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Knappe Parlamentsmehrheit für den Raubzug der argentinischen Regierung gegen die Renten: Trotz historischen Widerstands, den weder Polizeiterror noch „Dialog-Gewerkschafter“ beenden konnten
(Update) In den frühen Morgenstunden des 19. Dezember 2017 hat das argentinische Parlament die sogenannte Rentenreform beschlossen. Die Regierung Macri hat, durch einen Deal mit oppositionellen Gouverneuren der peronistischen PJ, die nötige Mehrheit für ihren Raubzug bekommen. (Da ist es denen allen egal, dass in mehreren Befragungen über 70% der Menschen diese sogenannte Reform ablehnen). Sie tagten unter Belagerungszustand: Nicht etwa, um organisierte Rentenbetrüger fest zu nehmen, sondern um ihre Machenschaften zu schützen. Die riesige Protestdemonstration war auf ein enormes Polizeiaufgebot gestoßen – eine Stadt im Nebel des Tränengases, bis in die U-Bahnen hinein, Verletzte durch Gummigeschosse, erneut jagen uniformierte Banden einzelne alte Leute. Wie schon am letzten Donnerstag, so war auch dieser Montag gekennzeichnet von extremer Polizeigewalt (was die Voraussage in unserem Korrespondentinnen-Bericht bestätigte, auch wenn es diesmal keinen Einsatz der Militärpolizei gebe, die Polizei von Buenos Aires beherrsche das Repressions-Handwerk ebenfalls. Auch diesmal erneut in der Spezialbranche „alte Leute verprügeln“). Während die Bilder von Smartphones, Drohnen und sonstigen Kameras in der Innenstadt von Buenos Aires die Spuren der Repression dokumentieren, gibt es immer mehr Videoberichte, die die zahllosen Proteste in der ganzen Stadt zeigen: Kochtopfschlagen ist heute Nacht einmal mehr die beliebteste Form körperlicher Tätigkeit. Die ganzen Proteste vor dem Hintergrund eines eintägigen Streiks der Gewerkschaftsverbände CGT und CTA, der von 12 Uhr Montag bis 12 Uhr Dienstag dauern soll – und allerdings auch einmal mehr die mehrfachen Spaltungen der argentinischen Gewerkschaftsbewegung zeigen. Siehe in unserer Materialsammlung zu Protesten und Repression aktuelle Beiträge und und zwei persönliche Erlebnisberichte von Alix Arnold aus Buenos Aires – wir danken!
„Se aprobó la Reforma Previsional con represión y a espaldas de una histórica movilización“ am 19. Dezember 2017 bei AnRed ist die Meldung über das Ergebnis der endlich dann doch stattgefundenen Abstimmung im Parlament – dem Rentenklau stimmten 128 Abgeordnete zu, dagegen votierten 116. (In dem Beitrag wird das Abstimmungsverhalten aller Abgeordneten dokumentiert). Vor allem in Fotos wird die „mit Abstand größte Repression der letzten Jahre“ dokumentiert, die sich gegen eine Protestbewegung richtete, die als historisch bezeichnet wird.
„Forte #cacerolazo em diversos pontos de #BuenosAires (casas e ruas), em protesto contra as reformas neoliberais e a violência policial“ am 19. Dezember 2017 bei Ubique ist ein kurzer Zusammenschnitt mehrerer Videofilme über „Kochtopf-Proteste“ an verschiedenen Stellen der argentinischen Hauptstadt, die sichtbar wachsenden Zulauf erleben.
„[DRONE] Vista aérea de la multitudinaria marcha contra la reforma previsional“ am 18. Dezember 2017 bei La Izquierda Diario (um 21.30 Uhr Ortszeit, 01.30 in der BRD) ist die Dokumentation der Aufnahmen einer Drohne von der riesigen Protestdemonstration am Nachmittag, deren Ausmaß „von oben“ besonders gut sichtbar wird.
„C5N“ ist einer der Twitter-Kanäle (eines alternativen Fernsehsenders) mit andauernd aktualisierter Berichterstattung über die Proteste vor allem – aber nicht nur – in verschiedenen Stadtteilen von Buenos Aires.
„Las imágenes de la represión“ am 18. Dezember 2017 bei Tiempo Argentino ist eine kleine Fotodokumentation des Polizeiaufmarsches (mit und ohne Uniform) gegen den Protest, die sowohl die hemmungslose Repressionsmaschine deutlich macht – als auch den entschiedenen Widerstand dagegen.
„SESIÓN EN VIVO: H. Cámara de Diputados de la Nación – 18 de Diciembre de 2017“ am 18. Dezember 2017 bei You Tube ist die Live Übertragung der Parlamentsdebatte (die um 04.30 BRD Zeit am 19.12 bereits 10 Stunden andauerte) – unseren Leserinnen und Lesern, die masochistische Neigungen haben, wärmstens anempfohlen (vor allem der Beginn, wo die Herren und Damen des Regierungsbündnisses Cambiemos die Polizei für ihre Gewaltorgie lobpreisen).
„La CGT anunció paro de 24 horas desde las 12 y propone „consulta popular““ am 18. Dezember 2017 bei argentina.indymedia ist die Dokumentation der Pressekonferenz des Gewerkschaftsbundes CGT vom Morgen des Tages, auf der der Streikbeginn um 12 Uhr verkündet wurde – und eine Volksbefragung zur Rentenreform gefordert. Innerhalb der CGT hatte es zuvor mehrere Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen organisierten Fraktionen gegeben – so weigerte sich etwa die Transportgewerkschaft UTA, diesen Streikbeschluss mit zu tragen (mit der Begründung „Politik wird im Parlament beschlossen“ und inkonsequent ist dabei nur, dass diese hohen Geistesritter nicht ihre Selbstauflösung verkündet haben), und es musste sich auch erst gewaltiger Druck innerhalb der Organisation entfalten, um die ursprüngliche – neutral gesagt, seltsame – Haltung zu verändern, erst nach Beschlussfassung des Parlaments zu streiken.
„Lo que faltaba: la CGT repudia la “violencia de la protesta” y oculta la represión“ am 18. Dezember 2017 bei La Izquierda Diario ist ein Beitrag über diese selbe Pressekonferenz des Triumvirats (das Konstrukt der CGT, eine – eigentlich provisorische – Leitung aus je einem Vertreter der drei größten Fraktionen zu bilden), wo die Haltung der drei Sprecher der CGT, „extreme Gruppen“ unter den DemonstrantInnen für die Gewalt verantwortlich zu machen und über den Polizeiterror zu schweigen (kommt das irgend jemand irgendwie bekannt vor?) massiv kritisiert wird.
„Otra vez el pueblo movilizado. Otra vez la salvaje represión“ am 18. Dezember 2017 bei der CTA-T dokumentiert, ist die gemeinsame Erklärung der beiden CTA Fraktionen zu den Ereignissen des Tages, worin sowohl die mächtige Mobilisierung begrüßt wird, als auch die Polizeirepression ausführlich und ausdrücklich kritisiert (was dann eben schon noch ein Unterschied zur CGT ist, siehe oben).
„Confirmado: el paro de la UTA era un verso“ am 18. Dezember 2017 bei La Izquierda Diario ist ein kurzer Beitrag über die Mitteilung der Unión Tranviaria Automotor, dass sie sich nicht am Streik der CGT beteilige. Weswegen in dem Beitrag auch Überlegungen angestellt werden, wie denn wohl die Zukunft der mehrfach gespaltenen CGT aussehen möge…
„Con tensión entre duros y dialoguistas, la CGT sigue en estado de alerta“ am 16. Dezember 2017 bei Linea Sindical war im Vorfeld des neuen Protesttags ein Beitrag, der die internen Spaltungen der CGT „zwischen Hardlinern und Dialogbereiten“ darstellt. Dass die Hardliner so hart denn auch nicht sind, wird dabei deutlich (wie auch die unmaßgebliche Meinung von LabourNet Germany unterstützt wird, der Peronismus in all seinen Varianten sei die Würgeschlinge der argentinischen Gewerkschaftsbewegung).
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Widerstand gegen die Rentenkürzungen in Argentinien
Bericht von Alix Arnold von den Demonstrationen am 18./19. Dezember
Heute Morgen um 7 Uhr (Ortszeit) hat das argentinische Parlament in einer Sondersitzung, die gestern um 14 Uhr begonnen hat, die umstrittene Rentenreform mit einer knappen Mehrheit beschlossen. Durch eine Änderung des Verfahrens, mit dem die Renten an die Inflation angepasst werden, verlieren die 17 Millionen Rentner*innen in Argentinien, von denen die Mehrheit sowie schon in ärmsten Verhältnissen leben muss, 4,8 Milliarden Euro. Gegen den „Sparkurs“ der Macri-Regierung auf Kosten der Ärmsten im Land formiert sich der Widerstand. Die Parlamentsdebatte war durchgehend von heftigen Protesten und riesigen Demonstrationen begleitet. Der Widerstand konnte die Verabschiedung des Gesetzes zwar nicht verhindern, aber die Bewegungen haben an Stärke gewonnen. Die Massenproteste der letzten Tage mündeten gestern Nacht in einen landesweiten Cacerolazo, wie die spontanen Lärm-Demonstrationen mit Kochtöpfen (cacerolas) genannt werden. Die Erinnerung an den Aufstand in Argentinien vor genau 16 Jahren war heute Nacht auf den Straßen wieder höchst lebendig.
Der gestrige Tag war mit Spannung und Anspannung erwartet worden. Nach dem Einsatz von 1000 Militärpolizisten der Gendarmerie am letzten Donnerstag und einer brutalen Repression, wie es sie im Land lange nicht mehr gegeben hat, war die Wut riesengroß. Die Führungen der größten Gewerkschaften der CGT, die sonst gerne mit der Regierung paktieren, sahen sich gezwungen, sich in irgendeiner Weise den Protesten anzuschließen. Ihr Herumlavieren war erbärmlich. Den endgültigen Beschluss zu einem 24-stündigen Streik ab 12 Uhr fassten sie erst drei Stunden vorher, und sie mobilisierten die Kolleg*innen nicht für die Teilnahme an der Demonstration vor dem Kongress. Es könnte ja Unruhen geben. Aus dem gleichen Grund riefen sie auch die Arbeiter*innen der U-Bahn Subte auf, die Arbeit erst nachts einzustellen und vorher die Demonstrant*innen aus der Innenstadt weg zu bringen. Die Transportgewerkschaft UTA schloss sich dem Streik erst gar nicht an. Aber trotz dieser demobilisierenden Haltung der „Gewerkschaftsbürokraten“ gingen gestern viele Kolleg*innen auf die Straße. Die Blöcke von Gewerkschaften und Betrieben waren wesentlich zahlreicher und größer als am Donnerstag bei der ersten Sondersitzung des Parlaments zu diesem Thema. Nach der Repressionserfahrung der letzten Woche hatten viele Gruppen und Blöcke Schutzmaßnahmen ergriffen. Telefonlisten wurden erstellt und WhatsApp-Gruppen gegründet um notfalls feststellen zu können, ob alle heil aus dem Chaos herausgekommen sind.
Ab 12 Uhr begann sich der Platz vor dem Kongress zu füllen. Die sogenannten sozialen Bewegungen der organisierten Arbeitslosen hatten bereits ab 8 Uhr morgens wichtige Zufahrtsstraßen in die Hauptstadt blockiert. Aus allen Richtungen kamen Demonstrationszüge von verschiedenen Treffpunkten. Der gesamte riesige Platz war dicht gedrängt gefüllt, ebenso die angrenzende große Avenida de Mayo und ein Teil der zehnspurigen Avenida 9 de Julio, die als „Wartezimmer“ bezeichnet wurde für diejenigen, die zunächst keine Chance hatten, auf den Platz zu kommen, und sich erst mal auf dieser Hauptstraße niederließen. Ich habe keine Zahlen gefunden, wie viele Menschen an diesen Demonstrationen beteiligt waren, aber nach den Luftbildern müssen es Hunderttausende gewesen sein.
Schon vor dem Beginn der Parlamentsdebatte begannen vor dem Kongress die Auseinandersetzungen. Hier war zwar noch keine Gendarmerie im Einsatz, aber die städtische Polizei verfügt über ein ähnliches Arsenal von Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen. Im Unterschied zum Donnerstag waren es an diesem Montag nicht einzelne zornige Jugendliche, die gegen die Gitter, mit denen der Kongress diesmal noch weiträumiger abgesperrt war, und die Polizei vorgingen, sondern große Gruppen, die mit allem schmissen, was greifbar war. Wie schon letzte Woche war die Stimmung auf dem Platz von einer großen Solidarität und gegenseitiger Aufmerksamkeit geprägt. Die notwendigen Rückzüge fanden fast immer geordnet und langsam statt; immer wieder hieß es beruhigend „Nicht rennen!“ Eine Panik in dieser dicht gedrängten Menge hätte fatale Folgen haben können. Beeindruckend war bei dieser stundenlangen Auseinandersetzung die Beharrlichkeit, mit der die Leute ihren Platz auf der Straße immer wieder zurückerobert und verteidigt haben. Wenn sich ein Block zurückzog, schob sich ein anderer mit Riesentransparenten nach vorne. Auch wenn nachher wieder die üblichen Distanzierungen zu hören waren oder auch vielleicht berechtigte Kritik an manchen Aktionen, gab es auf dem Platz keine Trennung zwischen den „Gewalttätigen“ und anderen Demonstrant*innen. Die häufigste Antwort auf die Polizeiangriffe war die Parole von der Einheit der Arbeiter*innen, und dass diejenigen, denen das nicht passt, sich verpissen sollen: „Unidad de los trabajadores, y al que no le guste, que jode“. In den Nebenstraßen, in die sich viele zurückgezogen haben, standen Menschentrauben vor Büdchen und Restaurants, um die Fernsehnachrichten zu sehen. Kommentare des Sensationssenders Crónica wie „Sie machen alles kaputt!“ oder „Molotov-Cocktails gegen Wasserwerfer“ wurden mit Jubel und Klatschen gefeiert.
Nachdem sich der Platz dann doch leerte, begann wieder die Jagd auf Demonstrant*innen, mit ähnlicher Gewalt wie am Donnerstag: Polizisten, die mit Motorrädern durch die Menge rasen und aus nächster Nähe Leute mit Gummigeschossen und Tränengas beschießen, brutale Festnahmen, Stürmungen von Kneipen und auch Privatwohnungen, in die sich Menschen geflüchtet hatten. Sogar eine U-Bahnstation wurde mit Tränengas eingenebelt. Am Nachmittag kam dann trotz gegenteiliger Ankündigung auch wieder die Gendarmerie zum Einsatz. Laut der autonomen Menschenrechtsorganisation Correpi gab es mehr als 80 Festnahmen. Hunderte wurden verletzt, manche schwer; mehrere Menschen verloren durch die Repression ein Auge. Aber trotz all dieser Gewalt gingen die Proteste weiter.
Ab 20 Uhr zirkulierten die ersten Aufrufe, sich in den Stadtteilen zu Cacerolazos zu treffen. An immer mehr Straßenecken versammelten sich Leute mit Töpfen, Pfannen, Trommeln und anderen Krachinstrumenten – zunächst in Buenos Aires und dann auch in anderen Städten im ganzen Land. In Buenos Aires hieß die Parole irgendwann wieder „Auf zum Kongress!“, und so zogen mitten in der Nacht erneut Demozüge in die Innenstadt. Hier nun der sehr subjektive Bericht von einer dieser Demos.
Im Stadtteil Villa Urquiza, in dem ich gerade ein paar Wochen zu Besuch bin, beginnt der Cacerolazo an der Kreuzung der beiden vierspurigen Straßen Triunvirato und Avenida de Los Incas. Unter den ersten, die die Kreuzung besetzen, sind Bewohner*innen des kleinen Barrio Parque Chas, die seit zwei Jahren ein sehr aktives Nachbarschaftskomitee betreiben und bereits am Samstag an dieser Stelle mit Schildern gegen die Rentenkürzung demonstriert haben. Zunächst reicht die Menge nur aus, um jeweils zwei Fahrspuren zu blockieren, aber die Kreuzung füllt sich schnell. Über Triunvirato kommt ein kleiner Demozug von Leuten, die sich an einer anderen Straßenecke getroffen haben. Sie werden mit großem Applaus begrüßt. Bald ist die Kreuzung komplett gesperrt, mit Trommeln, Gesängen, Parolen und bester Laune. Allein in diesem einen Stadtteil sind wir mindestens 2000 Leute. Wie viele sind wohl im ganzen Land auf der Straße?
Dem nächstgelegenen Büdchen gehen bei diesem unerwarteten Ansturm die Kaltgetränke aus. Die Stimmung erinnert an die bewegte Zeit nach dem Aufstand, als ständig Kreuzungen gesperrt wurden und die Kommunikation auf der Straße stattfand. Kein Problem, mit wildfremden Leuten ins Gespräch zu kommen, in einer Stimmung von Komplizenschaft und selbstorganisierter Stärke. Eine Versammlung von Autoconvocadxs, von Leuten, die „sich selbst aufrufen“, ohne dafür eine Partei oder Gewerkschaft zu brauchen. Villa Urquiza ist ein Mittelschichtsviertel. Vermutlich demonstrieren hier heute auch Leute, die Macri gewählt haben. Aber in der derzeitigen Empörung über eine Rentenreform, die von 70 Prozent abgelehnt wird, ist „das Volk vereint“, wie immer wieder gerufen wird. Wir treffen sogar die Vermieterin des Apartments, das wir für die Zeit unseres Aufenthaltes hier gemietet haben. Aber auch in dieser Mischung von Leuten ist die häufigste Parole die von der Einheit der Arbeiter*innen. Weniger sympathisch ist das gemeinsame Singen der Nationalhymne, das aber zum Glück nur einmal zelebriert wird.
Ein großer Teil der Versammlung bricht schließlich zum neun Kilometer entfernten Kongress auf. Da wir noch auf eine Freundin warten, bleiben wir auf der Kreuzung. Nicht lange danach taucht der nächste kleine Demozug mit einem Transparent „Asamblea Villa Urquiza“ auf. Diese Stadtteilversammlung hat sich nach dem Aufstand Anfang 2002 gegründet und durch eine Besetzung ein Lokal bekommen, das bis heute für zahlreiche politische und kulturelle Aktivitäten dient, aber vom Verkauf an eine Immobilienfirma bedroht ist, die auf dem Gelände Hochhäuser bauen will. Mit der Ankunft dieser Asambleistas wird die Party auf der Kreuzung wieder lauter, doch irgendwann kommt auch hier die Idee auf, zum Kongress zu ziehen. Die Menge ist zunächst zögerlich, bis eine sehr energische Compañera schließlich eine Gruppe von etwa hundert Leuten überzeugt. Über leere Straßen geht es Richtung Zentrum. Autos und Motorräder hupen zustimmend; Anwohner*innen und Passant*innen begrüßen freudig unsere kleine Demo. Wir sind unsicher, ob wir mitten in der Nacht noch diesen ganzen Fußmarsch schaffen, aber es kommt anders. Am Bahnhof Federico Lacroze steht ein Bus mit dem Ziel Innenstadt, und nach einem kurzen Gespräch mit dem sehr coolen Busfahrer quetschen sich alle samt Transparent und Trommeln rein. Eine unvergessliche Fahrt durch das nächtliche Buenos Aires mit einem Haufen fröhlicher Menschen, die zu ständigem Getrommel die in Argentinien bei Demonstrationen üblichen umgedichteten Lieder aus den Fußballstadien singen: Zur Ermordung von Santiago Maldonado und Rafael Nahuel durch die Gendarmerie, zu den 30000 Verschwundenen der Diktatur, und natürlich immer wieder zu Macri, der abhauen und sich seine Rentenreform in den Arsch stecken soll. Zwischendurch dann ein großer Applaus für den Busfahrer, der uns zügig in die Innenstadt bringt. Um halb zwei – zwölf Stunden nach dem Beginn der heftigen Auseinandersetzungen – kommen wir wieder am Kongress an. Die letzten Meter sind wie ein fröhlicher Triumphzug: Wir sind wieder da! Der Platz vor dem Kongress und die angrenzenden Straßen sind voll von Menschen, diesmal ohne die Großtransparente von Parteien und Gewerkschaften, und es herrscht ein ohrenbetäubender Lärm. Wahrscheinlich glaubt kaum jemand, dass wir damit die Abstimmung über die Rentenkürzung wirklich noch verhindern können, aber die Freude über das Gefühl gemeinsamer Stärke, das nach langer Zeit auf die Straße zurückgekehrt ist, ist allgegenwärtig. Um drei Uhr lässt es sich die Polizei nicht nehmen, nochmal eine Auseinandersetzung zu provozieren, und um 7 Uhr erreicht Macri die gewünschte Mehrheit im Parlament. Ob er dies wirklich als Sieg verbuchen kann, oder ob dies nicht eher der Anfang einer Regierungskrise und eines neuen Aufschwungs der Bewegungen ist, wird sich zeigen.
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„Zwischenbericht aus Buenos Aires“
Von Alix Arnold am 18. Dezember 2017 (vor Protestbeginn) verfasst – eben zwischen den Protesten vom Donnerstag letzter Woche und dem Montag
„Heute ist in Argentinien ein sehr besonderer Tag und niemand weiß, was passieren wird.
Die Mobilisierung gegen den Versuch, heute mit einer weiteren Sondersitzung die Rentenkürzung im Parlment durchzubekommen, wird sicher riesig. Die Belagerung des Kongresses am letzten Donnerstag, wegen der die geplante Parlamentssitzung abgebrochen werden musste, hat gezeigt, dass Erfolge gegen diese Regierung möglich sind, aber auch wieder mal deutlich gemacht, wieviel Repression und Gewalt gegen den Widerstand aufgefahren wird.
Präsident Macri hat inzwischen mehrere Gouverneure überzeugt, die Rentenreform zu unterstützen und ihre Abgeordneten auf Linie zu bringen. Sie gehen also davon aus, dass sie heute die Beschlussfähigkeit und nötige Mehrheit im Parlament zusammen kriegen. Als „Ausgleich“ soll es eine Einmalzahlung geben für Rentner*innen, die weniger als 10000 Pesos Rente haben und Empfänger*innen des Kindergeldes für Arme (10000 Pesos sind weniger als 500 Euro, der als Minimum ausgerechnete Warenkorb liegt bei 17500 Pesos. 53% der Rentner*innen bekommen nur die Mindestrente von 7200 Pesos. Ohne Arbeit oder Unterstützung durch die Familie ist Überleben mit so einer Rente unmöglich) . Die geplante Ausgleichszahlung ist ein lächerlicher Betrag, der nur ein paar Prozent von der Summe kosten wird, die sie den Rentner*innen dann abnehmen.
Die „sozialen Bewegungen“, wie die organisierten Arbeitslosen / Piqueterxs heute genannt werden, haben Blockaden sämtlicher Zufahrtsstraßen in die Hauptstadt und weitere in Provinzen angekündigt.
Die „Bürokraten“ des Gewerkschaftsdachverbandes CGT wollen angesichts der massiven Mobilisierungen nun doch zum Streik aufrufen (endgültig entscheiden werden sie das in der nächsten Stunde), leider erst ab 12 Uhr, also zwei Stunden vor der angesetzten Parlamentsdebatte (aber immerhin noch vor und nicht erst – wie letzte Woche geplant – nach dem Parlamentsbeschluss).
Die Regierung hat angekündigt, nicht mehr die Gendarmerie auf die Demonstrant*innen loszulassen. Die kriegsartigen Bilder und Situationen, die 1000 Militärpolizisten letzten Donnerstag produziert haben, möchten sie wohl doch nicht wiederholen. Unter den von der Gendarmerie Festgenommenen und Misshandelten waren z.B. auch eine Frau, die gerade ihre Arbeitsstelle verließ, und Obdachlose, die in der Nähe des Kongresses auf der Straße leben. Die Festgenommenen der letzten Woche sind bis auf zwei, die noch andere Verfahren offen hatten, wieder frei. Heute soll dann die Polizei die Repression übernehmen. Die können das leider auch sehr gut. Kurz vor dem Jahrestag 19./20. fühlen sich hier viele an den Aufstand im Dezember 2001 erinnert“.
- Siehe zuletzt am 16. Dezember 2017: Buenos Aires: Zum dritten Mal große Proteste innerhalb von drei Tagen, nachdem Macris Polizei alte Menschen überfiel