die Ermittlungen bereits ergeben, haben wohl Kontakte zur rechtsextremen Identitären Bewegung. Diese haben es sich zur Aufgabe gemacht, Europa gegen die angebliche »Flüchtlingsinvasion« zu verteidigen. Sie sollen ausgesagt haben, dass Don Zerai gemeinsame Sache mit Schleuserbanden macht und mit ihnen in irgendwelchen »geheimen Internetchats« Informationen austauscht. »Alles Verleumdungen«, wies Mussie Zerai am Mittwoch die Vorwürfe zurück“.
- „Angeblich Beihilfe zur Schlepperei“ am 10. August 2017 in der taz online ist eine dpa-Meldung zum Vorgang, in der zu den Aktivitäten Zerais kurz berichtet wird: „Zerai lebt in der Schweiz und stammt aus Eritrea. Er kam Anfang der 90er Jahre als Flüchtling nach Italien. Unter Migranten und Flüchtlingen ist er spätestens bekannt, seit er Anrufe von Menschen entgegennimmt, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. „Ich leite die Meldungen weiter an die Seenotrettungsleitstelle der Küstenwache in Rom, an die maltesische und schließlich auch an die NGOs wie Ärzte ohne Grenzen, Sea Watch, Moas und (das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) UNHCR“, sagte Zerai der Zeitung La Repubblica“.