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Frankreich vor den Neuwahlen: Rechte Partei Rassemblent National auf dem Weg zur Macht – kann der (gewerkschaftlich unterstützte) „nouveau front populaire“ sie aufhalten?

Dossier

FrontPopulaire in Frankreich 2024: VEREINT, UM ZU GEWINNEN (Grafik von Dugudus)In Frankreich löste Staatspräsident Emmanuel Macron am Abend des 09. Juni 24, eine knappe Stunde nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse aus der Europaparlamentswahl, die Nationalversammlung – d.h. das „Unterhaus“ des französischen Parlaments – auf und ordnete Neuwahlen keine drei Wochen danach auf. Deren erste Runde findet am 30. Juni dieses Jahres, die Stichwahl im zweiten Durchgang am 07. Juli statt. Dahinter steht das Vorhaben, die extreme Rechte an der politischen Macht zu „testen“ und gegebenenfalls in knapp drei Jahren wieder aus dem Sattel zu werfen. Zugleich ging es klar darum, das Heranwachsen einer anderen, insbesondere linken Alternative zu verhindern. Dementgegen schafften es die ansonsten ziemlich auseinanderstrebenden linken Parteien jedoch, sich schon in den 48 Stunden nach der Auflösung der Nationalversammlung auf eine Wahlbündnis, später auf eine gemeinsame Programmatik zu verständigen. Und die Gewerkschaften dabei? Und soziale Bewegungen? Und die antifaschistisch motivierten Proteste…? Ausführlicheres dazu in geplanten mehreren Teilen (siehe auch die (Grund)Informationen ganz unten im Dossier) und nun den Teil 2 der Artikelreihe von Bernard Schmid: Bedtime for democrazy?! New

Frankreich vor Neuwahlen (Teil 2): Bedtime for democrazy?! New

Frankreich: Plakat bei der antifaschistischen und feministischen Demo am 16.6.2024 in Paris (Foto Bernard Schmid)

Frankreich: Plakat bei der antifaschistischen und feministischen Demo am 16.6.2024 in Paris (Foto Bernard Schmid)

… und Weckzeit dann zwischen 09.33 Uhr und 09.39 Uhr? – Scherz beiseite: Die französischen Neofaschisten scheinen kurz vor dem Regierungseintritt zu stehen. Vorausgesetzt, die französischen Parlamentswahlen an den kommenden beiden Sonntagen (30. Juni und 07. Juli d.J.) bestätigen, was die Umfragen voraussagen. Spontanproteste fanden bereits in den ersten Tagen nach dem Ausgang der Europarlamentswahlen und der gleichzeitigen Auflösung der französischen Nationalversammlung durch Staatspräsident Emmanuel Macron am 09.06.24 statt. Größere Demonstrationen gab es vor allem am darauffolgenden Samstag, den 15. Juni, mit Abstrichen auch am Sonntag, den 23. Juni in Paris und weiteren französischen Städten. Am Montag dieser Woche – 24.06.24 – verkündete der rechtsextreme Spitzenkandidat Jordan Bardella nun auch sein Wahlprogramm an. Deswegen auch wurde dieser, ursprünglich für Montag angekündigte Artikel auf heute verschoben…

Es ist zwar noch nicht sicher, doch hoch wahrscheinlich: In Kürze, vielleiht ab Mitte Juli dieses Jahres – oder einige Zeit später, falls unklare Mehrheitsverhältnisse herrschen -, dürfte ein junger Neofaschist ins Hôtel Matignon, d.h. den Amtssitz des französischen Premierministers einziehen. Sein Name dürfte Jordan Bardella lauten. Er wird der Spitzenkandidat seiner Partei, des Rassemblement National („Nationale Sammlung“), abgekürzt RN, bei den nunmehr am 30. Juni und 07. Juli dieses Jahres stattfindenden Neuwahlen zur französischen Nationalversammlung sein. Diese um drei Jahre vorgezogene Parlamentswahl ordnete Staatspräsident Emmanuel Macron am Abend des Sonntag, den 09. Juni 24 an, infolge des Ausgangs der diesjährigen Europaparlamentswahl in Frankreich

Bei dem aussichtsreichen Spitzenkandidaten handelt es sich um den 28 Jahre jungen Parteivorsitzenden (https://jungle.world/artikel/2022/45/der-junge-aus-der-banlieue externer Link) des rechtsextremen RN. Einen jungen Mann, der seine institutionelle Karriere 2015 als parlamentarische Mitarbeiter eines gewissen Jean-François Jalkh begann. Jalkh, Jahrgang 1957, sollte zwei Jahre später – im Präsidentschaftswahlkampf 2017 – Interimsvorsitzender seiner Partei werden, die damals noch Front National (FN) hieß, des jetzigen RN, als die bisherige Parteichefin Marine Le Pen zum Elysée-Palast kandidierte. Doch dann tauchten von ihm (https://www.francetvinfo.fr/politique/front-national/front-national-rattrape-par-ses-declarations-negationnistes-jean-francois-jalkh-a-ete-remplace-par-steeve-briois_2166394.html externer Link) Aussprüche aus dem Jahr 2000 auf, in denen es um die angebliche technische Unmöglichkeit von Judenvergasungen mit Zyklon-B ging. Jalkh musste verzichten und spielt heute in der Öffentlichkeit keine politische Rolle mehr, arbeitet allerdings noch immer als Parteijurist beim RN.

Man sollte sich nicht damit aufhalten, sich oberflächlich zu beruhigen, indem man zu Leerfloskeln wie dem aus heißer Luft bestehenden, auf den früheren FN und heutigen RN jedenfalls nicht zutreffenden Langweilerbegriff des „Populismus“ (http://www.trend.infopartisan.net/trd0104/t140104.html externer Link) greift. Die Partei, um die es geht, wurde 1972 eindeutig als Bestandteil des europäischen Nachkriegsfaschismus gegründet, dank Geld und Infrastruktur des damals vergleichsweise starken italienischen Neofaschismus (https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/184221/wie-marine-le-pen-den-front-national-modernisierte/ externer Link) aufgebaut und mit dessen Symbolen ausgestattet. Dazu gehört die züngelnde Flamme in den (jeweiligen, italienischen respektive französischen) drei Nationalfarben, historisch ein Symbol für den angeblichen Aufstieg der Seele Benito Mussolinis aus seinem Sarg gen Himmel. Bis heute bildet diese Trikolore-Flamme, wenn auch in den letzten zehn Jahren mit graphischer Abwandlung gegenüber ihren früheren Grundrissen, das Parteisymbol des FN.

Insgesamt erhielt die französische extreme Rechte, nimmt man den RN und die überwiegend als Abspaltung von ihm entstandene, 2022 gegründete Partei Reconquête! (R!, „Rückeroberung!“) von Eric Zemmour zusammen, bei der diesjährigen Europaparlamengswahm in Frankreich 37 Prozent der Stimmen. (https://www.resultats-elections.interieur.gouv.fr/europeennes2024/ensemble_geographique/index.html externer Link) – Hinzuzählen könnte man auch noch die, im Unterschied zum RN für den Totalaustritt aus der Europäischen Union eintretende Liste von (https://jungle.world/artikel/2018/01/nicht-patriotisch-genug externer Link) Florian Philippot, er war bis Herbst 2017 Generalsekretär des damaligen FN, mit 0,9 Prozent; doch diese ist kaum bündnisfähig.

37 Prozent, das entspricht weitgehend dem Stimmenanteil der extremen Rechten in der Schlussphase, in den letzten Monaten der Weimarer Republik. (https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl_November_1932 externer Link) Nein, eine Gleichsetzung ist nicht möglich: Der RN tritt nicht auf wie die damalige NSDAP, er betreibt keinen massiven Straßenterror oder nur eher am Rande (https://jungle.world/artikel/1997/47/wir-schlagen-zu-und-verschwinden externer Link) sein früher paramilitärisch agierender Ordnerdienst DPS (https://jungle.world/artikel/1999/17/sicherheitspolitique-la-francaise externer Link) war 1999 Gegenstand eines zweibändigen parlamentarischen Untersuchungsberichts und schrammte damals knapp an einem Verbot vorbei. Seitdem hält er die Bälle etwas flacher.

Ansonsten trifft die Aussage zu: Die zeitgenössische extreme Rechte ist nicht der Faschismus von 1922 oder 1933. Ganz einfach, weil wir weder im Jahr 1922 noch im Jahr 1933 sind. Auch Konservative von 2024 ähneln kaum denen von vor einhundert Jahren – in noch zum Gutteil einer agrarisch geprägten Gesellschaft -, die Sozialdemokratie von 2024 ziemlich wenig der von 1924, und Kommunisten von 2024 auch kaum denen einhundert Jahre früher… Ein Auftreten wie vor einhundert Jahren würde nicht funktionieren, auch nicht bei der extremen Rechten. Und war in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ein Reservoir an Frontkämpfern aus dem erst wenige Jahre zuvor stattgefundenen Ersten Weltkrieg vorhanden, die Aufmärsche in Uniform und Marschmusik schätzten und an militärische Gewalt gewohnt waren, so wuchs auch das heutige Personal der extremen Rechten ohne Kriegserfahrung auf.

Wie alle politischen Kräfte verhält sich auch die extreme Rechte so, wie es ihr in heutigen Zeiten und unter heutigen Bedingungen Erfolg bringen kann. Dazu gehörten phasenweise auch Umsturzfantasien von Rechts, doch diese haben sich strategisch nicht bewährt. Die Strategie, die sich durchsetzen konnte, läuft auf eine parlamentarische Machteroberung oder -beteiligung hinaus.

Macrons Masterplan

Diese könnte nun ernsthaft kurz bevorstehen. Wie es dazu kam, wirft noch vielfach Fragen auf. Zu ihrer Beantwortung wurde zum Teil die römische Mythologie herangezogen. Seit dem Jahr 2017 trug Emmanuel Macron mitunter (aufgrund eines seiner damaligen Aussprüche) den Spitznamen: „Jupiter“; vgl. dazu https://jungle.world/artikel/2017/24/emmanuel-vom-jupiter externer Link)

Nun lästerte der sozialdemokratische Parteivorsitzende Olivier Faure: „Wir warteten auf Jupiter, wir bekamen Nero.“ (Vgl. https://x.com/estelle6949/status/1803321174945829333 externer Link) Unter Anspielung auf die Legende, wonach der damals (also im Jahr 64 nach unserer Zeitrechnung) regierende Kaiser Nero persönlich Feuer an Rom legte. Diese These ist historisch allerdings umstritten. (https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Brand_Roms externer Link)

Sei es, wie es sei: Auch wenn das Drehbuch unter den eigenen Augen geschrieben wird, ist man manchmal doch erstaunt, wenn es dann eintrifft – ungefähr so, wie man es vermutet hatte. So ging es in der Nacht vom Sonntag, den 09. zum Montag, den 10. Juni d.J. vielen Beobachterinnen und Beobachtern in Frankreich. Auch dem Verfasser dieser Zeilen, welcher noch vor einigen Wochen in der Öffentlichkeit (https://www.konkret-magazin.de/hefte/883-4-2024 externer Link) die These vertrat, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron plane mittelfristig, im Falle eines Machtverlusts die politische Macht tunlichst an die Rechtsextremen abzugeben. Dies im festen Glauben, diese anhand ihrer wirtschaftlichen Inkompetenz auf die Dauer vorführen zu können; und gleichzeitig im Willen, keine sonstige Alternative neben marktradikalen Wirtschaftsliberalen und Rechtsextremen (also sozusagen zwei Varianten von Sozialdarwinismus) aufkommen zu lassen. Allzu deutlich wurde in den vergangenen Monaten und Wochen, dass Macron Alles tut, um eben diese extreme Rechte zur „glaubwürdigen Alternative“ aufzubauen. So lautete eines der zentralen Angebote Macrons im Europaparlamentswahlkampf, er selbst könne sich ein Fernsehduell mit Marine Le Pen – der Fraktionsvorsitzenden des RN in der französischen Nationalversammlung – liefern. Doch diese war nicht Spitzenkandidatin, sondern Schlusslicht auf der eigenen Liste, und er selbst gar nicht Kandidat bei dieser Wahl.

Nun tritt diese Voraussage, die hinter den Kulissen auch von einigen anderen Beobachter-inne-n des französischen Politikbetriebs geteilt wurde und auch bereits vor einem Jahr im Wochenmagazin Politis formuliert worden war (https://x.com/salomesaque/status/1799941589596291187?s=03 externer Link) ungeahnt schnell zu. Um eine spontane Entscheidung handelt es sich allerdings nicht, die Entscheidung zur Auflösung der ersten Parlamentskammer – der Nationalversammlung, in welcher seit Juni 2022 nur noch relative Mehrheit, und keine absolute Mehrheit mehr vorhanden waren – wurde laut einem Bericht bei Vanity fair im kleinesten Kreis von circa zehn Macron-Beratern, das Magazin nennt die Namen, seit rund „einem Jahr“ diskutiert. Macrons politisches Unterstützerlager hat sich dadurch allerdings gewissermaßen; bzw. läuft, ähnlich wie ein geköpftes Huhn, nun kopflos herum. Abgeordnete und Minister/innen, die nun „dank“ Macron jüngst ihren Job verloren, weigern sich derzeit, mit dem Konterfei des bisherigen Stars oder Oberhaupts ihres politischen Lagers in den Wahlkampf zu ziehen. Von den meisten Wahlpublikationen der Kandidat-inn-en der Präsidentenpartei Renaissance und ihrer Verbündeten (MoDem, Horizons…) ist Macron inzwischen verschwunden, getilgt worden.

Startschuss

Am Abend des 09.06.24 gab Staatspräsident Emmanuel Macron die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen bekannt, wie zuletzt sein Amtsvorgänger Jacques Chirac im April 1997. Dessen damaliger taktischer Fehltritt handelte ihm eine Cohabitation, d.h. eine erzwungene Koexistenz zwischen einem Staatspräsidenten und einer Parlamentsmehrheit sowie einem Premierminister aus entgegengesetzten politischen Lagern, mit einer sozialdemokratisch geführten Koalitionsregierung (https://jungle.world/artikel/1997/31/jospins-versprecher externer Link) von 1997 bis 2002 ein.

Zwar verlor daraufhin dann der sozialdemokratische Spitzenmann Lionel Jospin die darauffolgende Präsidentschaftswahl 2002, übrigens erstmals gegen einen rechtsextremen Frontmann, das war damals Jean-Marie Le Pen – was seinerzeit noch Massendemonstrationen (https://jungle.world/artikel/2002/18/fehler-im-system externer Link) auslöste. Ob dies in diesem Jahr wieder so sein wird, bleibt abzuwarten; erste Spontandemonstrationen gegen den sich abzeichnenden rechtsextremen Durchmarsch an die Regierung fanden bereits am Abend des 09.06.24 auf den Pariser Plätzen place de la République und place de Stalingrade statt. Auch an den folgenden Abenden gingen sie weiter?

Macrons Strategie läuft darauf hinaus, die Rechtsextremen regieren zu lassen, abzuwarten und dann vor der nächsten Präsidentschaftswahl 2027 wieder auf der Matte zu stehen im Vertrauen darauf, diese mögen sich bis dahin blamieren. Eine gefährliche Strategie, ein Spiel mit dem Feuer.

Protesttage mit Höhepunkt am 15. Juni d.J.

Frankreich: Antifaschistische und feministische Demo am 16.6.2024 in Paris (Foto Bernard Schmid)Vorne läuft ein „schwarzer Block“, der jedoch den ganzen Tag über friedlich bleibt, jedenfalls dieses Mal ohne sinnlosen Glasbruch auskommt. Dahinter folgen die Heißluftballons der französischen Gewerkschaften, hinter denen Tausende Menschen hergehen. Am Schluss läuft ein Riesenpulk von Menschen, die buchstäblich aus der viel beschworenen „Zivilgesellschaft“ kommen, bei keiner Partei oder Gewerkschaft organisiert sind und mit selbstgebastelten Plakaten und Schildern ihrer Besorgnis über die politische Entwicklung in Frankreich – konkret, die Perspektive eines Machtantritts der 1972 als Teil des Nachkriegsfaschismus gegründeten rechtsextremen Partei Rassemblement national (le RN, „Nationale Sammlung“) – Ausdruck verleihen.

Rund 150.000 Menschen nach realistischen Schätzungen und Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen, basierend auf den Parametern Straßenbreite mal Dauer (die aufrufende Gewerkschaftsvereinigung CGT spricht daraufhin von 250.000, das Innenministerium von 75.000) demonstrierten am Samstag, den 15. Juni d.J. allein in Paris gegen diese Bedrohung. In unterschiedlichen Städten in Frankreich waren es zeitgleich wohl rund 450.000, auch hier liegen die Veranstalterangaben darüber und die Polizeizahlen, respektive „640.000“ und „250.000“, darunter.

Die stärksten Kontingente unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Protestzüge stellten die Gewerkschaften, was wichtig ist, weil diese über den Einsatz des Streikrechts verfügen können – sowohl bei Arbeitskämpfen als auch, erforderlichenfalls, bei der Verteidigung der Demokratie. Aber auch zahllose Unorganisierte demonstrierten mit. Allerdings blieb der Protest noch erheblich, erheblich unterhalb der Dimensionen, die er am 1. Mai 2002 einnahm – damals war Jean-Marie Le Pen am 21. April jenes Jahres überraschend in die vierzehn Tage später stattfindende Stichwahl um die französische Präsidentschaft eingezogen, wobei er im Unterschied zu heute keinerlei realistische Chance hatte, auch wirklich die politische Macht zu übernehmen.

An jenem 1. Mai vor 22 Jahren waren anderthalb bis zwei Millionen Menschen unterwegs. Allein in Paris waren damals, reale Zahl!, mindestens 600.000, vielleicht 700.000 Menschen unterwegs. Zur Erinnerung: Der Verfasser dieser Zeilen stand damals, mit einem zunächst sechzig bis siebzig Zentimeter Durchmesser umfassenden Flugblattstapel, eingekeilt zwischen einer Laterne und der Menschenmenge am Rande der Pariser place de la République und konnte sich dabei stundenlang weder vorwärts noch rückwärts bewegen, während die Menschenflut vorbeisuppte. Dieses Vorbeiziehen dauerte damals geschlagene sechs Stunden, während die Demonstration auf drei Routen – jeweils breiten Boulevards – parallel zueinander lief, um die Teilnehmer/innen überhaupt vom Fleck zu bekommen. Zum Vergleich: Am vorletzten Samstag, den 15. Juni 24 betrug die Dauer des Vorbeiziehens an einem fixen Ort (ebenfalls zwischen place de la République und place de la Bastille in Paris) hingegen genau zwei Stunden. Und es existierten zwei Parallelrouten – 2002 waren es drei -, wobei nur eine benutzt worden zu sein scheint, wobei die Menschen allerdings über die benutzte breite Straße hinaus auch beiderseits auf den Trottoirs vorbeizogen.

Die für fast alle überraschend kommende Nachricht vom Einzug des damaligen Präsidentschaftskandidaten Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl hatte damals, am Abend des 21. April 2002, aufrüttelnde Wirkung gezeitigt und Viele schockiert. Heute kommt die rechte Gefahr weitaus weniger überraschend, vielleicht deswegen auch einschläfernder. Wenn sich der rechtsextreme Wahlerfolg von den jüngsten Europaparlamentswahlen in Frankreich aber bei den am 30. Juni und 07. Juli stattfindenden Nationalparlamentswahlen wirklich umsetzt, dann könnten hernach möglicherweise noch einige bislang eher schlummernde Protestkräfte aufwachen.

Unterdessen speckt der RN bereits bei einigen seiner zuvor vollmundig getätigten sozialen oder pseudo-sozialen Wahlversprechen ab, um den Realitätsschock geringer zu halten, wenn sich in Kürze herausstellen sollte, dass daraus nun aber gar nichts wird. Abgerückt ist der RN so bereits in den ersten Tagen nach der Verkündung der Parlamentsauflösung und der Neuwahlen von der noch am 10. Juni vertretenen Perspektive einer Rücknahme der 2023 unter Emmanuel Macron gegen massive soziale Widerstände durchgesetzten Rentenreform – einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit um zwei Jahre. (Zum weiteren Herumeinern in just dieser Frage vgl. weiter unten.) Auch das Versprechen einer Befreiung aller unter 30-jährigen von der Einkommenssteuer wurde eingestampft. (https://www.latribune.fr/economie/legislatives-un-programme-si-couteux-que-le-rn-l-elague-999994.html externer Link) Dieses war allerdings ohnehin fragwürdig, da es den Millionärserben ebenso wie die junge Geringverdienerin begünstigt hätte. Festhalten will der RN-Anwärter auf den Premierministerposten, Jordan Bardella, dagegen am Versprechen einer Absenkung der Mehrwertsteuer auf Treibstoffpreise (Benzin und Diesel). Auch dieses, sozial unspezifische steuerpolitische Versprechen kann ebenso den umweltschädigenden SUV-Besitzer wie die prekär arbeitende Pendlerin betreffen.

Das in den Tagen nach dem 09. Juni d.J. geschlossene Linksbündnis in Gestalt des nouveau front populaire, das in Umfragen bis zum darauffolgenden Wochenende zunächst aufholte, aber auch von inneren Dissonanzen durchzogen wird, seinerseits kündigt als zentrale Punkte an, die Rentenreform von 2023, die geplante Reform der Arbeitslosenversicherung und das zum Jahreswechsel 2023/24 durch ein Stimmbündnis zwischen Macron-Anhängern, Konservativen und Rechtsextremen im Parlament verschärfte neue Ausländergesetz abzuschaffen. Der gesetzliche Mindestlohn SMIC, er liegt derzeit bei 1.398 Euro netto, soll dem gemeinsamen Wahlprogramm zufolge auf 1.600 Euro netto angehoben werden.

Brennpunkt öffentlich-rechtliches Fernsehen & Rundfunk

Eine Reihe von Berufsgruppen bereitet sich unterdessen auf die erwarteten spezifischen Auswirkungen einer rechtsextremen Regierungsübernahme oder -beteiligung in ihren Berufsfeldern vor. Stark hinter ihren Gewerkschaften mobilisiert waren am Samstag, den 15. Juni etwa die abhängig Beschäftigten bei öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten. Deren Privatisierung hat der RN in seinem Wahlprogramm angekündigt; Spitzenkandidat Jordan Bardella hat es bestätigt. (https://www.lefigaro.fr/medias/le-rn-compte-bien-privatiser-l-audiovisuel-public-confirme-jordan-bardella-20240616 externer Link) Dabei ginge es vor allem darum, die bereits bestehenden privaten Medienmonopole, deren Eigentümer in mehreren Fällen der extremen Rechten offen zuarbeiten, zu stärken.

Das gilt insbesondere für Vincent Bolloré, einen bretonischen Milliardär, der seit 2015 massiv ins Mediengeschäft einstieg – sein früheres Tätigkeitsfeld war der postkoloniale Rohstoffhandel im französischsprachigen Afrika, den er mittlerweile weitgehend abgestoßen hat – und von der Einrichtung einer Art französischen Äquivalents zum reaktionären Sender „Fox News“ in den USA träumt. Der durch Bolloré betriebene französische Fernsehkanal CNews hat vor kurzem unter den sogenannten chaînes d’info – den Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensendern – den ersten Platz erobert und den liberalen Privatsender BFM TV überholt. (https://www.lemonde.fr/economie/article/2024/06/03/audiences-tv-comment-cnews-est-parvenue-a-depasser-bfm-tv_6237116_3234.html externer Link) Der Sender CNews, der früher auch den rechtsextremen Ex-Präsidentschaftskandidaten (2022) Eric Zemmour als Kommentator beschäftigte, erhielt mehrmals Geldstrafen (https://www.ouest-france.fr/politique/eric-zemmour/eric-zemmour-et-cnews-condamnes-pour-des-propos-visant-la-deputee-lfi-daniele-obono-76b06d62-c5cb-11ee-8011-b976796527e7 externer Link) wegen hetzerischer Sprüche aufgebrummt. Bolloré wurde durch Macron vor seinem Beschluss zur Parlamentsauflösung vorab informiert – und er wurde durch den konservativen Parteichef Eric Ciotti am Montag, den 10. Juni (https://www.lemonde.fr/politique/article/2024/06/13/comment-eric-ciotti-a-orchestre-avec-vincent-bollore-l-annonce-de-son-ralliement-au-rn_6239404_823448.html externer Link) konsultiert, bevor jener am 11. Juni überraschend sein Wahlbündnis mit der extremen Rechten offiziell ankündigte. Eine solche Allianz wird durch Bollorés Sender seit längerem (https://www.lemonde.fr/politique/article/2024/06/16/legislatives-2024-comment-les-medias-de-vincent-bollore-orchestrent-l-alliance-du-rn-et-de-la-droite_6240508_823448.html externer Link) propagiert. Ihre Hetze könnte künftig regierenden Rechtsextremen als Instrument zur Beeinflussung der Massen dienen.

Auch im Bildungswesen bereiten sich Beschäftigte auf intensiven Widerstand gegen eine rechtsextrem geführte Regierung vor. Vierzig Führungskräfte im Bereich des Bildungsministeriums haben bereits ihren „Ungehorsam“ für einen solchen Fall (https://www.aefinfo.fr/depeche/713849-nous-n-obeirons-pas-des-cadres-de-l-education-nationale-se-mobilisent-contre-l-extreme-droite externer Link) angekündigt. Eine entsprechende Petition wurde inzwischen durch 2.000 Personen unterzeichnet. Und aus dem Gesundheitswesen gibt es unterdessen einen in der Presse veröffentlichten Aufruf von 3.600 Beschäftigten und Führungskräften, bei den bevor stehenden Parlamentswahlen gegen den RN und für das Linksbündnis zu stimmen.

Zu den Totalausfällen des rechtsextremen Programms zählen Umwelt- und Klimaschutz – die den RN schlicht nicht interessieren, die Partei hat i.Ü. einen Baustopp für jegliche neue Windkraftanlagen angekündigt, weshalb im Wirtschaftssektor der erneuerbaren Energien nun intensive Krisenstimmung herrscht – und eben, in weiten Teilen, Gesundheitspolitik.

Programm-Pressekonferenz von Bardella am 24. Juni 24

Einen Urknall braucht es – drunter geht es nun mal nicht, denn vollmundiger, desto besser die Ankündigungen. An diesem Montag Mittag kündigte der Spitzenkandidat des rechtsextremen Rassemblement national (RN) zu den französischen Parlamentswahlen an den kommenden beiden Sonntagen, Jordan Bardella, für den Fall seines Regierungsantritts einen „Urknall der Autorität in Schule und Unterricht“ (big-bang de l’autorité à l‘école) an.

Die Einführung von Schuluniformen, die Einrichtung geschlossener Erziehungszentren für verhaltensauffällige Schüler oder Schülerinnen, das Bestehen auf dem Siezen für Lehrkräfte – geduzt werden dürfte allerdings ohnehin nur mancherorts in Kindergärten und Grundschulen – sowie Frontalunterricht statt „pädagogischer Experimente“ sollen es richten, was die Krise im Bildungswesen betrifft.

Auch soll, auf dieses Versprechen insistierte er, das so genannte Bodenrecht oder ius soli, also die Möglichkeit eines Erwerbs der französischen Staatsbürgerschaft durch Geburt im Land, solle ersatzlos abgeschafft werden. Derzeit ist der Staatsangehörigkeitserwerb durch Geburt auf französischem Territorium möglich auf Antrag der Eltern ab frühestens 13 und unter der Bedingung einer Mindesteinschulungsdauer von fünf Jahren auf französischem Boden, und automatisch im Alter von unter derselben Voraussetzung. Entgegen mancher vorheriger Aussprüche Bardellas soll hingegen die doppelte Staatsbürgerschaft nicht grundsätzlich verboten werden: Davon kehrte er ab, nachdem er in der vorletzten Woche daran erinnert worden war, seine Parteifreundin Marine Le Pen habe 2022 als Präsidentschaftskandidatin davon Abstand genommen. Damals ging es darum, vorgebliche „Mäßigung“ zu zeigen; offiziell auch darum, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass bestimmte Herkunftsstaaten wie etwa Marokko das Aufgeben ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeit rechtlich verbieten. Doch soll der Zugang von Doppelstaatsangehörigkeit zu Ämtern und Stellen im öffentlichen Dienst, Bardella nannte etwa „strategische Posten“, untersagt werden. Dies würde bedeuten, eine explizite juristische Ungleichbehandlung zwischen französischen Staatsbürgerinnen und -bürgerinnen einzuführen – eine frappierende Vorstellung.

Aufgegeben dagegen hat die Parteispitze des RN in den letzten Tagen, für den Fall ihres Regierungseintritts in nächster Zukunft, einige vor allem sozioökonomische Verspechen. Dazu zählt etwa die ausgesetzte Programmforderung nach einer Absenkung der Mehrwertsteuer auf einhundert Grundbedarfsgüter. Beibehalten dagegen werden soll die, von Bardella auf angeblich sieben Milliarden Euro jährlicher Kosten bezifferte, Mehrwertsteuersenkung für Energie und Treibstoff. Eine Maßnahme, die wohl manche Haushalte scheinbar erleichern könnte, weil die Energierechnungen seit 2021/22 erheblich stiegen, doch keinerlei soziale Komponente enthält: Da der Steuersatz von Verbrauchssteuern wie der Mehrwertsteuer (TVA) vollkommen einkommensunabhängig ist, kommt eine Senkung der die Umwelt verschmutzenden wohlhabenden SUV-Fahrerin genau so zugute wie dem prekär lebenden Berufspendler, ja sogar stärker, da höherer Verbrauch dann auch eine höhere Steuereinsparung bedeutet.

Rentenpolitik

Zur zunächst vollmundig angekündigten Rücknahme der unter Staatspräsident Emmanuel Macron angenommenen Rentenreform vom April 2023 blieb unterdessen bei der zweistündigen TV-Debatte der drei Spitzenkandidaten Jordan Bardella (RN), Gabriel Attal (amtierender Premierminister und Vertreter des Wahlbündnisses Ensemble pour la France, rund um die Präsidentenpartei Renaissance) und Manuel Bompard vom Linksbündnis am Abend des 25. Juni.J. nur noch übrig, dass jene, die im Alter zwischen 16 und 20 Jahren ins Erwerbsleben eintraten, mit sechzig Jahren und vierzig Beitragsjahren in Rente gehen können dürfen. Dies betrifft zwar in Zukunft noch einige Zehntausend Angehörigen der älteren Arbeitergenerationen, doch kaum noch jemanden in den jüngeren Generationen. Am Abend des 25. Juni antwortete Bardella auf eine Nachfrage betreffend einen Lohnabhängigen, welcher im Alter von 24 ins Erwerbsleben eingetreten sei, dieser soll künftig mit 66 und mit 42 Beitragsjahren – dies ist der jetzige Stand, welcher eingefroren werden soll, Macrons Pläne wollten auf 43 hinaus – in Rente gehen. Also im Prinzip auch nicht früher als jetzt…

Zwiebelprogramm

Der amtierende Premierminister Gahriel Attal sprach am vorigen Mittwoch, den 19. Juni diesbezüglich von einem „Zwiebelprogramm“: Das Paket an Wahlversprechungen der rechtsextremen Partei schäle sich wie eine Zwiebel, Schale für Schale werde abgenommen, „und am Schluss bleiben tränende Augen übrig“.

Dass der wirtschaftsliberale Premierminister von Präsident Emmanuel Macron deswegen in den Augen der breiten Wählerschaft selbst ein attraktiveres Wahlangebot vertritt als ohne dies, erscheint zwar derzeit höchst unwahrscheinlich. Dennoch geriet auch der RN unter Legitimationsdruck, denn einerseits steht er unter einem gewaltigen Erwartungsdruck einer Wählerschaft, die in relevanten Teilen dazu geneigt scheint, „diese Partei, die noch nie an der Macht war, einmal auszuprobieren, um endlich Veränderung zu sehen“– so lautet eine auch in den Medien verbreitete Formulierung. Und wohl auch von Seiten einer Mitgliedschaft und des Sympathisantenumfelds, die nach 52 Jahren dauernder Opposition – seit Gründung der Vorläuferpartei Front National, FN, im Jahr 1972 – nun endlich Revanche nehmen wollen. Dafür, dass man die eigene Partei nicht mitmachen ließ, wie für das in breiten Teilen der RN-Basis empfunden Gefühl der Deklassierung, des eigenen sozialen Abstiegs wie des Abstiegs Frankreichs als Nation.

Deswegen auch wird der RN, sollte er die Regierungsgeschäfte übernehmen, stärker zu mindestens symbolpolitisch einschneidenden Maßnahmen gedrängt werden als etwa die Parteigänger der „postfaschistischen“ Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni im Nachbarland Italien. Deren Vorläuferparteien, MSI und Allianza nazionale, waren in den letzten dreißig Jahren, seit der 1994 gebildeten ersteN Regierung von Silvio Berlusconi, gleich mehrfach an der Regierung beteiligt, wenn auch vor 2022 in der Juniorposition gegenüber bürgerlichen Kräften. Entsprechend konnten sie schon seit Jahrzehnten Personal im Staatsapparat und etwa in kulturellen Institutionen platzieren. Das Bedürfnis nach spektakulär aussehenden Brüchen, wenigstens in einigen Punkten, fällt da schwächer aus als im französischen Falle.

Andererseits aber ist da die Position der Kapitalverbände, die eine rechtsextreme geführte wie jede andere Regierung im Prinzip an ihrer Ausgabenkontrolle, der Begrenzung vor allem von sozialpolitischen Staatsausgaben messen werden. Inzwischen haben sich die Wirtschaftsverbände, anders als in der Vergangenheit, als sie den damaligen FN und späteren RN aufgrund seiner Neigung zum nationalen Protektionismus auch in wirtschaftlichen Belangen kritisierten, weitgehend mit einer Regierungsübernahme dieser Partei abgefunden.

Eine solche ist ihnen immer noch lieber als eine Machtbeteiligung der, ansonsten sehr unterschiedlichen doch – gerade aufgrund des drohenden Regierungseintritts des RN – in einem mutmaßlich prekären Wahlbündnis zusammengeschlossenen, Linksparteien. Auch wenn das Linksbündnis, der „neue Front populaire“ (vgl. Teil 1), inzwischen sein Programm durchrechnete und um ordnungsgemäße Finanzierungspläne bemüht war: Laut dem am vorigen Freitag vorgelegten Finanzprogramm der zumindest vorübergehend vereinten Linksparteien soll etwa die Wiedereinführung einer Vermögensbesteuerung jährlich 15 Milliarden Euro einbringen. Die unter Emmanuel Macron 2017 abgeschafft Großvermögenssteuer ISF trug jährlich nur vier bis fünf Milliarden Euro ein, doch möchten die Linksparteien Steuerflucht und -entzug stärker und effizienter bekämpfen sowie die Vermögenssteuer auf besonders umweltschädliche Besitzungen erweitern. Dies schmeckt dem Kapital selbstredend nicht – dem ist da ein ökonomisch irrational argumentierender, doch demagogisch versierter Kandidat des neuen Rechtsbündnisses aus dem RN und einem Flügel der nun definitiv gespaltenen konservativen Partei Les Républicains (LR) wie der frühere Richter Charles Prats weitaus lieber.

Prats behauptet, Abermilliarden dadurch hereinholen zu können, dass gigantische Verluste durch „Sozialbetrug“ und Einwanderung – beide fließen bei ihm in kaum unterscheidbarer Form einander -, sprich: illegitime Bedürfnisse, beendet werden könnten. Seine Rechnungen zu den angeblichen zweistelligen Milliardenverlusten durch „Sozialbetrug“, die hereingeholt werden könnten, dürften sich schnell als Milchmädchenrechnung erweisen. Dem Kapital konkret schmackhaft werden könnten hingegen Prats Forderungen nach einer Flat tax, also einem identischen Steuersatz für die gerade noch unter die Einkommenssteuer fallende Geringverdienerin und den Millionär.

Ciotti aux chiottes! (heißt: „Ciotti, geh‘ scheißen!“)

Am 20. Juni d.J. wurde Bardella zum zweiten Mal, nach seinem Vorsprechen als Kandidat bei der Europaparlamentswahl am 18. April 24, bei einer Anhörung der Wirtschaftsverbände vorstellig. Begleitet wurde er dieses Mal durch Eric Ciotti, den seit Dezember 2022 amtierenden und ideologisch in vielen Punkten seit langem den Rechtsextremen nahe stehenden Vorsitzenden der konservativen Partei LR.

Er verkündete am 11. Juni d.J. – für die meisten seiner Parteifreunde überraschend – ein Wahlbündnis in Form eines „nationalen Blocks“, ein bereits in den 1930er Jahren bei pro-faschistischen Kräften existierender Begriff, ein Wahlbündnis mit dem RN. Daraufhin wurde er durch den Parteivorstand nahezu einstimmig ausgeschlossen; für seinen Kurs stimmten lediglich die wie Ciotti ebenfalls aus Nizza stammende Kandidatin Christelle D’Intorni, Meyer Habib – der Abgeordnete der Auslandsfranzosen und langjähriger Verbindungsmann zwischen französischen Konservativen und der israelischen Rechten – sowie der Jugendvorsitzende, Guilhem Carayon. Anders als die hohen Parteifunktionäre ist die Wählerbasis jedoch stärker gespalten. Am 14. Juni setzte ein Pariser Gericht den zuvor geschassten Ciotti jedoch als Parteivorsitzenden wieder ein. Seitdem ziehen zwei getrennte Blöcke aus der Erbmasse der explodierten Formation LR in die Wahlen, einer mit dem, einer gegen den RN. Das seit Jahrzehnten mit unterschiedlichen Mitteln verfolgte (https://jungle.world/artikel/1997/36/ideologische-autonomie externer Link) strategische Ziel, die Konservativen in zwei Blöcke aufzuspalten und einen davon zum Satelliten zu machen, ist der extremen Rechten dadurch gelungen.

Dass Ciotti, was nicht erwartet worden war, ohne eigene Einladung Bardella zu dessen Termin bei den Arbeitgeberverbänden begleitete, diente vor allem auch dazu, Respektabilität gegenüber den Imperativen der Kapitaleigner und der Oberklassen zu beweisen. Ciotti teilt zwar mit den Rechtsextremen die Verachtung für das Konzept des Rechtsstaats, sofern dieser hoheitlichem Handeln des Staates Grenzen setzen könne – 2021 erklärte Ciotti, in Zeiten des Kriegs gegen den Terrorismus sei ein solches Konzept definitiv überholt – sowie eine Obsession für die „nationale Identität“, nicht jedoch ihre zu wahlpolitischen Zwecken eingesetzte soziale Demagogie. Im vorigen Jahr stimmte der RN gegen die Rentenreform unter Emmanuel Macron, die das gesetzliche Mindestalter für die Pensionierung – meist mit Abschlägen – von zuvor 62 auf zuvor 64 hochsetzte, während Ciotti diese lediglich für unzureichend hielt und ein Alter von mindestens 65 forderte.

Dass Bardella mit Ciotti gemeinsam zu dem Termin erschien, sollte ihn also wirtschaftlich verantwortungsbewusst aussehen lassen, droht jedoch zugleich, als inhaltliche Inkohärenz wahrgenommen zu werden. In der Woche zuvor hatte Bardella angekündigt, die Forderung nach Rücknahme von Macrons Rentenreform werde unter Finanzierungsvorbehalt gestellt, zuerst müsse man nach Regierungseintritt die Haushaltslage prüfen und die genaue Lage der Staatsfinanzen kontrollieren. Sein Wirtschaftsexperte Jean-Philippe Tanguy seinerseits kündigte eine „Konzertierung mit den Sozialpartnern“, was eventuell erlauben könnte, „mangels Konsens“ zwischen Arbeitgeberverbänden einerseits und Gewerkschaften andererseits die Ankündigung auf die lange Bank zu schieben.

Die Arbeitgeberverbände ihrerseits bleiben jedoch gegenüber einer potenziellen RN-Regierung grundsätzlich gespalten, da in ihren Reihen die größeren weltmarktorientieren sowie die im IT-Sektor tätigen Unternehmen der Partei eher feindlich, sehr viele mittelständische Unternehmen ihr jedoch wohlgesonnen gegenüber stehen.

Von ihrer Geschichte, die im zunächst ungeschminkten Neofaschismus beginnt, muss die Partei unterdessen kaum Abstand nehmen – so lange es erstens nicht zu Störungen der öffentlichen Ordnung kommt und zum Zweiten nicht zum sichtbaren Bekenntnis zum Antisemitismus, den ihre wichtigsten Anführer, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrzehnts zunächst Marine Le Pen und Louis Aliot, als Störfaktor bei Bündnissen mit Bürgerlichen und der Anwärterschaft auf die Machtbeteiligung erkannten. Dies im Unterschied zu ihren Vorläufern an der Parteispitze wie Jean-Marie Le Pen und Bruno Gollnisch.

Antisemitismus als kontraproduktiv betrachtet

Aus Menschenfreundlichkeit wurde diese Wendung gewiss nicht genommen, und der Wandel bleibt auch oberflächlich: Das Altbekannte darf nur nicht zu offen vorschimmern. Am Sonntag publizierten drei Journalisten von Le Monde jedoch knapp fünfzig Namen von Kandidaten zur Parlamentswahl, die sich entweder offen geschichtsrevisionistisch betätigten – wie Frédéric Boccaletti, er betrieb früher in Nizza eine Buchhandlung für Holocaustleugner-Literatur -, verschwörungstheoretisch oder aber als sichtbare Kreml-Propagandisten, auch nachdem ihre Partei offiziell vom Putin-Regime abgerückt war.

Einer von ihnen wurde am Sonntag offiziell rehabilitiert und als Kandidat wieder eingesetzt. Joseph Martin, Parlamentsbewerber in der Bretagne, war vorige Woche zunächst die Unterstützung entzogen worden, weil er bei Twitter geschrieben hatte: „Das Gas rächte die Opfer der Schoah.“

Mittlerweile konnte er dafür jedoch eine Erklärung liefern, die anscheinend befriedigte: Er habe auf diese Weise den Tod des prominentesten französischen Auschwitzleugners, Robert Faurisson, begrüßt, also eine noble Intention verfolgt.

Allerdings starb der damals 89jährige Robert Faurisson gar nicht an einer Gasvergiftung, sondern am 21. Oktober 2018 durch Herzversagen. Möglicherweise bestand ein Zusammenhang zwischen seinem Infarkt und der Störung seiner Veranstaltung am Vorabend in London. Bereits in den Stunden nach seinem Ableben vermeldete (https://www.lemonde.fr/disparitions/article/2018/10/22/le-negationniste-robert-faurisson-est-mort_5372781_3382.html externer Link) die französische Presse, Faurisson sei im Flur seines Hauses in der Stadt Vichy zusammengebrochen. Von Gasaustritt war dabei nicht die Rede. Doch selbst hätte dies gestimmt, dann bliebe der Vergleich zwischen Erdgas – wie es in Häusern zum Kochen und Heizen benutzt wird, und im Unglücksfall zu gefährlichen Kohlenmonoxid-Konzentrationen führen kann – und dem zu Tötungszwecken produzierten „Zyklon B“ mindestens haarsträubend und verharmlosend.

Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um eine Art Insider-Joke. Und so lange man bei so etwas „unter sich“ bleibt, geht es ja.

Gewalt

In mehreren Städten wie Paris, Nancy, Lyon, Angers kam es am Abend der Europaparlamentswahl oder an den darauffolgenden Abenden zu gewalttätigen Übergriffen von Rechtsextremen auf Homosexuelle und Anti-RN-Demonstranten. Die Täter kamen mutmaßlich aus außerparlamentarischen Gruppen wie dem studentisch geprägten GUD (Groupe Union Défense), dessen Altherrenclub unter Axel Lousteau – sein Sohn war an den Übergriffen in Paris beteiligt – jedoch dem RN angehört und dessen Parteifinanzen kontrolliert. Die Teilnehmer gaben dabei jeweils an, ‚den Wahlsieg Jordan Bardellas feiern‘ zu wollen. In Paris wurden dafür bereits sechs- und siebenmonatige Haftstrafen, auf und ohne Bewährung, für vier Täter verhängt.

In Montpellier demonstrierten am vorigen Samstag Hunderte Menschen gegen faschistische Übergriffe vom 1. Juni dieses Jahres. Bardella gab an, im Falle eines Wahlsiegs außerparlamentarische Gruppen ‚ultrarechter und ultralinker‘ Natur verbieten zu wollen, denkt aber erklärtermaßen auch an Antifagruppen.

LEtZTE MELDUNG DAZU: Die Regierung verkündete am heutigen Mittwoch Mittag das Verbot des soeben erwähnten GUD sowie drei weiterer, in Lyon ansässiger stiefelfaschistischer Gruppierungen:

Artikel von Bernard Schmid vom 26. Juni 2024 – wir danken!

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Frankreich kurz vor Neuwahlen – und vor dem Regierungseintritt der Neofaschisten?
Teil 1: Wie steht das linke Lager vor der Parlamentsneuwahl da?

Das Linksbündnis „Neuer Front populaire“ sammelt… von François Hollande bis zur radikalen Linken? – Antifaschistische Abwehrfront zieht das historische Kostüm des Front populaire an und einigte sich, trotz erheblicher innerer Differenzen, auf gemeinsame Programmforderungen. Auch gewerkschafliche Unterstützung dabei: Der neue Sammlungsversuch auf der französischen Linken betrifft auch die Gewerkschaften. Denn die CGT (ältester französischer Gewerkschaftsdachverband, 1895 gegründet, bei Wahlergebnissen in den Unternehmen derzeit zweitstärkster hinter der sozialdemokratisch bis sozialliberal geführten CFDT und linker als diese) ruft seit dieser Woche explizit zur Wahl des neuen Bündnisses auf. (Vgl. https://lcp.fr/actualites/legislatives-la-cgt-appelle-a-voter-pour-le-nouveau-front-populaire-que-disent-les externer Link)

Trotz massiver Differenzen vor allem in einigen außenpolitischen Fragen einigten sich die französischen Linksparteien vergangene Woche überraschend schnell auf ein Wahlbündnis und später auch auf einen programmatischen Minimalkonsens. Zwingend erforderlich wurde eine einigende Klammer dadurch, dass infolge des Ausgangs der Europaparlamentswahl in Frankreich und der noch am Wahlabend durch Staatspräsident Emmanuel Macron verkündeten (https://www.telepolis.de/features/Macrons-riskantes-Spiel-Der-Weg-fuer-die-extreme-Rechte-in-die-Regierung-9755983.html externer Link) Auflösung der Nationalversammlung – Neuwahlen finden am 30. Juni und 07. Juli d.J. statt – erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine Regierungsübernahme durch die extreme Rechte plausibel, ja wahrscheinlich erscheint.

Zu den Zielen Emmanuel Macrons bei der am Abend des 09.06.24 verkündeten Parlamentsauflösung zählte, neben der (in einigen Medienberichten durch Macrons Berater quasi offen erklärten) Absicht, den rechtsextremen RN an der Macht zu „testen“ und ihn ggf. wegen „wirtschaftlicher Inkompetenz“ dann in drei Jahren wieder aus dem Sattel zu werfen – vgl. Teil 2 -, auch die Schwächung der Linken.

Bislang wies die linkspopulistische Wahlplattform LFI mit 75 Abgeordneten die zweitstärkste Oppositionsfraktion, hinter der des rechtsextremen RN mit 88 Abgeordneten, auf. Insgesamt wäre das linke Wahlbündnis NUPES aus dem Mai/Juni 2022, innerhalb dessen LFI den Ton angab, dessen Partei dann jedoch mehrheitlich (gegen den Willen von LFI) getrennte Parlamentsfraktionen bilden mochten, jedoch mit 150 Abgeordneten stärker als die rechtsextreme Opposition gewesen. Die starken Differenzen zwischen den unterschiedlichen Linksparteien, die vor allem vor den Europaparlamentswahlen vom 09.06. d.J. augenscheinlich wurden, jedoch bereits zuvor zum Vorschein kamen – eine höchst umstrittene LFI-Politikerin, Mélenchons Geliebte Sophie Chikirou, verglich (https://www.slate.fr/story/253922/fabien-roussel-compare-jacques-doriot-collaborationniste-sophia-chikirou-france-insoumise-pcf-gauche-union externer Link) im September 2023 den derzeitigen Chef der Französischen KP, Fabien Roussel, mit dem Nazikollaborateur Jacques Doriot, einem ex-kommunistischen Renegaten; ein unglaublicher Vergleich, denn Doriot kämpfte 1943 in Naziuniform an der Ostfront -, schienen eine Spaltung der Linken zu gewährleisten. Der Wunsch zu einer gewissen Einheit, um nicht gegenüber Rechtsextremen und Wirtschaftsliberalen unterzugehen, erwies sich dann jedoch infolge der Ausschreibung der Neuwahlen als stärker, denn zuvor von den Gegnern der Linkskräfte erwartet.

Historische Kostüme bzw. Begrifflichkeiten

Am Dienstag, den 11. Juni 24 benutzte der daraufhin durch seine Parteifunktionäre abgesetzte, doch am Freitag, den 14.06.24 gerichtlich wiedereingesetzte Vorsitzende der konservativen Partei Les Républicains (LR), Eric Ciotti, den Begriff eines bloc national, um das von ihm beschlossene Bündnis mit dem neofaschistischen Rassemblement National (RN) zu beschreiben. Diesen Begriff eines „nationalen Blocks“, alternativ auch einer „nationalen Front“, benutzten französische Rechte in den 1930er Jahren, um die damalige Allianz zwischen Konservativen und den aufstrebenden „Bünden“ – les ligues – zu beschreiben. Letztere waren rechtsextreme Kampfbünde, die zum Teil aus Sympathisanten des damaligen faschistischen Italien, zum Teil aus Frontkämpfern des Ersten Weltkriegs bestanden.

Demgegenüber benutzt auch die Linke seit der Woche vom 10. zum 16. Juni dieses Jahres gewissermaßen historische Kostüme, und bezeichnet ihre wahlpolitische Vereinbarung als nouveau front populaire, also als Neuauflage des Wahl- und ab Mai/Juni 1936 dann auch Regierungsbündnisses in Gestalt des Front populaire. Diese Bezeichnung wird im Deutschen oft höchst grobschlächtig mit „Volksfront“ übersetzt, bedeutet jedoch angesichts der erheblichen Differenzen zum deutschen „Volks“begriff viel eher „die Front der Unter- und Mittelklassen gegen die Oberen“. Bspw. bezeichnet ein quartier populaire einen Unterklassenstadtteil, nicht etwa ein „volkstümliches Viertel“.

Der damals aus Sozialdemokratie, KP und Radicaux, also antiklerikalen Linksliberalen gebildete Front populaire von 1935/36 basiert auf den antifaschistischen Massendemonstrationen vom Februar 1934, die auf den rechtsextremen Putschversuch vom 06. Februar jenes Jahres reagierten. Damals zwang die Parteibasis ihre jeweiligen Parteispitzen zur Einheit, während bis dahin die Führungskreise der Sozialdemokratie nach rechts ins bürgerliche Lager schielten, während die KP-Führung wie andere verwandte Parteien auch die „Sozialfaschismusthese“ propagierte und die Sozialdemokratie, statt der faschistischen Gefahr, als Hauptfeind betrachtete. Der Elan, insbesondere der durch den Wahlerfolg ausgelöste spontane Generalstreik vom Frühjahr 1936, erzwang einige echte soziale Reformen, im progressiven und nicht im Sinne der heute oft beobachteten Begriffsverwendung antisozialen Sinne. Dazu zählte insbesondere die erstmalige Einführung von bezahltem Urlaub – zwei Wochen im Jahr -, obwohl zuvor die sozialdemokratischen Parteiführer dies als wirtschaftsfeindlich betrachtete und stalinistische KP-Funktionäre der Auffassung waren, anständige Proleten hätten Produzentenstolz und wollten gar nicht „fürs Faulenzen bezahlt werden“.

Deswegen blieb die kurze Regierungszeit des Front populaire in den Jahren 1936 und 37 vielfach in guter Erinnerung. Damals bedeutete sie auch eine Niederlage für den virulenten Antisemitismus jener Jahre, weil die rechte Massenpresse sich auf den „Juden und ausländischen Agenten Léon Blum“ eingeschossen hatte, der dann jedoch Premierminister wurde.

Auch heute bestehen zum Teil massive Differenzen zwischen den und auch innerhalb der beteiligten Parteien – die jedoch im historischen Vergleich doch eher erheblich geringer ausfallen dürften als zu Zeiten, an denen die Führung der damaligen sozialdemokratischen SFIO in das französische Kolonialsystem eingebunden, die der Französischen KP de facto durch die UdSSR Stalins kontrolliert war.

Bei der Verteilung der (insgesamt 577) Wahlkreise unter den diversen Linksparteien wurden 230 der Wahlplattform LFI, und 170 dem Parti socialiste, der früheren Regierungssozialdemokratie von vor 2017, zugestanden. Damit ist die Verteilung stärker zugunsten des PS ausgeglichen als vor der letzten Parlamentswahl im Juni 2022, bei dem der PS dadurch benachteiligt war, dass seine damalige Präsidentschaftsbewerberin Anne Hidalgo im April 2022 nur… 1,7 Prozent bei der Präsidentschaftswahl erhielt.

Spagat… von Hollande bis Poutou?

Zu den Kandidat/inn/en des PS, die zwar mehrheitlich dem linken Flügel angehören (da ein Teil des rechten Parteiflügels das Bündnis mit LFI ablehnen und zum Teil außerhalb der Allianz antritt), zählt nun auch Ex-Staatspräsident François Hollande, im Amt von 2012 bis 17. Es ist nicht das erste Mal, dass ein aus dem Amt geschiedener Staatspräsident sich nun, deutlich weiter unten auf der politischen Stufenleiter, um einen Parlamentssitz bewirbt: Sein Vor-Vor-Vor-Vorgänger Valéry Giscard d’Estaing, bei der Präsidentschaftswahl 1981 durch François Mitterrand besiegt, kandidierte dann 1984 für einen Sitz in der Nationalversammlung. François Hollandes Amtszeit war durch eine explizit al „angebotsorientierte Wirtschaftspolitik“, die – gar nicht keynesianisch – auf eine Stärkung zuerst der Unternehmen ausgerichtet war und damals durch Emmanuel Macron als Wirtschaftsminister bis im Herbst 2016 verkörpert wurde, geprägt.

Auf dem anderen Ende der heterogenen Linken, in deren Bündnis auch mehrere kleinere, bislang nicht im Parlament vertretene Parteien bis hin zu Teilen der radikalen Linken als assoziierte Mitglieder vertreten sind, wurden auch einzelne Vertreter der Letzteren aufgestellt. LFI als Teil des Linksbündnisses teilte etwa der aus dem undogmatischen Trotzkismus kommenden „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (le NPA), konkret einem ihrer drei Sprecher/innen, Philippe Poutou – er kandidierte drei mal zur französischen Präsidentschaftswahl, 2012, 2017 und 2022, mit Ergebnissen je um die ein Prozent -, einen Wahlkreis im südwestfranzösischen Carcassonne zu.

Das ist inhaltlich zu begrüßen. Allerdings erinnern nun die politischen Gegner/innen der Linkskräfte von Rechtsparteien bis zu Polizeigewerkschaften vielfach an eine eher ziemlich infantile Äußerung Poutous aus dem März dieses Jahres, die Gewalt gegen Polizeibedienstete in der Pariser Vorstadt La Courneuve eilfertig begrüßte („hübsches Feuerwerk“ (vgl. https://www.valeursactuelles.com/politique/joli-feu-dartifice-philippe-poutou-se-felicite-de-lattaque-du-commissariat-de-la-courneuve-et-fait-scandale externer Link), voraus ging der Tod eines jungen Mannes bei einem Zusammestoß mit einem Polizeiauto). Während die Bewohner/innen solcher Vorstädte zwar unter dreißig tendenziell eher gegen die Polizei, über dreißig jedoch in deutlicher Mehrheit stärker noch gegen die ausufernde Gewalt von Jugendbanden und Drogendealerringen (und entsprechend bei aller Kritik und aller rassistischen Vorkommnisse eher „pro Polizei“) eingestellt sein dürften. Damit muss man zumindest politisch umzugehen wissen, und dies nicht durch patzige Sprüche. – Vielleicht hätten sich der NPA und die Parteien des Linksbündnisses ja doch besser auf den Präsidentschaftsbewerber der Vorläuferpartei des NPA in den Jahren 2002 und 2007 (vgl. http://trend.infopartisan.net/trd0507/t280507.html externer Link und http://www.trend.infopartisan.net/trd0407/t410407.html externer Link), also Olivier Besancenot, dem solcherlei Fehler nicht unterlaufen, als Kandidaten geeinigt. Jedenfalls sofern Besancenot hätte kandidieren mögen.

In Avignon stellte LFI ferner den profilierten jungen Antifaschisten Raphaël Arnault von der Antifagruppe Jeune Garde („Junge Garde“) als Kandidaten auf; schnell publik gewordene, normalerweise nicht öffentliche polizeiliche Warnnotizen stuften ihn als „Gewalttäter“ ein. Womit die Gegenseite selbstverständlich nun Tag und Nacht argumentiert, von Rechtsextremen bis zu bürgerlichen Parteien. (https://www.bfmtv.com/politique/qui-est-raphael-arnault-le-candidat-fiche-s-du-nouveau-front-populaire_VN-202406200222.html externer Link und https://www.marianne.net/societe/police-et-justice/fiche-s-et-investi-par-le-front-populaire-a-avignon-raphael-arnault-lantifa-de-lfi externer Link) Zu den nun öffentlich erhobenen Vorwürfen zählt, er habe angeblich ihn einer von ihm hinterlassenen telephonischen Sprachnachricht einer Aktivistin der rechtsextremen „Identitären“, die selbst als „Feministin“ auftritt, mit dem Tode gedroht, falls diese in seine Stadt komme, also nach Lyon. Der 29jährige spricht seinerseits von Diffamierungen, die ursprünglich aus rechtsextremen Quellen stammten.

In beiden Fällen wurden sozialdemokratische Kandidaturen außerhalb des und neben dem Linksbündnis(ses) aufgestellt.

Zur Programmatik

Einige zwischen den Beteiligten umstrittene Punkte der Außenpolitik wurden durch die gemeinsame Vereinbarung des Parti socialiste, der französischen Grünen, der – in ihrem realen Auftreten trotz ihres Namens mittlerweile eher einer linkeren NRW-SPD ähnelnden und im Wahlbündnis sicher nicht auf dem linken Flügel stehenden – Französischen KP (PCF) sowie der linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise, LFI, „Das unbeugsame Frankreich“, zumindest verbal geregelt.

Die Ukraine wird demnach unterstützt, während der eher antiimperialistische ja kampistische (d.h. die Welt tendenziell in zwei Lager, davon ein gutes und ein böses, einteilende) Flügel der heterogenen und in sich zerstrittenen Wahlplattform LFI bislang zwar nicht Wladimir Putin unterstützte – es gibt glücklicherweise Grenzen -, aber doch tendenziell die NATO für die Fortdauer des Krieges mit Russland verantwortlich machte. (Vgl. zur Kritik: https://www.nouvelobs.com/idees/20240327.OBS86310/melenchon-et-l-ukraine-un-campisme-reactionnaire-par-philippe-marliere.html externer Link)

Gemeinsam strebt das Linksbündnis einen Waffenstillstand im Gazastreifen an, was selbstredend richtig und notwendig ist. Die mörderischen Angriffe der Hamas auf israelische Zivilpersonen vom 07. Oktober 23 und ihre Geiselnahmen werden ebenfalls klar verurteilt, wobei der eher antiimperialistische Teil von LFI dabei bislang widerstrebte, während andere Abgeordnete der durch Jean-Luc Mélenchon aufgebauten Wahlplattform sich anders positionierten. Der zunehmend als Konkurrent gegen Mélenchon auftretende, ursprünglich parteilose bzw. ein regionales Basisbündnis in seiner Herkunftsstadt Amiens (Picardie) vertretende, doch seit 2017 mit LFI assoziierte Abgeordnete François Ruffin bspw. sprach damals schnell von Terror gegen Zivilist/inn/en.

Die Fragen der Zukunft der Nuklearenergie, bei der die Französische KP sich vehement für einen Ausbau stark macht, während LFI explizit einen (stufenweisen) Atomausstieg fordert, und der Positionierung zur NATO werden durch die Vereinbarung ausdrücklich ausgeklammert. Bei ihnen wird auf künftige parlamentarische Debatten verwiesen.

Zu den programmatischen Einigungen, die bei einer Pressekonferenz am Freitag Mittag, den 14. Juni 24 bekannt gegeben wurden, zählen aber vor allem die Rücknahme und Abschaffung der Rentenreform von 2023, der stufenweise seit 2019 durchgesetzten Reform der Arbeitslosenkasse – deren nächste Etappe durch die noch amtierende Regierung von Gabriel Attal und Staatspräsident Emmanuel Macron für den kommenden Herbst geplant ist – sowie des zum vorigen Jahreswechsel verabschiedeten verschärften Ausländergesetzes.

Regressive „Reformen“ rückgängig machen

Die Renten„reform“ vom vergangenen Jahr, das entsprechende Gesetz wurde trotz massiver Protestdemonstrationen mit bis zu drei Millionen Menschen am 15. April 2023 in Kraft gesetzt, beinhaltet an zentraler Stelle die Anhebung der Lebensarbeitszeit um zwei Jahre. Das bedeutet für die meisten Arbeitnehmergruppen, sofern keine Sonderbedingungen wie für Polizistinnen oder Eisenbahner gelten, ein Mindestalter von 64 statt zuvor 62 für den Renteneintritt. Dabei handelt es sich aber nicht notwendig um den vollen Rentensatz, dafür sind 42 und künftig 43 Beitragsjahre erforderlich; eine abschlagsfreie Rente gibt es erst ab 67, dies war bereits vor der jüngsten Reform so.

Die Linksparteien einigten sich nun darauf, die Anhebung unverzüglich zu stornieren und ein Mindest-Renteneintrittsalter von 62 beizubehalten. Seit dem Herbst vergangenen Jahres gingen bereits erste Jahrgänge mit mindestens 62 Jahren und einigen Monaten als Minimalalter in die Rente, die Anhebung sollte bis 2030 vollständig erfolgen. Darüber hinaus soll in den kommenden Jahren zu einem Mindestalter von 60, wie es in Frankreich gesetzlich von 1983 bis 2010 bestand, zurückgekehrt werden. Um in diesem Jahr eine volle Rente zu beziehen, soll allerdings eine Mindestzahl an Beitragsjahren vorhanden sein, das Nähere wird noch zu bestimmen sein.

Bei der „Reform“ der Arbeitslosenversicherung, deren bisherige Stufen 2019, 2021 und 2023 umgesetzt wurden, geht es im Wesentlichen um eine Verlängerung von Beitragszeiten, bei deren Unterschreiten gar kein Anspruch auf die Zahlung von Arbeitslosengeld besteht, und eine Verkürzung der Höchstbezugsdauer von Arbeitslosengeld. Letztere betrug vor der Reform 24 Monate – für ältere Lohnabhängige ab Mitte fünfzig bis zu drei Jahre -, derzeit liegt sie bei 18 Monaten, es sei denn, die nationale Arbeitslosenquote überschreitet neun Prozent. Gleichzeitig wurde die Mindesteinzahlungsdauer von vier auf sechs Monate angehoben – wer, etwa in einem befristeten Vertrag oder bis zu einer Kündigung während der Probezeit, weniger lang beschäftigt war, geht bei der Arbeitslosenkasse leer aus.

Die kommende Stufe, welche die kommissarisch noch agierende Regierung von Gabriel Attal im Einverständnis mit Staatspräsident Macron trotz Parlamentsauflösung noch per Dekret durchsetzen möchte, soll ab kommenden Herbst diese Regeln nochmals verschärfen. Die Mindesteinzahlungsdauer soll auf acht Monate weiter hochgesetzt, die Höchstbezugsdauer nochmals auf fünfzehn Monate verkürzt werden.

Diese regressiven „Reformen“ will das Linksbündnis, zusammen mit dem neuen Ausländergesetz, das nach teilweiser Zensur durch das Verfassungsgericht am 26. Januar dieses Jahres in Kraft trat, nun ersatzlos zurücknehmen. Das durch ein Stimmbündnis von Macron-Anhängern, Konservativen und Rechtsextremen verabschiedete Gesetz schafft den bisherigen Abschiebeschutz für Menschen, die etwa seit zwanzig Jahren legal in Frankreich leben oder Kinder mit französischer Staatsbürgerschaften ab – in schwächerer Form auch für Personen, die sich seit mindestens zehn Jahren mit einem Aufenthaltstitel im Land aufhielten – bei Vorliegen bestimmter Straftaten ab. Die Schwelle für die Qualifizierung der Straftat wurde dabei niedrig angesetzt und richtet sich nicht nach der Höhe der individuellen Verurteilung, sondern nach der für das jeweilige Delikt vorgesehenen Höchststrafe. Deswegen kann der Schutz auch bei geringer individueller Schuld entfallen. Wer ferner einmal eine Ausreiseverpflichtung (OQTF) erhält, war vor dem neuen Gesetz ein Jahr von einer Abschiebung gefährdet und konnte erst danach daran denken, eine Legalisierung der Aufenthaltssituation zu versuchen, doch nunmehr sind es drei Jahre.

Mindestlohn, Steuerpolitik, Schulen..

Der gesetzliche Mindestlohn, er beträgt derzeit bei Vollzeitarbeit – das bedeutet durchschnittlich 35 Stunden pro Woche im Jahresmittel – 1.398 Euro netto monatlich, soll auf 1.600 Euro netto angehoben werden. Das würde eine Erhöhung um rund vierzehn Prozent bedeuten. Rund dreizehn Prozent der abhängig Beschäftigten in Frankreich bezogen in Frankreich zu Anfang dieses Jahrzehnts den Mindestlohn. Doch im vorigen Jahr waren es (https://fr.statista.com/statistiques/1451610/part-salaries-touchant-smic-france/ externer Link) über siebzehn Prozent, da die Inflation der letzten drei Jahre zahlreiche untere Lohngruppen eingeholt und die nicht gleichzeitig gewachsenen Tariflöhne unter den gesetzlichen Mindestlohn gedrückt hatte.

Auf dem Gebiet der Bildung und Schulpolitik verspricht das gemeinsame Wahlprogramm einen „wirklich kostenlosen“ Charakter des öffentlichen Bildungswesens. Theoretisch ist es dieses bereits. Doch um daraus auch für einkommensschwächere Familien eine tatsächliche Realität werden lassen, spricht sich das Wahlprogramm des Linksbündnisses dafür aus, dass Schulkantinen und der Kauf von Unterrichtsmaterial kostenlos werden. Klassen sollen verkleinert und der Zugang zu Schulärzten und -ärztinnen verbessert werden. (Vgl. https://www.cafepedagogique.net/2024/06/17/a-lecole-du-nouveau-front-populaire/ externer Link) Dies Alles geht in die richtige Richtung.

Vor allem soll das bisherige zentrale „Reform“vorhaben der derzeit (noch kommissarisch) amtierenden Regierung unter Gabriel Attal für die nächste Zukunft unter dem Namen „Wissensschock“ (choc du savoir), nämlich die Einführung getrennter und paralleler „Leistungsgruppen“ innerhalb der seit 1975 als Gesamtschule funktionierenden Mittelstufenschulen – collèges -, verhindert und abgeschafft werden. Es drohten leistungsschwächere Schüler/innen, und dadurch mittelbar vor allem solche aus einkommensschwächeren Familien, benachteiligt zu werden. Indirekt stellt das Vorhaben indirekt das Prinzip der Gesamtschule auf Mittelstufenniveau, das seit 1975 existierende collège unique, in der Praxis in Frage. A propos: Auf der anderen Seite des politischen Spektrums spricht sich der rechtsextreme Rassemblement national (RN) nun ziemlich klar und offen gegen dieses Gesamtschulprinzip aus. (Vgl. https://www.lesechos.fr/elections/legislatives/legislatives-2024-les-propositions-chocs-du-rn-pour-lecole-2102914)

Zur Finanzierung ihres Programms, zu dem auch bessere Bildung und eine Reparatur des in katastrophalem Zustand befindlichen öffentlichen Gesundheitswesen zählen, wollen die Linksparteien die Besserverdienenden und Vermögensinhaber stärker besteuern. Vierzehn neue Stufen sollen bei der Einkommenssteuer eingeführt werden, was es erlaubt, höhere Bezüge differenzierter zu besteuern. Ab einem monatlichen Verdienst in Höhe von rund 4.000 Euro – ob brutto oder netto, ist dabei noch nicht wirklich genau geklärt, LFI-Abgeordnete geben dazu derzeit in Interviews (wie die bisherige Fraktionsvorsitzende Mathilde Panot am heutigen Freitag früh, 21.06.24 bei RMC und BFM TV (vgl. https://www.bfmtv.com/replay-emissions/l-interview/face-a-face-mathilde-panot-21-06_VN-202406210279.html externer Link) eher wolkige und ausweichende Antworten – aufwärts soll eine stärkere Besteuerung greifen. Die 2017 unter Emmanuel Macron abgeschaffte Vermögenssteuer soll wieder eingeführt werden.

An diesem Freitag, den 23.06.24 um die Mittagszeit und damit unmittelbar vor Redaktionsschluss dieses Artikels erklärte sich das Linksbündnis erneut zur Finanzierung seines Wahlprogramms und legte dabei den Schwerpunkt auf die Vermögensbesteuerung. Diese soll fünfzehn Milliarden Euro jährlich einbringen; die unter Macron 2017 abgeschaffte Vermögenssteuer ISF trug bis dahin jährlich vier Milliarden ein. Nun kann eine künftige Steuer natürlich anders gestaltet werden. (Vgl. https://www.bfmtv.com/politique/legislatives-suivez-la-conference-de-presse-du-nouveau-front-populaire-sur-le-financement-de-leur-programme_VL-202406210420.html externer Link und speziell zur Vermögenssteuer: https://www.bfmtv.com/politique/le-nouveau-front-populaire-propose-d-instaurer-un-isf-qui-rapporterait-15-milliards-d-euros-en-2024_VN-202406210453.html externer Link. Liberale Kritik vgl. u.a. unter: https://www.bfmtv.com/politique/elections/legislatives/125-milliards-d-euros-le-nouveau-front-populaire-annonce-le-chiffrage-de-son-programme_VN-202406210490.html externer Link)

25 Milliarden Neuausgaben im ersten Jahr einer Linksregierung stünden demnach 30 Milliarden Mehreinnahmen gegenüber. (https://www.liberation.fr/politique/en-direct-legislatives-le-nouveau-front-populaire-defend-le-chiffrage-de-son-programme-a-midi-20240621_JXNZCW2HNRBFDLWAZPPIECJPTU/ externer Link und https://www.ladepeche.fr/2024/06/21/direct-legislatives-2024-emmanuel-macron-a-tue-la-majorite-selon-edouard-philippe-lalliance-de-gauche-presente-le-cout-de-son-programme-12031237.php externer Link) Kleiner Hinweis: Das Kapital dürfte das dann nicht einfach schlucken, es dürfte also in einem solchen Falle dann noch sportlich werden…

Heikler fällt dabei aus, dass das Linksbündnis die unter Emmanuel Macron beschlossene (und zuvor auch unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys, 2007 bis 12, geltende) Steuerbefreiung von Überstundenzuschlägen abschaffen möchte. Selbstverständlich führten Sarkozy und nach ihm Macron diese Steuerbefreiung ein, um das Ableisten von Überstunden zu begünstigen und zugleich für abhängig Beschäftigte Überstunden als Alternative zu Lohnerhöhungen zu favorisieren. Wie etwa die Fraktionsvorsitzende von LFI in der frisch aufgelösten Nationalversammlung, Panot, im oben zitierten Interview – in welchem sie in mehreren Passagen, vom aggressiven Interviewer mit Nachfragen bedrängt, ins Schwimmen gerät – erklärt, möchten die Linkskräfte umgekehrt Lohnerhöhungen statt Überstunden favorisieren. Das ist grundsätzlich richtig. Dennoch könnte es durch die politischen Gegenseiten dazu benutzt werden, Unverständnis bei Lohnabhängigen zu schüren, wenn ihnen nun dieses „Zuckerl“ weggenommen wird, sofern sie Überstunden leisten. Jedenfalls wirft es Erklärungsbedarf auf und erfordert politisch-ideologische Hegemoniefähigkeit zumindest unter den Lohnabhängigen, um nicht potenziell als Diskurswaffe gegen die Linke eingesetzt zu werden. Auch wenn die Herangehensweise im Grundsatz richtig ist. Gabriel Attal, bisheriger Premierminister, machte es am heutigen Freitag, den 23.06.24 bereits vor: Am Vormittag schlug er mit dem Rhetorik-Hammer auf just diesen Nagel ein. (Vgl. zum heutigen Auftritt Attals: https://www.bfmtv.com/politique/il-fond-comme-neige-au-soleil-gabriel-attal-evoque-le-programme-du-rn-a-l-approche-des-legislatives_VN-202406210449.html externer Link)

RN eiertanzt wüst herum

Diese Programmforderungen könnten durchaus populär werden, zumal der ebenfalls in den sozialen Unter- und Mittelklassen mit sozialen Versprechungen auftretende rechtsextreme Rassemblement national (RN) im Anbetracht seiner möglichen erstmaligen Regierungsübernahme nun einen wahren Eiertanz über sein voraussichtliches Regierungsprogramm vollführt. Am Montag nach der Europaparlamentswahl, dem 10. Juni 24, forderte etwa der RN-Parlamentarier Thomas Ménagé, im Falle eines Regierungsantritts müsse seine Partei die Rentenreform von 2023 zurücknehmen. Der Anwärter der Partei auf den Posten des Regierungschefs, Jordan Bardella, kündigte dann jedoch eine Aussetzung dieses Programmpunkts an, da die Staatsfinanzen in bedrohlicher Lage seien und erst geprüft werden müsse, ob die Haushaltslage dies gestatte.

Dadurch geriet die Partei in mediale Turbulenzen. Am Montag, den 17. Juni 24 verkündete der meist als Wirtschafts- und Finanzexperte des RN auftretende Abgeordnete Jean-Philippe Tanguy, die Rentenreform solle nun doch dieses Jahr „ab Herbst“ zurückgenommen werden, allerdings erst nach Konzertierung mit „den Sozialpartnern“. Der seit Anfang voriger Woche offiziell mit dem RN verbündete, jedoch durch Teile der eigenen Parteifunktionäre angefeindete – und bis zu einem Gerichtsurteil vom vorigen Freitag, den 16.06.24 durch seine Widersacher vorübergehend ausgeschlossene – Vorsitzende der konservativen Partei Les Républicains (LR), Eric Ciotti, widersprach umgehend. Die Rentenreform werde „nicht notwendig“ zurückgenommen, reagierte er am Montag mit Vehemenz. Ciotti selbst hält die Reform Macrons für unzureichend und tritt aktiv für eine weitere Anhebung des gesetzlichen Mindestalters auf 65 statt 64 ein.

Ähnliche Positionen vertritt auch Marion Maréchal, eine Enkelin von Jean-Marie Le Pen, die der rechtsextremen Konkurrenzpartei Reconquête („Rückeroberung“) unter Eric Zemmour angehörte, sich jedoch vorige Woche kurz nach ihrer Wahl ins Europaparlament von dieser abspaltete, um sich erneut dem RN anzunähern. Die Partei Reconquête, die mit 5,5 Prozent knapp den Einzug ins Europäische Parlament schaffte, gerät dadurch in eine schwere und möglicherweise finale Krise. Diejenigen ihrer Anhänger, die nun zum RN zurückkehren oder ihn unterstützen, bringen dorthin jedoch eine gegen Sozialstaat und Arbeitsrecht gerichtete Orientierung und wirtschaftsliberale Tendenz, gepaart mit dem durch die gesamte extreme Rechte geteilten Rassismus.

„Dissident/inn/en“ abgestraft

Spaltungstendenzen gibt es jedoch auch auf der politischen Linken. Innere Turbulenzen bei LFI könnten den Erfolg zu kompromittieren drohen. Am vorigen Freitag, den 16. Juni 24 wurde bekannt, dass mehreren Abgeordneten, die in den letzten Monaten durch Kritik an Jean-Luc Mélenchon auffielen, die erneute Kandidatur durch das „Wahlkomitee“ der linkspopulistischen Plattform verweigert worden war. Zu ihnen zählen Alexis Corbière und Raquel Garrido im nördlichen und östlichen Pariser Umland sowie Danielle SLCLLCRnet in der Hauptstadt. Zwar setzte LFI an ihrer statt zum Teil in ihren bisherigen Wahlkreisen sehr respektable Bewerberinnen ein – namentlich die bisherige CGT-Vorständlerin Céline Verzeletti in Paris und die Notärztin Sabrina Ali Benali im Pariser Umland -, doch wurde die Nichtaufstellung bislang profilierter Abgeordneter in breiten Kreisen als Sanktion aufgefasst.

Die übrigen am Linksbündnis beteiligten Parteien, zuerst die Grünen, solidarisierten sich lautstark mit den Geschassten. Diese nahmen wiederum am Montag dieser Woche, den 17.06.24 an prominenter Stelle an einer gemeinsamen Großveranstaltung der Linksparteien unter freiem Himmel in Montreuil bei Paris teil. Corbière, Garrido und Simonnet erhalten ihre Kandidatur gegen die offiziell durch ihre Partei eingesetzten Bewerber aufrecht.

Nominiert wurde hingegen im nordfranzösischen Lille der, nach einer Verurteilung wegen ehelicher Gewalt vielfach kritisierte junge LFI-Abgeordnete Adrien Quatennens. (https://jungle.world/artikel/2022/48/neue-vorwuerfe-wegen-haeuslicher-gewalt externer Link) Die Gleichzeitigkeit seiner Einsetzung als Bewerber und des Entzugs der Kandidatur für die nun vielfach als „Dissidenten“ bezeichneten rief Empörung hervor. Daraufhin erklärte die bislang ebenfalls LFI nahe stehende Feministin und Juristin Amy Bah ihrerseits ihre Kandidatur, die durch Teile der Linken unterstützt wird, auch durch die sozialdemokratische Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry. Am Sonntag, den 16.06.24 erklärte Quatennens dann bei einer Pressekonferenz dann allerdings seinen Verzicht auf die Kandidatur, um dem Linksbündnis „nicht Schaden zuzufügen“.

Die Gleichzeitigkeit seiner Nominierung und ihrer Verweigerung für die nun in den Medien als „Dissidenten“ bezeichneten Ex-Abgeordneten rief vielfach Kritik hervor. François Ruffin seinerseits wurde zwar erneut durch LFI als Parlamentsbewerber aufgestellt, kritisierte jedoch die Weichenstellung bei den Kandidaturen scharf: „Es ist also (bei LFI) weniger schlimm, seine Frau zu ohrfeigen, als den Chef zu kritisieren!“

Übler noch stößt auf, dass etwa im Wahlkreise der „Dissidentin“ Danielle Simonnet (im zwanzigsten Pariser Bezirk (vgl. https://www.bfmtv.com/politique/elections/legislatives/legislatives-ce-qui-est-totalement-irresponsable-c-est-de-laisser-autant-d-hommes-et-de-femmes-dans-notre-pays-qui-n-arrivent-pas-a-boucler-les-fins-de-mois-pointe-danielle-simonet-candidate-nouveau-front-populaire_VN-202406200694.html externer Link) auf mehreren ihrer Wahlplakate ihr Gesicht oder Kopf mit schwarzer Farbe unkenntlich gemacht und überschmiert wurde. Anonym natürlich, jedoch wohl eher nicht von bürgerlichen Liberalen, in diesem Falle. Simonnet – wie es der Zufall so will, wurde die Kandidatin im selben Jahr, im selben Monat und am selben Tag wie der Autor dieser Zeilen geboren – war eine auf Pariser Stadtebene auch bei der Unterstützung sozialer Kämpfe durchaus profilierte Oppositionsabgeordnete. Eine Erklärung von Initiativen aus dem Bereich des Antirassismus und des Kampfs für Migranten-Rechte, ausgehend wohl von der tunesisch-französischen Initiative FTCR („Föderation für Bürgerrechte auf beiden Seiten des Mittelmeers“), spricht Simonnet ihre Solidarität aus, vor dem Hintergrund von Vorwürfen ihrer bisherigen Partei, gegen die die Abgeordnete ausdrücklich in Schutz genommen wird.

Dem ebenfalls in Ungnade gefallenen Abgeordneten Alexis Corbière wurde in diversen Facebookpostings im Laufe dieser Woche eine als sexistisch dargestellte Äußerung gegen die bisherige Fraktionsvorsitzende Mathilde Pannot („Fischweib“) untergeschoben, welche Corbière jedenfalls energisch bestreitet: Er habe diesen Ausspruch nie getätigt. „Fischweiber“ war jedenfalls in der Vergangenheit ein Synonym für resolute, laut sprechende Damen. Auch unter Rekurs auf eine entsprechende Figur bei der – in Frankreich auch in der etablierten Politik des Öfteren zitierten – Comicserie „Asterix und Obelix“. Allerdings stehen auch männliche Fischverkäufer („Wie, mein Fisch ist nicht frisch?“) bei deren Zeichner Uderzo in, sozusagen, nicht immer gutem Geruch.

Mélenchon wird von Kritiker/inne/n innerhalb der Linken zugetraut, es störe ihn nicht, Vereinbarungen zu torpedieren, wenn diese dafür sorgen, dass die Linke insgesamt und vor allem seine eigene Partei sich seiner Kontrolle entzieht. Er selbst sich – wie 2022 – als geeignetsten Bewerber für den Posten des Premierministers. Dies wäre jedoch derzeit vollkommen undurchsetzbar. Mélenchon reagierte daraufhin am Wochenende des 15./16. Juni 24, indem er erklärte, er dränge sich nicht auf, „ich halte mich jedoch für geeignet“. Ruffin reagierte prompt, für geeignet halte er sich ebenfalls. Ruffin, den LFI im Unterschied zu anderen innerparteilichen Kritiker/inne/n oder Widersacher/inne/n von Big Boss wieder als Kandidat aufstellte, unterstützt im Übrigen derzeit die Geschassten mit ihren „Dissidentenkandidaturen“. (Vgl. https://www.bfmtv.com/politique/elections/legislatives/legislatives-ruffin-affiche-son-soutien-a-corbiere-la-gauche-peine-a-masquer-les-tensions_AV-202406180198.html externer Link)

Künftig könnte die Einheit innerhalb von LFI eventuell schwerer herzustellen sein, als die unter verschiedenen Linksparteien.

Artikel von Bernard Schmid vom 21. Juni 2024

Teil 2 kommt im Laufe dieses Wochenendes und wird spätestens am kommenden Montag, nach den erneuten Demonstrationen gegen die extreme Rechte an diesem Sonntag, den 23. Juni 24, veröffentlicht. Er wird die bürgerliche, konservative und extreme Rechte und die Aussichten auf den derzeit schwer möglich erscheinenden Regierungseintritt der neofaschistischen Rechtskräfte, deren Bündnispartner, ihre soziale und ökonomische Positionierung sowie die Widerstände gegen dieselben behandeln. Dazu wird es auch Bilder von den antifaschistisch motivierten Protestdemonstrationen besonders vom 15. Juni und vom 23. Juni geben.

(Grund)Informationen:

  • Die Homepage des nouveau front populaire externer Link und deren Wahlprogramm externer Link – das Linksbündnis kündigt als zentrale Punkte an, die Rentenreform von 2023, die geplante Reform der Arbeitslosenversicherung und das zum Jahreswechsel 2023/24 durch ein Stimmbündnis zwischen Macron-Anhängern, Konservativen und Rechtsextremen im Parlament verschärfte neue Ausländergesetz abzuschaffen…
    • Siehe auch den Appell externer Link dafür
  • Gemeinsame Erklärung externer Link der französischen Gewerkschaften; weitere Stellungnahmen externer Link der Gewerkschaften Solidaires, CGT und CFDT und der Ligue des droits de l’homme
  • Auch im Bildungswesen bereiten sich Beschäftigte auf intensiven Widerstand gegen eine rechtsextrem geführte Regierung vor. Vierzig Führungskräfte im Bereich des Bildungsministeriums haben bereits ihren „Ungehorsam“ für einen solchen Fall angekündigt externer Link
  • 10. Juni 2024: Fünf Gewerkschaften (CFDT, CGT, UNSA, FSU, Solidaires) rufen zu Demonstrationen am Wochenende des 15. Juni und 16. Juni auf: Appel intersyndical à manifester externer Link –  siehe auch die Karte der Mobilisierungen in ganz Frankreich externer Link für den 15.-16. Juni 2024, weitere Übersicht über die Kundgebungen und Demonstrationen externer Link und ein Video-Bericht über die Demonstration in Paris am 15.6.2024 externer Link
  • ENSEMBLE, CONTRE L’EXTRÊME DROITE
    franz. gemeinsamer Aufruf vom 13.6.2024 externer Link von der Liga für Menschenrechte, der Gewerkschaften CGT, FSU und Solidaires, von Greenpeace und anderen Organisationen
  • Pour un soulèvement antifasciste – Für einen antifaschistischen Aufstand
    Es ist an der Zeit, ein Netzwerk des Widerstands aufzubauen und ein Netz von Gegenkräften aus dem Volk zu knüpfen. Es ist an der Zeit, neue Allianzen zu schmieden und neue Strategien zu entwickeln, indem wir auf viele Kollektive, Gewerkschaften und Organisationen zugehen. Dies erfordert einen harten Kampf an der Basis und einen Kulturkampf…“ franz. Aufruf vom 15.6.2024 in Le Club de Madiapart externer Link
  • Pour la démocratie et la justice sociale, faire front contre l’extrême-droite !
    Aufruf von Solidaires externer Link

    • und die Gewerkschaft Solidaires am 17.6.24 externer Link: L’extrême-droite n’est pas du côté des travailleurs et des travailleuses ! Pour nos droits, pour nos libertés, pour la justice sociale : Front populaire !
  • Sonderseite der CGT externer Link
  • Sonderseite von Attac Frankreich externer Link
  • Macrons riskantes Spiel: Der Weg für die extreme Rechte in die Regierung
    „… Es ist zwar bislang nicht sicher, aber doch sehr wahrscheinlich: In Kürze, ab Mitte Juli, dürfte ein junger Neofaschist ins Hôtel Matignon, den Amtssitz des französischen Premierministers, einziehen. Sein Name: Jordan Bardella. Bardella wird der Spitzenkandidat seiner Partei, des Rassemblement National („Nationale Sammlung“), abgekürzt RN, bei den nunmehr für den 30. Juni und den 07. Juli dieses Jahres angesetzten Neuwahlen des französischen Parlaments (Assemblée nationale, Nationalversammlung), sein. Diese um drei Jahre vorgezogene Parlamentswahl ordnete Staatspräsident Emmanuel Macron am gestrigen Sonntagabend an. Er reagierte damit auf den Ausgang der Europaparlamentswahl in Frankreich. (…) Laut amtlichem Ergebnis aus dem Innenministerium erreichten der RN 31,47 und R! 5,46 Prozent der Stimmen ‒ zusammengenommen 36,93 Prozent…“ Artikel von Bernard Schmid vom 10. Juni 2024 in Telepolis externer Link
  • Frankreich: Rechte Partei Rassemblent National auf dem Weg zur Macht
    Das Demokratielabor im Nachbarland. Proteste in Paris und landesweit – Hunderttausende auf den Straßen. Worum es geht….“ Beitrag von Bernard Schmid vom 17. Juni 2024 in Telepolis externer Link
  • Wenn die Straße nach Widerstand riecht
    Frankreichs Linke rufen im ganzen Land zu Demonstrationen auf, um einen Sieg der extrem Rechten bei den Neuwahlen zu verhindern. Und Paris wäre nicht Paris, wenn der Protest dort nicht am lautesten wäre…“ Artikel von Oliver Meiler vom 16. Juni 2024 in sueddeutsche.de externer Link
  • Neue Volksfront in Frankreich: Ein Mythos kehrt zurück
    Eine breite linke Wahlkoalition will den Vormarsch der extremen Rechten in Frankreich stoppen…“ Artikel von Volkmar Wölk vom 16.06.2024 in ND online externer Link
  • Frankreich: Volksfront oder Faschismus
    Überraschend hat Präsident Macron eine Neuwahl der französischen Nationalversammlung für den 30. Juni angesetzt. Nach derzeitigen Prognosen liegt die extreme Rechte vorn, doch eine linke «Neue Volksfront» nimmt den Kampf auf...“ Artikel von Nessim Achouche vom 17.06.2024 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung externer Link
  • „Macron ist nicht der Retter Europas, sondern dessen Zerstörer“
    Der Soziologe Didier Eribon gibt dem französischen Präsidenten eine Mitschuld am Aufstieg der Rechtspopulisten – mit Auswirkungen über Frankreich hinaus. Mit seiner Entscheidung für Neuwahlen richte Macron ein „irrsinniges Chaos“ an…“ Interview von Alex Rühle mit Didier Eribon vom 13. Juni 2024 in SZ.de externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=221177
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