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Updated: 18.12.2012 15:51
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Neustart Arbeitszeit

Ein Versuch, die Arbeitszeitfrage aus der Wettbewerbslogik zu befreien von Werner Sauerborn*

Im Grunde ist Arbeitszeitverkürzung die Königsdisziplin gewerkschaftlicher Tarifpolitik, gewerkschaftlicher Politik überhaupt. Über die Verteidigung des materiellen Überlebens im Kapitalismus hinaus ist sie ein Stück Emanzipation in und von der Arbeit. Sie schafft die Spielräume für ein besseres Leben, wir können mehr für uns, unsere Gesundheit oder Bildung tun, für Beziehungen und Familien. Männer, die sich in Umfragen mehr noch als Frauen kürzere Arbeitszeiten wünschen, hätten die Gelegenheit, sich mehr um Kinder und Familie zu kümmern und so ihren überfälligen Teil zur Geschlechtergerechtigkeit beizutragen. Wie auch immer wir kürzer arbeiten, wir könnten uns mehr um die Gesellschaft kümmern, uns gegen Sachen engagieren, die uns schon lange ärgern und in der Politik oder bei den Gewerkschaften aktiver werden. Arbeitszeitverkürzung, so wie wir sie wollen, ist Gesellschaftsveränderung - das alles ist nicht automatisch so, aber es bietet diese Chancen.

... Und: Arbeitszeitverkürzung ist unser strategisch zentraler Hebel gegen Massenarbeitslosigkeit, die die Durchsetzungsbedingungen für Gewerkschaften entscheidend schwächt. Die Produktivität je Arbeitsstunde ist in Deutschland von 1991 bis 2006 um 32,4 Prozent gestiegen. Ein Drittel mehr zu produzieren, um den Beschäftigungsstand zu halten, ist nicht möglich und oft - Stichwort Klima - auch nicht sinnvoll. Dabei hat das extreme Exportwachstum nur bewirkt, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland, die sonst noch höher wäre, mit unseren Außenhandelsüberschüssen »exportiert« wurde - und jetzt, wo die Exporte einbrechen, wieder zurückkehrt und den krisenbedingten Anstieg der Erwerbslosigkeit in Deutschland spätestens im Herbst dramatisch zuspitzen wird.

Produktivitätssteigerungen, die Arbeit effektiver und damit tendenziell überflüssig machen, sind etwas Urkapitalistisches. Entsprechend muss es zu den »Basics« von Gewerkschaften gehören, diesen Mechanismus durch Arbeitsumverteilung zu kontern. Arbeitszeitverkürzung ist deswegen nicht gewerkschaftliche Kür, sondern Pflicht, genauso wie Lohnpolitik. Diese »Pflicht« hat die Arbeiterbewegung historisch im Großen und Ganzen auch erfüllt. Gerade in der Nachkriegszeit wurde, ausgehend von der 48-Stunden-Woche, die wöchentliche Arbeitszeit verkürzt, der Samstag frei gekämpft und der Urlaub ausgeweitet. Nicht von ungefähr nahm die Arbeitslosigkeit Anfang der 90er-Jahre sprunghaft zu - gerade zu der Zeit, als die bis dahin erfolgreiche Politik der Arbeitszeitverkürzung endete. Massenarbeitslosigkeit, wie wir sie in Deutschland und weltweit haben, ist nicht durchgesetzte Arbeitszeitverkürzung und erst recht: nicht verhinderte Arbeitszeit-verlängerung.

Eigentlich wissen wir das. Noch bei jedem Bundeskongress haben wir uns in die Hand versprochen, einen neuen Anlauf zu nehmen in der Arbeitszeitverkürzungspolitik. Und natürlich haben die MahnerInnen und KritikerInnen recht, die eine 30-Stunden-Woche in Europa fordern. Aber jeder, der die Stimmung in Betrieben oder Tarifkommissionen kennt, weiß, dass nach jahrelangen Reallohneinbußen Arbeitszeitverkürzung beim besten Willen nicht für mobilisierbar, allenfalls für eine schöne Utopie gehalten wird. Pragmatiker, die wir sind, haben wir das Drehen an den großen arbeitszeitpolitischen Rädern aufgegeben, um es an kleineren weiter zu versuchen. Wenn man mehr an den individuellen Arbeitszeitwünschen anknüpfe, so die Hoffnung, könne Arbeitszeitpolitik wieder an Bedeutung gewinnen. Dem diente u.a. eine große Arbeitszeitumfrage unter 25000 Mitgliedern und Nichtmitgliedern. Daraus sind viele Konzepte im Sinne einer arbeitnehmerorientierten Arbeitszeitflexibilisierung entstanden, die es lohnen würden weiter verfolgt zu werden (wie etwa das der Zeitwertgutscheine). Doch zum einen sind wir auch damit nicht richtig vom Fleck gekommen, und zum anderen stellen sie als individuelle Angebote, auch von ihrem Anspruch her, kaum einen Beitrag zur gesellschaftlichen Arbeitsumverteilung dar.

AZV muss wieder auf die Tagesordnung - national & international

So unbestreitbar schwierig derzeit ein Wiederaufgreifen des Themas Arbeitszeitverkürzung ist, so unmöglich ist es, vom anderen Ende her gedacht, für eine Gewerkschaft im Angesicht einer Riesenwelle von Arbeitslosigkeit, das Thema Arbeitszeitverkürzung zu beerdigen - das grenzte an Selbstaufgabe. Aber moralischer Impetus und das Hantieren mit Untergangsszenarien werden nicht viel helfen, solange die Ursache für die Reserviertheit beim Thema AZV nicht geklärt ist. Liegt es daran, dass wir die Forderung nicht gut genug begründet und erklärt oder dass wir sie nicht zeitgemäß oder personenbezogen genug gefasst hätten? Warum erwärmt sich die Kollegin in einem Druckbetrieb, der Kollege bei der Abfallwirtschaft oder bei der Telekom nicht für die guten Argumente für AZV? Weil sie oder er nicht glauben, dass sie damit ihre Arbeitsplätze sicherer machen, sondern befürchten, sie zu gefährden!

Sie wissen, dass eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit, die nicht durch Arbeitsintensivierung oder Lohnverzicht bezahlt wird, Kosten für ihren jeweiligen Arbeitgeber darstellt. Das würde sie nicht weiter beeindrucken, wenn sie davon ausgehen könnten, dass auch alle anderen Firmen, mit denen ihr Arbeitgeber im Wettbewerb steht, die höheren Kosten einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung tragen müssten. Davon können sie aber leider nicht ausgehen, weil wir mit unseren Tarifverträgen nur noch Teile der jeweiligen Branche abdecken: bei der Telekom nicht deren Konkurrenten Vodafone oder O2, in der Abfallwirtschaft nicht die private Konkurrenz, beim Druckbetrieb nicht die Wettbewerber in neuen Bundesländern oder in Russland. Von wegen Flächen(= Branchen)-Tarifverträge!

Also fürchten die KollegInnen, dass ihre Unternehmen weniger profitabel als andere würden, sich Investoren zurückziehen könnten oder dass ihre Druckerzeugnisse/Abfallgebühren/Telefonverträge sich verteuern könnten, was den Verlust von Marktanteilen und damit Arbeitsplätzen zur Folge hätte. Gegen diese oft sehr realistische Befürchtung verpufft jedes volkswirtschaftlich gut begründete Argument, wonach Lohnerhöhungen aber die Massenkaufkraft stärkten und Arbeitszeitverkürzungen die Arbeitslosigkeit eindämmen würden. Wir haben zu lange festgehalten an unseren scheinbar selbstverständlichen Tarif- und Gewerkschaftsstrukturen. Wir haben versäumt, die dramatischen Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen in den letzten 20 Jahren nachzuvollziehen. Jetzt können wir den KollegInnen nicht mehr zusagen, dass das, was für ihren Arbeitgeber gilt, auch für alle seine Konkurrenten gilt, dass es deshalb nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, wenn wir dem Arbeitgeber Mehrkosten aufs Auge drücken.

Unser Problem mit der Arbeitszeitverkürzung ist weniger ein ideologisches als ein Durchsetzungsproblem, ein Problem unserer inadäquat gewordenen gewerkschaftlichen Strukturen - und kann letztlich auch nur in diesem Zusammenhang gelöst werden. Die auf uns zurollende Massenarbeitslosigkeit wird uns branchen- und grenzüberschreitend treffen. Da könnte eine gemeinsame Forderung nach Arbeitszeitverkürzung auch ein Vehikel der Gewerkschaftserneuerung sein. Gerade Arbeitszeitverkürzung lässt sich tarifpolitisch nur gemeinsam in Überwindung der Konkurrenz zwischen Belegschaften der gleichen, oft grenzüberschreitenden Branche durchsetzen - oder gar nicht. Gewerkschaften, die eine solche Perspektive nicht eröffnen, treiben die Belegschaften geradezu in antisolidarische, korporatistische Bündnisse mit ihren Arbeitgebern. Deswegen sollten wir auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Arbeitszeitverkürzung neben Mindestlöhnen und Konjunkturprogrammen auf die Tagesordnung setzen und alles dafür tun, diese Forderung schnell zu operationalisieren und gemeinsam streikfähig zu machen.

Notwendige Schritte auf einem weiten Weg

Während dies erste notwendige Schritte auf einem weiten Weg sind, steht die Tarifrunde 2010 im Öffentlichen Dienst (Bund/Kommunen) vor der Tür. Und das zu einer Zeit, wo die Massenarbeitslosigkeit in die Höhe schnellen wird. Zwar steht der Öffentliche Dienst auch unter erheblichem Kostendruck und war deswegen oft Vorreiter bei Arbeitszeitverlängerungen, er ist aber zumindest in seinem Kernbereich nicht so starken Konkurrenzverhältnissen ausgesetzt, die Streiks in vielen privaten Bereichen erschweren - s.o. Zudem ist der Neoliberalismus als Ideologie (weniger materiell) am Boden, der Öffentliche Dienst und seine Aufgaben haben an Anerkennung gewonnen, in der Krisenbekämpfung sind sie fast unbestritten. Eine Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei maximalem Lohnausgleich, die den Staat in seiner beschäftigungspolitischen Verantwortung ernst nehmen würde, wäre plausibel, begründbar und bei guter Vorbereitung sicher auch streikfähig.

Der öffentliche Sektor könnte so eine Zugpferdrolle gewerkschaftlicher Antikrisenpolitik einnehmen. Tarifauseinandersetzungen um kürzere Arbeitszeiten müssten im privaten Sektor und grenzüberschreitend anschlussfähig gemacht und koordiniert werden. Da in den meisten Branchen aus den genannten Gründen und erst recht in Krisenzeiten tarifliche Kämpfe für kürzere Arbeitszeiten schwierig sind, käme es darauf an, eine betriebs- und branchenübergreifende politische Forderung zu entwickeln - nach gesetzlicher Arbeitszeitverkürzung, nach Höchstarbeitszeiten und/oder finanzieller oder regulatorischer staatlicher Förderung einer arbeitszeitverkürzende Tarifpolitik. In einer solchen Perspektive konfliktfähig zu sein, bedeutet, das politische, also auf den Gesetzgeber, nicht den Arbeitgeber gerichtete Streikrecht in Anspruch zu nehmen. Dass dies Gewerkschaften verboten sei, ist auch so ein alter Zopf aus den Zeiten des Rheinischen Kapitalismus. Zugestanden hatten wir in einem »historischen Kompromiss« den Verzicht auf das politische Streikrecht gegen die Zusage der Arbeitgeber, die Einheitsgewerkschaften, die Mitbestimmung und vor allem die Flächentarifverträge zu respektieren. Das tun sie bekanntlich nicht mehr. Was also hält uns?

Die Ausgleichsfrage

Wer mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung (AZV) unterwegs ist und nicht ohne Atempause den Zusatz »bei vollem Lohn- und Personalausgleich« anschließt, riskiert Rüffel, besonders gern von Gewerkschaftslinken. Zurecht, denn gerade als Linke haben wir immer vor dem Risiko gewarnt, dass die Arbeitgeber uns die Kosten der Arbeitszeitverkürzung zuschieben, sei es, indem sie den Lohnausgleich verweigern oder/und die Arbeitszeit intensivieren. Etwas unscharf blieb dabei immer, inwieweit auch von vollem Lohnausgleich zu reden ist, wenn nur der nominale Monatslohn erhalten blieb oder wenn wir über niedrigere Lohnabschlüsse in der Folge an der Finanzierung der AZV beteiligt wurden. Die Warnungen waren jedenfalls allzu berechtigt, denn vielfach haben wir die Arbeitszeitverkürzungen der 80er Jahre mit Lohneinbußen, mehr Stress und Belastungen bezahlt.

Dies hat die Arbeitszeitverkürzung diskreditiert und war eine der Ursachen, warum die Gewerkschaften vor etwa 20 Jahren ihre Arbeitszeitpolitik, wenn auch unfreiwillig, de facto eingestellt haben. Aber zu glauben, man könne sich straf- und folgenlos vom Thema AZV verabschieden, hat sich als historischer Irrtum der Gewerkschaftsbewegung erwiesen. Das geräumte Feld wurde stattdessen von der Gegenseite besetzt durch ihr Verständnis von Arbeitszeitpolitik: erstens Teilzeitarbeit ohne jeden Lohnausgleich und alle möglichen Formen prekärer Jobs völlig außerhalb jeder tariflichen Gestaltung und Kontrolle, zweitens und andererseits entgrenzte und verlängerte Arbeitszeiten (die tatsächliche Wochenarbeitszeit in Deutschland ist allein seit 2003 um 3,3 Stunden auf 41,1 Stunden angestiegen) und drittens massenhaft Arbeitszeit null, d.h. Massenarbeitslosigkeit.

Aus dem moralisch und verteilungspolitisch berechtigten Anliegen des vollen Lohnausgleichs das Prinzip abzuleiten: »wenn kein voller Lohnausgleich, dann gar keine AZV«, hat hinterrücks einen viel größeren Flurschaden angerichtet und dazu beigetragen, dass die Gewerkschaften via Massenarbeitslosigkeit erst richtig in die Defensive gerieten und verteilungspolitisch so stark verloren haben.

Wenn wir einen Neustart in der Arbeitszeitpolitik wollen, müssen wir diese Lektion aufarbeiten. Dazu gehört, sich zu vergegenwärtigen, dass die Forderung nach AZV zwei Dimensionen enthält, die nur analytisch, nicht praktisch zu trennen sind. Die erste ist die Verteilung in der Klasse: Die einen bekommen wieder Arbeit, weil die anderen weniger arbeiten. Dies ist reine Arbeitsumverteilung, die das volkswirtschaftliche Beschäftigungsvolumen nicht erhöht. Dennoch ist diese reine Arbeitsumverteilung für uns von höchster Bedeutung, zum einen weil sie eine Frage der Solidarität aller auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft Angewiesener ist, und zum anderen, weil sie Massenarbeitslosigkeit verhindert, durch die den Arbeitgebern ein wirksames Erpressungsinstrument für Dumpingpolitik aller Art zuwächst.

Die davon zu unterscheidende zweite Dimension der Arbeitszeitverkürzungspolitik ist die Verteilung zwischen den Klassen, also die Frage des Lohnausgleichs. Wie jede Lohnerhöhung erhöht auch jede Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich die Arbeitskosten. Ohne Lohnausgleich ist AZV für die Arbeitgeber vor allem ein Organisationsproblem, mit Lohnausgleich eine Kostenbelastung. Hier liegt der verteilungspolitische Knackpunkt und die Herausforderung für die Gewerkschaften.

Es geht um eine Neubestimmung dieser beiden Dimensionen der Arbeitszeitpolitik zueinander. Die bisherige Verhältnisbestimmung »AZV bei vollem Lohnausgleich oder gar nicht« hat sich als fatal erwiesen und hat, natürlich in Verbindung mit anderen Ursachen, eher ihr Gegenteil erreicht. Arbeitsumverteilung (Dimension 1) eignet sich nicht als Geisel oder Druckmittel für den Lohnausgleich (Dimension 2), weil Arbeitsumverteilung für die Gewerkschaften eine existentielle, nicht aufzugebende, weil an ihre Funktionsfähigkeit rührende Frage ist. Die Verhältnisbestimmung sollte daher lauten: AZV bei maximalem Lohnausgleich, d.h. Arbeitsumverteilung auf jeden Fall und voller Einsatz für einen maximalen und sozial gerechten Lohnausgleich.

Prämisse dieser Argumentation ist, dass Arbeitszeitverkürzung auch Arbeit umverteilt und nicht nur intensiviert. Dieses Anliegen ist im zweiten Zusatz »... bei vollem Personalausgleich!« etwas missverständlich repräsentiert. Als gewerkschaftliche Schlüsselstrategie gegen die Folgen der Krise wird Personalausgleich selten Neueinstellung Erwerbsloser bedeuten, sondern Verhinderung von Erwerbslosigkeit noch Beschäftigter. Aber AZV soll ja nicht nur unsere Antwort auf die Krise sein, sondern wieder zu einer Grundform von Gewerkschaftspolitik werden.

Artikel von Werner Sauerborn, erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 7-8/09

* Werner Sauerborn arbeitet für den ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg. Der Beitrag ist als Kurzfassung erschienen in ver.di-publik, Nr. 6/7 2009 und wurde für den express überarbeitet.

Siehe dazu auch: Weit - und doch zu kurz gesprungen. Mag Wompel zum Versuch, die Arbeitszeitdebatte >neu zu starten<


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