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HBV – lechts und rinks im Bündnis für Arbeit

Die Tarifrunde Einzelhandel – ein politisches Desaster

Von Anton Kobel

 

Die Gewerkschaft HBV war politisch fulminant ins "Jahr 2000" gestartet. Im Januar hatte die Vorsitzende Mönig-Raane heftig Position gegen das Bündnis für Arbeit bezogen. HBV hatte mit guten Gründen kein gutes Haar an den rot-grünen Rentenabbauplänen gelassen und laut gegen das Modell der IGM einer "Rente mit 60" polemisiert. Für die Tarifrunde 2000 wurden stattdessen deutliche Gehaltserhöhungen gefordert. HBV bewies sich erneut als linke Gewerkschaft, mit Worten und auf dem Papier, von Januar bis April, mancherorts gar bis Juli – um ein Ergebnis der Tarifrunde vorwegzunehmen.

 

Die Ausgangssituation

Die wirtschaftliche Entwicklung sprach für kräftige Gehaltserhöhungen. Im ersten Halbjahr 2000 stieg der Einzelhandelsumsatz um über drei Prozent. Die gestiegene Kaufkraft hatte die Kassen im Einzelhandel erreicht. Die Umsatzproduktivität je Beschäftigten stieg seit 1994 jährlich um über drei Prozent, in den letzten fünf Jahren um ca. 17 Prozent insgesamt. Die zugrunde liegende gestiegene Arbeitshetze hatte ihre Ursachen im Abbau des gesamten Arbeitszeitvolumens um 11,8 Prozent zwischen 1994 und 1999. Gleichzeitig waren die Verkaufsflächen um 11,7 Prozent gestiegen. In den Belegschaften wurde das Personal direkt um 3,7 Prozent abgebaut und indirekt durch die weitere Zunahme von Teilzeitarbeit: Von 1994-99 fiel der Anteil der Vollzeitbeschäftigten von 56 auf 50 Prozent, der Teilzeitanteil stieg von 44 auf 50 Prozent. Innerhalb des Teilzeitanteils nahmen die geringfügig Beschäftigten (630 DM-Kräfte) von 14 auf 26 Prozent zu.

So hatten die Handelskonzerne auch im Vernichtungswettbewerb ihre Profite gesichert, nachdem der Wiedervereinigungsboom Mitte der 90er verebbt war. Seitdem bestimmten die Konzerne mit Gejammer auf hohem Niveau das öffentliche Bild. Die weiter gestiegene Arbeitshetze und den forcierten Personalabbau erlebten dagegen die Kunden und die Beschäftigten.

Die soziale Lage der Beschäftigten wird geprägt von niedrigen Einkommen. Noch immer liegen die Gehälter im Einzelhandel weit hinten im Vergleich mit anderen Branchen. Das Spitzengehalt einer gelernten Verkäuferin in Vollzeit betrug Ende März d.J. 3.449 DM brutto monatlich, der Stundenlohn 21,16 DM. Der Vorstandsvorsitzende des Kaufhofs soll monatlich ca. 400.000 DM und damit soviel wie 120 VerkäuferInnen, der von Rewe immerhin ca. 3 Millionen DM jährlich erhalten. Viele, vor allem weibliche Beschäftigte, brauchen eine zusätzliche Einkommensquelle, entweder durch den Ehepartner oder einen Zweitjob.

 

Erosion des Arbeitgeberverbandes und des Flächentarifvertrages

Jahrzehntelang hatte HBV die Tarifverträge mit den Landesverbänden der Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels (HDE) geschlossen. Sie wurden meist auf Antrag der Arbeitgeber wegen gleicher Konkurrenzbedingungen von den Arbeitsministerien für allgemeinverbindlich erklärt und galten für alle Betriebe, auch die so genannten Außenseiter wie Walmart, Schlecker, Möbel Mann, Woolworth, C+A, die keinem Verband angehörten. Dichter konnte kein Flächentarif sein.

Im Sommer 1999 spaltete sich jedoch von der HDE die BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft der Groß- und Mittelbetriebe) ab. In der BAG sind ca. ein Drittel der Firmen organisiert, u.a. Karstadt/Hertie, Neckermannn, P&C, der Versandhandel. In der HDE verblieben der Metro-Konzern mit Kaufhof, real- und Media-Märkten, die Lebensmittelfilialbetriebe wie Rewe, Lidl, Edeka, Spar sowie fast alle Kleinbetriebe.

Zur weiteren Erosion der Verbände und der Tarifverträge trug bei, dass HDE und BAG ihren Firmen auch eine Mitgliedschaft ohne (!) Tarifbindung anbieten. Zusätzlich hatten beide Verbände erklärt, dass sie einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) der Tarifverträge nicht mehr zustimmen würden.

Deregulierter und erodierter geht es kaum. Die tarifpolitische Landschaft des Einzelhandels war total verändert.

 

Eine neue HBV-Tarifpolitik war gefordert

In dieser komplizierten neuen Situation hätte HBV eine neue Tarifpolitik entwickeln müssen: gegenüber den Verbänden, deren Mitgliedern ohne Tarifbindung, den Tarif-Außenseitern sowie gegenüber der rot-grünen Regierung, sprich: Arbeitsminister Riester, um trotz des Widerstandes der Arbeitgeberverbände vom Staat die AVE zu bekommen und so der Erosion der Tarifverträge entgegenzuwirken. Eine solche neue Politik hätte innerhalb der HBV und mit der DAG abgestimmt und koordiniert werden müssen. Passiert ist so gut wie nichts bzw. nur Unzureichendes. Und das wenige Monate, bevor die Manteltarife kündbar waren.

Ein weiteres Ergebnis vorweg: Es gibt keine AVE, keinen einzigen Tarifvertrag mit einem der großen Außenseiter und keine Regelung mit den Verbänden über deren Mitglieder ohne Tarifbindung.

 

Ablauf der Tarifrunde

Das HBV-Ziel war eine kräftige Erhöhung der Entgelte – 5 bis 5,5 Prozent – und das für zwölf Monate. Eine längere Laufzeit lehnte HBV bundesweit ebenso ab wie eine tarifliche Altersrente. Als einziger Landesbezirk hatte Nordrhein-Westfalen eine Tarifrente sowie 4 Prozent mehr Geld gefordert. Trotz dieser singulären NRW-Forderung und entgegen aller Absprachen in HBV entwickelte sich NRW zum Pilotbezirk. HBV-intern gilt es als ein offenes Geheimnis, dass es eine diesbezügliche Sonderabsprache zwischen den HBV-Spitzen, der DAG und den Arbeitgebern gegeben hat. Während in NRW verhandelt wurde, wurden die anderen Landesbezirke von den Arbeitgebern auf die lange Bank geschoben. Beispiel Baden-Württemberg: Der Tarifvertrag war zum 31. März gekündigt, die erste Verhandlung war am 14. April und die zweite erst wieder am 19. Mai.

Dennoch kam es in NRW zu keinem Pilotabschluss. Den Arbeitgebern war zwar die Spaltung von HBV, aber kein besonderer Billigabschluss mit Tarifrente gelungen.

Ab Ende Mai entstand eine beeindruckende Streikwelle in Rheinland-Pfalz, NRW, Baden-Württemberg, Thüringen und – etwas weniger ausgeprägt – in Bayern und Hessen. In Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen gab es keinen einzigen Streik.

Am 15. und 16. Juni erzielte HBV im Saarland und in Rheinland-Pfalz einen Tarifabschluss: Nach einem Nullmonat 2,5 Prozent sowie 20 DM für vermögenswirksame Leistungen und keine Tarifrente. Die Arbeitgeber widerriefen diese Abschlüsse nach Intervention ihrer Bundeszentralen. Dies führte zu verstärkten Streikaktionen. Denoch schlossen HBV und DAG am 22. Juni für Hamburg einen Tarifvertrag mit Tarifrente ab. Und obwohl sie sich nicht an den Tarifaktionen beteiligt hatten, wurde der Hamburger Abschluss der Tarifrente zum Pilotabschluss, der zudem ohne Erklärungsfrist sofort wirksam wurde.

Weitere massive Streiks andernorts haben an dessen Pilotcharakter nichts mehr ändern können. Nach und nach schloss ein Landesbezirk nach dem anderen – z.T. nach heftigen internen Kontroversen – Tarifverträge nach dem Hamburger Modell ab. Das Bündnis für Arbeit war so im Einzelhandel bei HBV durchgesetzt, mit lechts und rinks. Plötzlich wurde der Einstieg in eben jene tarifliche Altersvorsorge von der HBV gefeiert, die monatelang abgelehnt und mit guten Gründen bestreikt worden war. Eine wunderliche Wandlung – und ein Vorgriff oder Vorgeschmack auf ver.di?!

 

Die Tarifrente – ein Windei für die Beschäftigten

Ab 1. Dezember dieses Jahres bzw. 1. Januar 2001 erhalten Vollzeitkräfte monatlich 20 DM, Teilzeitkräfte anteilig, Azubis und jugendliche Vollzeitkräfte 10 DM, sofern diese Beträge für die Altersvorsorge verwendet werden. Bei dieser Tarifrente handelt es sich um eine private Altersvorsorge auf tariflicher Basis. Doch wie diese konkret aussieht, ob damit auch eine Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente einhergeht, ob Witwen- und Waisenrenten entstehen, weiß derzeit kein Mensch. Niemand kennt die Höhe eventueller Renten, doch alle ahnen, dass dabei nur Minirenten entstehen. Darüber hinaus wurden weder die Träger einer solchen Tarifrente vereinbart, noch wurde geklärt, was bei Arbeitslosigkeit und Branchenwechsel passiert.

All diese offenen Fragen sollen im Herbst in Pilotverhandlungen geregelt werden. Da wird es noch viel Spaß und Stress geben. Die Arbeitgeber haben ganz andere Vorstellungen als HBV. Sie wollen die Beiträge zur Tarifrente in ihren Geldkreisläufen bzw. Unternehmen und Konzernen halten. In ihren Verbandszeitschriften feiern sie den kostengünstigen Abschluss und "den dringend notwendigen Umstieg bei der Alterssicherung hin zu einer ausschließlich mitarbeiterfinanzierten (!) Kapitaldeckungslösung". (Handelsmagazin BAG, Nr. 7-8/2000) Das haben sie erreicht. Sie feiern auch die "weitgehende Bündnistreue" der Tarifabschlüsse. Die Einzelhandelskonzerne wissen, dass sie mit HBV und DAG einen Einstieg in den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung vereinbaren konnten. Das scheint mehr als ein Etappensieg.

Mit dem Abschluss einer Tarifrente, deren Finanzierung allein durch Gehaltsverzicht erfolgt und die voll auf die Tariferhöhungen angerechnet wird, hat HBV die Tarifverhandlungen der nächsten Jahre vorprogrammiert. Die Gehälter im Einzelhandel werden damit im Verhältnis zu anderen Branchen noch niedriger ausfallen – ein weiterer, diesmal gewerkschaftlicher Beitrag zur Entwicklung eines Niedriglohnsektors Einzelhandel mit Auswirkungen auf die heutige Gehalts- und künftige Rentenhöhe.

Ein Beispiel soll diese Absurdität verdeutlichen: Eine geringfügig Beschäftigte (630 DM-Kraft) mit 40 Arbeitsstunden im Monat wird für eine Tarifrente monatlich 4,91 DM (!) zurücklegen. Nach 25-30 Jahren Ansparzeit wird es nicht mal 10 DM monatliche Rente geben, je nachdem welche Leistungen daran gekoppelt sind.

 

Rückblick und Kuriositäten

Das Tarifergebnis ist eine Niederlage vor allem der Landesbezirke, die gegen eine Tarifrente gestreikt haben, z.B. Baden- Württemberg und Rheinland-Pfalz. Eine Niederlage ist auch, dass anderslautende Abschlüsse in Rheinland-Pfalz und Saarland mit Hilfe von Hamburg wieder gekippt wurden. Die politische Niederlage, ein "Ja" zum Bündnis für Arbeit und zur Tarifrente, wird lange anhalten. HBV hat sich damit eine neue Wendigkeit erworben und für die nächste Zeit aus der Ernsthaftigkeit verabschiedet.

Angesichts dieses gewerkschaftlichen Desasters nehmen sich Streikverbote, wie sie der HBV-Landesleiter von Baden-Württemberg für streikwillige Belegschaften in Mannheim – mit welchem Recht? – "erlassen" hat, ebenso kurios aus wie die Vertagung der Tarifverhandlungen in Niedersachsen vom 5. Juli auf den 25. August, ohne dass gestreikt wurde. Doch ist es auch als kurios zu bezeichnen, wenn Walmart gegen HBV einen Tarifvertrag verhindern kann, dafür aber die Gehälter um 3 Prozent erhöht statt um 2,5 Prozent, wie in den Tarifabschlüssen vereinbart? Und ist es noch kurios, wenn HBV-Landesleiter die Tarifrunde vor allem als Mitgliederwerbekampagne betrachten und die Ergebnisse dann nebensächlich scheinen?

Kaum kurios dürfte es jedenfalls sein, wenn die Arbeitgeber den Hamburger Abschluss als kostengünstigen Billigabschluss loben. Und ebenfalls nicht mehr unter das Stichwort "Kuriosität" fällt die Enttäuschung und Verbitterung bei vielen Aktiven wegen dieses HBV-Kurses. Ob sie nochmals oder gar bald wieder eine solch große und lange Streikbereitschaft entwickeln können bzw. wollen, ist zweifelhaft. Die große Bereitschaft in den Jahren 1999 und 2000 ist nicht beliebig abrufbar.

Es bleiben offene Fragen: Hatte HBV wegen der ver.di-Vorarbeiten nicht genug Zeit für Tarifpolitik? Oder gab es Angst vor dem Kampf gegen Kapital und Kabinett? Oder nehmen Teile der HBV inzwischen Züge der DAG an, und ist vielleicht auch deshalb ver.di so attraktiv?

 

Erschienen in: express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 9/2000
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