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Updated: 18.12.2012 15:51
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Null-Euro-Jobs: "Zwangsaktivierung" und Widerstand in Dänemark

Nördlich von Flensburg geht manches schneller. Bereits seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre gibt es hier die "Ein-Euro-Jobs", mit denen ab dem 1.1.2005 ALGII-EmpfängerInnen in der Bundesrepublik konfrontiert werden. Vor zwei Jahren schließlich schaffte die damals frisch ins Amt gewählte dänische Rechtsregierung die "Aufwandsentschädigung" ab - aus "Ein-Euro-Jobs" wurden "Null-Euro-Jobs". Auf einer Veranstaltung des Rosa-Luxemburg-Bildungswerkes am 30.9. in Hamburg berichtete der Sprecher der dänischen Landesorganisation der Erwerbslosen (LA) über die Geschichte der "Aktivlinie" und den Widerstand. Wir dokumentieren hier eine gekürzte Fassung seines Referats.

Viele betrachten den dänischen Wohlfahrtsstaat immer noch als den Besten der Welt. Sie sind sich offenbar nicht darüber im Klaren, dass es mittlerweile zu einem entscheidenden Bruch mit der dänischen "Wohlfahrtstradition" gekommen ist - ohne dass es darüber eine wirkliche Debatte gegeben hätte. Keine der politischen Parteien Dänemark hat sich (offiziell) dafür ausgesprochen, den Wohlfahrtsstaat abzuschaffen, und dennoch wird er abgewickelt. Ein zentrales Element dieses Angriffes ist die "Aktivlinie", deren Geschichte ich hier zunächst kurz skizzieren möchte.

Die "Aktivlinie" wurde vor dem Hintergrund der hohen Erwerbslosigkeit in den 1980er Jahren - auch und vor allem unter jungen Leuten - ins Leben gerufen. Sie wurde vor allem damit begründet, dass es unter 18-19Jährigen eine angeblich verbreitete Praxis gewesen sei, einen Monat nach dem Ende ihrer Gymnasialzeit Sozialhilfe zu beantragen, um anschließend für jeweils einen Monat Leistungen zu erhalten und mit Interrail in warme Länder zu fahren. Also wurde als Grundlage für die Existenzsicherung Zwangsarbeit oder Teilnahme an Kursen gefordert. Zunächst galten die neuen Regeln nur für Menschen unter 25 Jahren, doch die Altersgrenze wurde später auf 30 heraufgesetzt.

Am 1. Juli 1998 trat das "Gesetz über aktive Sozialpolitik" in Kraft. Danach sollten alle Bürgerinnen und Bürger, die Sozialhilfe empfangen, "aktiviert" werden. Zugleich wurde beschlossen, die Aktivierung auch auf ArbeitslosengeldempfängerInnen auszuweiten, zumindest auf die größte Zeit ihres Leistungsbezugs. Früher wurde Arbeitslosengeld unbegrenzt bis ins Rentenalter gezahlt wurde, und selbst später betrug die maximale Bezugsdauer immerhin noch neun Jahre. Nunmehr jedoch wurde sie auf vier Jahre verkürzt, wobei die letzten drei Jahre offiziell als "Aktivierungsperiode" gelten. Aktivierung zieht keinen neuen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach sich. Seit 1998 sind außerdem die Leistungen für Flüchtlinge und MigrantInnen auf etwa die Hälfte derjenigen gekürzt worden, auf die ein dänischer Staatsbürger Anspruch hat. Außerdem erhalten jetzt Ehepaare geringere Leistungen, und bei Familien mit Kindern bekommen nur noch die ersten drei Kinder Sozialleistungen.

Im Jahre 2001, als die derzeitige dänische Regierung ins Amt kam, wurde der Name des Arbeitsministeriums in "Beschäftigungsministerium" geändert. Es übernahm gleichzeitig vom Sozialministerium die Zuständigkeit für die SozialhilfeempfängerInnen. Alle sozialen Transferleistungen werden nunmehr daran gekoppelt, dass Erwerbslose und andere Sozialgruppen, d.h. auch die in der Produktion Verschlissenen und Arbeitsunfähigen, "für den Arbeitsmarkt verfügbar" gemacht werden.

Kommunales Tütenkleben

Erwerbslose in Aktivierung haben keinerlei Tarifautonomie oder andere Verhandlungsrechte. Sie werden nicht durch Vertrauensleute geschützt, haben keine Rentenansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und keinen Anspruch auf Urlaubsgeld oder Arbeitslosenversicherung. Die typische Arbeit von Aktivierten besteht darin, kleinere Gegenstände wie Spielzeug, Nägel, Schrauben, Beschläge, Tierfutter, Schnuller oder Kaffeekannen zusammen zu tragen und zu verpacken. Außerdem sind viele Erwerbslose im öffentlichen Dienst, in Gemeinden, Bezirken und der Zentralverwaltung mit Gebäudereinigung und Putzen, Gartenarbeiten in Parks, Kinderbetreuung und Altenpflege beschäftigt. Sie werden in Museen und Theatern eingesetzt oder als Bürokräfte und Hilfspersonal in Schulen.

Nichts deutet darauf hin, dass das Ausmaß dieser Aktivierung reduziert werden soll, im Gegenteil: Mehr und mehr öffentliche Institutionen werden davon abhängig, dass ein Teil des Personals praktisch umsonst arbeitet. Die gegenwärtige dänische Regierung verzichtet auf Steuererhöhungen und damit auf zusätzliche Staatseinnahmen. Damit wird es für die Kommunen noch dringlicher, billige Lösungen für öffentliche Aufgaben zu finden. Die Beschäftigung billiger, rechtloser und unorganisierter ArbeiterInnen ist eine solche Lösung.

In der offiziellen Erwerbslosenstatistik werden die Zwangsaktivierten nicht mitgezählt. Die Erwerbslosenzahlen sind also einige Prozente höher als von der Regierung offiziell angegeben.[1] Mittlerweile haben zahlreiche Untersuchungen einigermaßen übereinstimmend gezeigt, dass die Zwangsaktivierung keineswegs zu mehr Arbeitsplätzen führt. Es liegt vielmehr die Vermutung nahe, dass mit der "Aktivlinie" Druck auf die tariflichen Arbeitsverhältnisse ausgeübt werden soll. Tatsächlich sind die Löhne in den unteren Tariflohngruppen in den letzten Jahren gefallen. Und schätzungsweise sind 100.000 Arbeitsplätze zu Aktivierungsplätzen geworden.

Man sollte meinen, dass die Gewerkschaften gegen eine solche Praxis Sturm laufen würden, aber sie haben sich überwiegend passiv verhalten. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Gewerkschaften in Dänemark direkt mit dem Staat zusammenarbeiten und die Arbeitslosenversicherung traditionell eng mit ihnen verbunden ist. Die hauptamtlichen SekretärInnen fühlen sich deshalb eher mit dem Staat verbunden als mit den einfachen Mitgliedern. Darüber hinaus ist die dänische Gewerkschaftsbewegung sozialdemokratisch dominiert. Sie hat also die gleiche parteipolitische Orientierung wie jene Regierung, die die Aktivierungspolitik ein- und durchgeführt hat. Auf lokaler Ebene sind Gewerkschaftsfunktionäre oft Mitglieder der Kommunalparlamente. Ein sehr großer Teil des Gewerkschaftsapparates fungiert in der Praxis gegenüber den zwangsaktivierten Erwerbslosen als Arbeitgeber, und einige Gewerkschaften haben sogar damit begonnen, selbst Zwangsaktivierte zu beschäftigen.

Die Landesorganisation der Erwerbslosen bezieht sich auf die alten politischen Traditionen der Arbeiterbewegung. Wir fordern Rechte im Arbeitsverhältnis, Tarifautonomie, Vertrauensleute u.s.w. Gleichzeitig bezieht sich die LA aber auch auf liberale Traditionen, etwa in der Forderung nach der Freiheit des/der Einzelnen und der Gleichheit vor dem Gesetz. Wir stellen die Behauptung in Frage, dass man etwas leisten muss, bevor man Rechte in Anspruch nehmen kann. Wir verstehen uns als Organisation, deren primäres Ziel es nicht ist, Erwerbslose "wieder in Arbeit" zu bringen. Damit sind wir in Dänemark und anderswo ziemlich einmalig. Unser wichtigstes Anliegen ist es, für die Interessen der Erwerbslosen einzutreten, während sie erwerbslos sind.

Subversive "Verbraucher-informationen"

Bei der Gründung der LA haben wir bewusst positive Perspektiven betont. So haben wir es unterlassen, uns selbst als "Ausgestoßene" zu bezeichnen. Wir kämpfen weniger gegen die Aktivierung an sich, sondern eher für Freiwilligkeit. Ich weiß nicht genau, wie groß der Effekt dieser "positiven Perspektiven" war, aber es wäre jedenfalls sehr ermüdend für uns Aktivistinnen und Aktivisten gewesen, wenn wir uns die ganze Zeit selbst als "Sklaven", "Ausgestoßene" oder "Marginalisierte" hätten bezeichnen müssen. Dagegen haben wir darauf bestanden, dass wir intelligente MitbürgerInnen und in hohem Maße in die Gesellschaft integriert sind. Im Moment hat die LA ungefähr 500 Mitglieder.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir relativ leicht Sympathie und Verständnis für unsere Sache erreichen können, wenn wir Projekte angreifen, in denen Erwerbslose für private Firmen oder in kommunalen Produktionshäusern Produkte verpacken, zusammentragen oder montieren. Diese Art von Arbeit führt nicht zur Qualifizierung der Erwerbslosen, und die wirtschaftlichen Vereinbarungen zwischen Kommunen und privaten Trägern sind oft geheim oder unklar. Das Ziel dieser Arbeitshäuser wird oft als "Training im morgendlichen Aufstehen und in Arbeitsdisziplin" beschrieben, und diese Art der Aktivierung wird in weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt. Wir haben unter anderem darauf aufmerksam gemacht, dass die SteuerzahlerInnen damit die Löhne privater Firmen bezahlen.

Erwerbslose sind keine "Ausgestoßenen"

In vielen Fällen haben Kommunen und Firmen diese Form der Aktivierung beendet, wenn sie öffentlich bekannt gemacht wurde. Insbesondere Firmen, die von Modeströmungen abhängig sind, reagieren durchaus auf öffentliche Kritik. So hatte zum Beispiel eine Überschrift in einer landesweiten Zeitung ("Modefirma beschäftigt Zwangsarbeiter") einen außerordentlich positiven Effekt - aus der Sicht der LA. Besonders erfolgreich waren wir mit der Strategie, kleine Zettel mit Hinweisen zur "Verbraucheraufklärung" in die von Zwangsaktivierten verpackten Produkte zu legen. Nach einer solchen Aktion hat die Firma COLOPLAST 1999 aufgehört, 120 Zwangsaktivierte zum Verpacken von (medizinischen) Pflastern zu missbrauchen. Vor einigen Jahren beendete die Firma JBS-Unterhosen die Beschäftigung von Zwangsaktivierten in Herning, nachdem diese eine Zeit lang solche kleine Zettel in die Verpackung gelegt hatten. Darauf standen Informationen über fehlenden Lohn, Rente, Urlaubsgeld sowie Aufforderung, dieses Produkt nicht mehr zu kaufen.

Mittlerweile ist es offensichtlich, dass die Verschlechterung der Lebensbedingungen für Menschen mit wenig Einkommen eine Entwicklung ist, die gleichzeitig in vielen europäischen Ländern stattfindet. Wir sollten deshalb auf europäischem Niveau in der Lage sein, zu einem Boykott von Waren aufzurufen, deren Produkte von zwangsaktivierten ArbeiterInnen verpackt worden sind. Die diversen Gewerkschaften und ihre Veröffentlichungen könnten eventuell dabei mitwirken, indem sie Bilder und Besprechungen der Produkte zum Beispiel von Bodum, DanToy, HT Bedix A/S und so weiter bringen.

Man könnte sich ein Netzwerk für die ärmsten Bevölkerungsgruppen wünschen, eine unabhängige Organisation, deren Ziel es ist, akzeptable Lebensbedingungen zu sichern. Ich würde vorschlagen, dass man einige konkrete Mindestforderungen dafür formulieren sollte: Was ist in den einzelnen Ländern notwendig, um dort gut leben zu können? Also etwa ausreichenden Wohnraum, ein Mindesteinkommen, Telefon und Internet, Versicherungen, Freizeitvergnügen, Ferienerlebnisse, ärztliche und zahnärztliche Versorgung, Brillen und Arzneimittel. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte sollte es kein Problem sein, allen solche existenziellen und angemessenen Bedingungen zu sichern.

Wenn diese Bedingungen für alle gesichert sind, kann das Kapital die Reste dazu verwenden, in Versicherungsgesellschaften, Reklameoffensiven, künstliche Farb- und Geschmacksstoffe, farbige Wochenblätter, Kühlschränke und Glühlampen mit eingebautem Selbstzerstörungseffekt zu investieren oder was den unternehmungslustigen Kapitalverwaltern sonst noch so einfällt, um unser Dasein zu verschönern.

Erling Frederiksen, Gislinge

Erschienen in "analyse und Kritik" Ausgabe 488 vom Oktober 2004

Übersetzung: Peter Birke. Die dänische LA ist zu erreichen über: www.ladk.dk externer Link. Informationen über weitere Veranstaltungen im Rahmen der Reihe "Soziale Konflikte in Europa" finden sich auf der Seite www.Rosa-Luxemburg-Bildungswerk.de externer Link

Anmerkung:

1) Offiziell gibt es z.Z. 170 000 Erwerbslose in Dänemark. Die Erwerbslosenquote liegt bei ca. 7%. Sie ist damit seit Ende 2001 auf das Niveau der westdeutschen Bundesländer gestiegen.

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