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Updated: 18.12.2012 15:51
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Hartz IV für Belgien?

Bildung einer neuen Rechts-Regierung vor dem Abschluss. Neoliberale Generalangriff geplant.

Von Rosso Vincenzo*

Der folgende Artikel erschien in einer aus Platzmangel stark gekürzten Version in der „jungen Welt“ vom 4.10.2007. Seine Lektüre lohnt sich auch deshalb, weil Belgien sehr zu Unrecht im „toten Winkel“ der hiesigen Berichterstattung liegt. Das zweisprachige Königreich Belgien macht nicht nur eine ernstzunehmende bürgerliche „Staatskrise“ durch, die im schlimmsten Fall zur Spaltung des Landes führen kann, sondern den gut 10 Millionen Einwohnern stehen auch herbe neoliberale Umstrukturierungen ins Haus, aus denen sich – wie schon in der Vergangenheit – erbittert geführte Klassenkämpfe ergeben könnten, die mit Sicherheit nicht ohne Auswirkungen auf die Nachbarstaaten blieben. Immerhin waren es in den 60er Jahren (was heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist!) die Belgier, die einen neuen Zyklus sozialer Kämpfe und ein Wiederaufleben der Arbeiterbewegung in Westeuropa einläuteten.

Nachdem die flämischen und wallonischen Christdemokraten und Liberalen mit ihrem bereits mehr als 100 Tage dauernden Versuch einer Regierungsbildung einen neuen Landesrekord aufgestellt haben, scheint nun eine Lösung der Krise in Sicht. Wesentlich dazu beigetragen hat die Intervention des Unternehmerdachverbandes VBO, der mit einschneidenden Sozialabbau- und Umverteilungsmaßnahmen zugunsten des Kapitals nicht länger warten will.

Manchmal scheint die politische Entwicklung wie dem simpelsten Lehrbuch über „Staatsmonopolitischen Kapitalismus“ entnommen, wo das Großkapital seine Interessen direkt und in mechanischer Form durchsetzt. Dieser Eindruck drängte sich in den letzten Tagen bei einem Blick nach Belgien auf. Dort versuchen die christdemokratischen und liberalen Parteien des flämischen und wallonischen Landesteils als Sieger der Parlamentswahlen vom 10.Juni 2007 seit mehr als 100 Tagen erfolglos eine Regierung zu bilden und erzielten damit einen neuen Rekord. Nachdem Mitte September das Wort von der „Staatskrise“ die Runde machte, wandte sich der Arbeitgeberdachverband VBO entschieden gegen eine Spaltung des Landes und forderte die bürgerlichen Parteien zum Abschluss der Regierungsbildung auf. Keine drei Tage später verkündeten die Medien, dass es dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses Herman Van Rompuy im Auftrag von König Albert II. gelungen sei die vier Parteichefs wieder an den Verhandlungstisch zu bringen. Zwei Tage später beauftragte der belgische Monarch den flämischen Christdemokraten Yves Leterme erneut offiziell mit der Regierungsbildung, die nun binnen weniger Tage abgeschlossen werden soll.

Der vom VBO ausgeübte Druck hat seinen Grund. Das traditionell stark export-orientierte belgische Kapital bangt um seine internationale Wettbewerbsposition und fordert daher verschärften Sozialabbau sowie eine deutliche Entlastung der Unternehmen. Tatsächlich verlieren die belgischen Unternehmen seit 1995 kontinuierlich an Weltmarktanteilen. Im Durchschnitt waren es 2,5% im Jahr 2006 sogar 5%. Konkret forderte VBO-Sprecher Rudi Thomaes die Senkung der Körperschaftssteuer von 34% auf 25%, eine einschneidende Arbeitsmarktreform, die die unbefristete Zahlung von Arbeitslosenunterstützung beseitigt und die Leistungen nach dreimonatiger Erwerbslosigkeit schrittweise senkt sowie eine Reform der Abfindungen. Heute haben Beschäftigte, die 30 Jahre lang für ein Unternehmen tätig waren, bei Entlassung Anspruch auf knapp drei Jahresgehälter. Das wird als Hindernis für die Personalfluktuation und die Bildung olympia-reifer Belegschaften gesehen. Für Thomaes kommt dieser Schutz älterer Beschäftigter vor Entlassung einer „Mauer“ gleich, die eingerissen werden müsse. Darüber hinaus verlangt der Unternehmerverband eine geringere Abgabenbelastung und „Lohnmäßigung“. Der Staat müsse „seine Gier nach Steuer- und Abgabeneinnahmen zügeln und gleichzeitig auch weniger ausgeben“. So sei der Umfang des Öffentlichen Dienstes, in dem 17% der Erwerbstätigen beschäftigt sind, überproportioniert. Im „Poldermodell“-Staat Holland seien es schließlich nur 14%. Wenig verwunderlich, dass der VBO auch beim Rentensystem, trotz des jüngsten „Generationen-Paktes“, noch „erheblichen Korrekturbedarf“ sieht.

Sollte auch nur die Hälfte dieser Forderungen Regierungsprogramm werden, steht den belgischen Gewerkschaften ein Generalangriff bevor, der alle Gegenreformen der letzten Jahre in den Schatten stellt. Insbesondere die neoliberale Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung in Verbindung mit dem Angriff auf die Abfindungsregelungen bzw. den Kündigungsschutz würden Belgien Hartz IV-Zustände bescheren. Dabei ist die sog. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bereits heute weiter fortgeschritten als im EU-Durchschnitt: 500.000 der 4,6 Millionen Erwerbstätigen in Belgien haben einen Leiharbeitsstatus und 900.000 einen Teilzeitvertrag.

Der flämische Christdemokrat Leterme hat sich bereits als Träger wesentlicher Teile dieses „Reformprogramms“ angeboten und profitiert davon, dass die flämischen und wallonischen Sozialdemokraten als wichtigster politischer Bezugspunkt der Gewerkschaften bei den Wahlen im Juni zusammen 6,8% der Stimmen verloren, während Christdemokraten und Liberale 3,3% gewannen und die Verluste des altliberalen VLD (-3,5%) durch den Erfolg der rechtsliberal-populistischen Liste des ehemaligen VLD-Senators Dedecker (+ 4,0%) mehr als kompensiert wurden. Zudem steht mit dem rechtsradikalen Vlaams Belang (der bei 12% stagnierte) eine weitere Reserve für neoliberale und sozialdarwinistische Politik bereit. Das vom einstiegen Generalsekretär des linken Gewerkschaftsbundes FGTB / ABVV, Georges Debunne (89), sowie den beiden ehemals führenden Sozialdemokraten Jef Sleeckx (70) und Lode Van Outrive (75) gegründete, WASG-ähnliche „Komitee für eine andere Politik“ (CAP), in dem auch die SAV-Schwesterorganisation LSP-MAS mitarbeitet, kam grade mal auf 0,4% der Stimmen. Es lag damit noch hinter der ehemals maoistischen Partei der Arbeit Belgiens (PTB / PVDA), die 0,84% erhielt. Die der Europäischen Linkspartei angehörende Kommunistische Partei Walloniens bekam 0,3%.

Das Fehlen einer neuen, linkssozialdemokratische Partei als allumfassender Hoffnungsträger könnte sich jedoch auch als Vorteil für den Widerstand gegen den sich abzeichnenden neoliberalen Generalangriff erweisen, da die Verteidigung der eigenen Interessen an niemanden delegiert werden kann. Von zentraler Bedeutung werden daher die belgischen Gewerkschaftsbünde sein. Neben der links-christdemokratischen CSC-ACV (1,7 Millionen Mitglieder) ist hier vor allem die sozialistische FGTB / ABVV (1,2 Millionen) gefragt. Wie die erbitterten Klassenkämpfe der 60er, 70er und 80er Jahre sowie die beiden Generalstreiks vom Oktober 2005 gezeigt haben, besitzt die belgische Arbeiterbewegung nicht nur einen hohen Organisationsgrad, sondern auch eine lange Kampftradition. Das ist das größte Hindernis für den angehenden Regierungschef Leterme und das Kahlschlagsprogramm des VBO.

Vorbemerkung: Rosso

Der Name Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ externer Link Rubrik „Aktuelles“). Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch


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