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Updated: 18.12.2012 15:51
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Keine Utopie

Grundeinkommen statt gruseliger Grundsicherung - von Anne Allex

Viele Menschen wünschen sich, in ihrem Leben grundlegend abgesichert zu sein gegen die existenziellen sozialen Risiken und Bedrohungen. Jede und jeder stellt sich allerdings unter einer solchen Absicherung etwas ganz anderes vor. Entsprechend unterschiedlich sind die Konzepte, Begriffe, Begründungen und Argumente für das, was jeweils unter sozialer Absicherung verstanden wird. Im Folgenden stellt Anne Allex das Konzept eines garantierten, bedingungslosen und ausreichenden Grundeinkommens, das ältere Modelle zu einem Existenzgeld in sich aufnimmt, vor, grenzt es zugleich gegen real existierende »Grundsicherungen« unter Hartz IV sowie mögliche Einwände ab und diskutiert den Zusammenhang mit der Forderung nach Mindestlöhnen und Arbeitszeitverkürzung.

Im späten Frühling 2004 trafen sich WissenschaftlerInnen, Erwerbslose und interessierte SozialpolitikerInnen aus Kirchen, Parteien und Verbänden sowie EinzelkämpferInnen nach dem »Perspektivenkongress« (s. express Nr. 5/04) und verabredeten die Gründung eines »Netzwerkes Grundeinkommen«. Seit dem 9. Juli 2004 machen sie sich für ein Grundeinkommen in der Öffentlichkeit stark. Die Eckpfeiler ihres Konzept sind: Das Grundeinkommen soll es für alle geben. Es soll existenzsichernd im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe sein. Es soll ein einklagbarer Rechtsanspruch ohne Bedürftigkeit und Arbeitszwang sein. Für unabhängige und gewerkschaftliche Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen bildet das Netzwerk eine Plattform zur Verbreiterung ihrer Positionen und zum Anstoß einer öffentlichen Debatte für ein Recht auf Existenzsicherung mit und ohne Arbeit.

Noch vor einem Jahr auf der Frankfurter Aktionskonferenz im Januar 2004 war die politische Hauptforderung des »Runden Tisches der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen« nach einem garantierten, ausreichenden und bedingungslosen Grundeinkommen für alle massiv umstritten. Das Mai-Flugblatt »Unsere Existenz ist bedroht - Kampagne für ein garantiertes, ausreichendes und bedingungsloses Grundeinkommen für alle« sorgte dann vor und nach dem Perspektivkongress 2004 für Wirbel und zweigeteilte Resonanz. Während die einen befanden, dass dies die beste Positionierung der organisierten Erwerbslosenbewegung seit langem gewesen sei, meinten andere, das garantierte, ausreichende und bedingungslose Grundeinkommen für alle sei realitätsfern - unterdessen rückte eine andere Form der Grundsicherung mit Hartz IV schon in greifbare Nähe.

Im Sommer und Herbst 2004 wurde die Ablehnung gegenüber der Zerstörung sozialer Sicherheiten dann massenhaft auf die Straße getragen. Potenzielle ALG II-BezieherInnen, prekär Arbeitende und Beschäftigte, die plötzlich ganz allein ihre ganze Familie unterhalten müssen, demonstrierten gegen Hartz IV und die Agenda 2010. Diese Protestierenden kennen die Expertendiskussionen um Bürgergeld, Grundsicherung oder Existenzgeld nicht. Aber sie vereint Wut und Ohnmacht gegenüber der Agenda 2010. Und sie haben genau verstanden, dass ihnen Hartz IV den Boden unter den Füßen wegzieht und ihre bürgerliche Existenz ruiniert. Die Leute wollten »Nicht dauernd Steckrüben«, sie wollten keinen »Notstand am Brotstand«, wie auf Transparenten zu lesen war. Viele Demonstrierende suchten Alternativen. Existenzgeld bzw. Grundeinkommen schienen plötzlich vermittelbar. Auf Pappschildern und Transparenten wurde es gefordert, und viele Verbände nahmen sich des Konzepts nun ebenfalls an.

Die Verschärfung des stummen Zwangs der Verhältnisse und des staatlich diktierten Zwangs zur Arbeit um jeden Preis ist mittlerweile Realität. Obwohl Erwerbslose mehrheitlich gegen »1-Euro-Jobs« waren, sehen sich viele gezwungen, einen solchen Job zusätzlich anzunehmen, weil 345 Euro im Monat nicht zum Leben reichen. Dabei geht es überhaupt nicht um die Erhaltung oder Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitslosen, sondern um die Absenkung von Löhnen. Staatliche Pflichtaufgaben in der Altenpflege, den Schulen, den Kindertagesstätten, der Jugendarbeit, den Frauenhäusern, in der Kultur und der Denkmalpflege sowie weiteren öffentlichen Aufgabenfeldern sollen im Arbeitdienst zum Nulltarif unter Nutzung von Qualifikation und Berufserfahrung der Betroffenen abgeleistet werden. Weiterhin geht es um die Sozialkosteneinsparung, falls Betroffene die Fürsorgejobs ablehnen. Der Gürtel des schlanken Staates ist bei ALG II-BezieherInnen so eng zugezogen worden, dass kein zusätzliches Loch mehr gestanzt werden kann. Die Reproduktion der »Ware Arbeitskraft«, um es in Marxschen Worten zu sagen, ist bei »1-Euro-Jobs« nicht mehr gewährleistet.

Inzwischen ist bei linken und kritischen GewerkschafterInnen unsere politische Hauptforderung nach einem Grundeinkommen als Damm gegen die Armut für alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen breiter ak-zeptiert. Seit den Niederlagen bei Opel, Siemens und Daimler sowie der beginnenden Zerschlagung des Bundesangestelltentarifvertrages sehen auch sie sich weitgehend machtlos gegenüber einer Lohnabsenkung (sofern von Lohn hier noch die Rede sein kann) bis hin zum Nulltarif. Deshalb werden in diesem Spek-trum nun gesetzliche Mindestlöhne als Basis für darauf aufbauende Tariflöhne der Beschäftigten gefordert. Verstanden haben sie, dass durch die wachsende Arbeitsproduktivität der Anteil der lebendigen Arbeit immer kleiner im Verhältnis zum Anteil der vergegenständlichten Arbeit wird. Die damit verbundene Freisetzung von Arbeitskräften konnte z.T. noch durch kompensatorische Beschäftigungsmöglichkeiten im Öffentlichen Sektor aufgefangen werden. Gegenwärtig vergrößert sich aber durch die Steuerpolitik des Bundes und die damit verbundene Privatisierung Öffentlichen Eigentums auch die Arbeitslosigkeit bei den Menschen, die bislang noch in irgendeiner Weise im Öffentlichen Sektor beschäftigt wurden. Bedingungsloses Grundeinkommen für alle, gesetzlicher Mindestlohn sowie eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich sind deshalb drei miteinander verflochtene Hauptforderungen, die nur längerfristig als politischer Kampf um soziale Rechte durchsetzbar sind.

Das Ende der Grundsicherung

Unter den derzeitigen Arbeits- und Lebensbedingungen ist mit der Grundsicherung für Arbeitssuchende (ALG II) die vormalige Grundsicherungsforderung politisch am Ende. Erwerbsarbeitsorientierte Grundsicherungsmodelle von Parteien, Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften sind am Nullpunkt angelangt. Grundsicherung hieß stets Lohnersatzeinkommen im Zustand der Hilfebedürftigkeit, selten als Basis von Emanzipation und gesellschaftlicher Teilhabe und niemals als Recht für jede/n in der BRD Lebenden konzipiert. Grundsicherung erforderte fast immer Bedürftigkeitsprüfung, war arbeitszentriert und enthielt Arbeitszwangselemente. Einer Grundsicherung haftete daher der Geruch einer repressiven staatlichen Fürsorge an. Grundsicherungsmodelle waren zudem auf der Basis des Lohnabstandsgebotes angelegt. Aus diesem Grund beinhaltete Grundsicherung stets eine Option zur Absenkung des sozio-kulturellen Existenzminimums. Etliche Grundsicherungsmodelle waren nicht armutsfest. Wegen dieser Defizite und der politischen Stoßrichtung war die Grundsicherungsforderung zu keiner Zeit wirklich dazu geeignet, eine grundlegende Verbesserung der Situation von Erwerbslosen und Bedürftigen herbeizuführen. Es ist Franz Segbers von der Diakonie deshalb zuzustimmen, wenn er meint: »Wir brauchen eine Alternative zur neoliberalen Sozialstaatsentwicklung, die zwar eine Grundsicherung à la Hartz IV kennt, nicht aber ein Grundeinkommen, das seinen Namen verdient.«

Organisierte Erwerbslose waren nie bereit, sich um den letzten Job zu prügeln. Ihre Existenzgeldvorschläge haben sich immer von der institutionalisierten Grundsicherungsdebatte in den 1980er und 1990er Jahren unterschieden. Das Existenzgeld meinte immer armutsfestes Einkommen für gesellschaftliche Teilhabe sowie Entkopplung von Arbeit und Einkommen. Bereits in den 80er Jahren wurde deutlich, dass eine wachsende Arbeitsproduktivität in Verbindung mit einer kapitalorientierten Politik der Unternehmenssteuerentlastung zu einer wachsender Ausgrenzung breiter Bevölkerungsteile führt. Die Forderung nach einem Recht auf ein garantiertes, ausreichendes und bedingungsloses Grundeinkommen für alle setzt deshalb in doppeltem Sinne einen Kontrapunkt. Sie erteilt der »Standort-Deutschland-Politik« eine Absage, weil diese soziale Absicherung schrittweise zerstört und führt zu der Frage, wie lange wir uns diese kapitalorientierte Politik der Verarmung und der Privatisierung öffentlicher Aufgaben noch leisten wollen. Außerdem markiert sie eine Perspektive für ein besseres Leben ohne die Zwangsverhältnisse der Erwerbsarbeit.

Mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen werden soziale Leistungssysteme zerstört. Das Niederreißen aller sozialen Auffanglinien befindet sich, glaubt man den »Reformern« bei Rot-Grün und in der Opposition, immer noch im Durchgangsstadium und soll konsequent fortgesetzt werden. Das, was als Existenzminimum gilt, wird dabei deutlich spürbar abgesenkt. Das zeigt sich z.B. in den Verschlechterung beim Arbeitslosengeld, der Abschaffung der Rechtsansprüche auf Arbeitslosen- und Sozialhilfe, der tendenziellen Auflösung der Arbeitslosenversicherung und der beginnenden Zerschlagung der Bundesagentur für Arbeit. Als »Entbürokratisierung« getarnt, lagert die Bundesagentur für Arbeit Kerngeschäfte z.B. durch eine Übertragung der Vermittlungsaufgaben an Dritte aus und fördert die Leiharbeit. Kapitaleigner, Christdemokraten und freie Liberale wollen dies vorantreiben, um die Arbeitslosenversicherung ganz aufzulösen und das Risiko der Erwerbslosigkeit am besten vollständig zu privatisieren. Solche Vorschläge führen zu einer Ausweitung der schon bestehenden Armut in der Bundesrepublik.

»Armut im Sinne sozialer Ausgrenzung und nicht mehr gewährleisteter Teilhabe liegt dann vor, wenn die Handlungsspielräume von Personen in gravierender Weise eingeschränkt und gleichberechtigte Teilhabechancen an den Aktivitäten und Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Armut bezieht sich auf die Ungleichheit von Lebensbedingungen und die Ausgrenzung von einem gesellschaftlich akzeptierten Lebensstandard« - meint die Bundesregierung in ihrem kürzlich erschienenen »II. Armuts- und Reichtumsbericht«. [1] Einkommensarmut, die zu o.g. Auswirkungen führt, ist inzwischen bittere Realität und betrifft mindestens zwölf Millionen Menschen in diesem Land. Dazu gehören Erwerbslose, Bedürftige, Beschäftigte in Arbeitsfördermaßnahmen und Working poor, Einkommenslose, BezieherInnen von Jugendhilfe oder neuer Sozialhilfe.

Bisherige ALHI-BezieherInnen müssen sich seit Jahresbeginn drastisch einschränken, denn viele von ihnen hatten bis Februar weder Leistungsbescheid noch Abschlag. Bereits während der ALHI wurden Zeitungen abbestellt, Vereinsmitgliedschaften gekündigt, Versicherungen aufgelöst, Kneipenbesuche minimiert und Verwandten- und Freundeskontakte reduziert. Mit 345 Euro im Monat werden Kochgruppen, Suppenküche und Second Hand zur Regel, Autos stillgelegt, die Bahncard gespart, GEZ-Gebührenbefreiung beantragt, täglich hin- und herüberlegt, ob man sich ein Sozialticket kauft oder das Internet abschaltet. Erforderliche Arztbesuche fallen Praxisgebühr oder drohender Zuzahlung bei Medikamenten zum Opfer. Die Leute beginnen wieder, wie einst, Haushaltsbüchlein zu führen, in das sie alle ihre winzigen Einnahmen und Ausgaben eintragen. Trotzdem ist am Ende des Geldes immer noch viel Monat übrig. Neben physischer Zwangsaskese entfallen soziale Kontakte. Für viele, die 10, 20, 30, 40 Jahre gearbeitet haben, sind soziale Isolation, Angst und Hunger Realität. Die bisher theoretische Grundeinkommensdebatte muss sich deshalb auf die konkrete Lebenswirklichkeit der Betroffenen beziehen und ihre Vorschläge beachten.

Bernd Michael Büttner, Sozialhilfeberater aus Schöneberg-Tempelhof, stellte auf der »Antiquitätendemo« der »Berliner Kampagne gegen Hartz IV« am 16. September 2004 im Einzelnen dar, was einem ALG II-Bezieher mit monatlich 345 Euro zugestanden wird.

  • Für Ernährung stehen täglich 4,67 Euro zur Verfügung,
  • für Getränke und Tabakwaren 19,13 Euro im Monat,
  • für Mahlzeiten außer Haus 9,71 Euro monatlich,
  • für Kaffee, Tee, Schokolade 9,56 Euro monatlich,
  • für Bücher und Broschüren stehen 5,79 Euro, für Zeitungen 7,82 Euro monatlich zur Verfügung - pro Tag macht das 46 Cent!
  • Für Theater und Kino sind 1,43 Euro monatlich und für Mobilität 14,22 Euro bzw. 47 Cent täglich vorgesehen!
  • Für Wasch- und Putzmittel enthält die Regelleistung 4,68 Euro, für Toilettenpapier 1,78 Euro monatlich und für Rasiermaterial (Klingen, Rasiercreme u.ä) 1,27 Euro. Dieser Zustand wird auch durch die »1-Euro-Jobberei« nicht wesentlich besser.

Deshalb sind zwar kurzfristige Nachbesserungen bei Einzelpositionen vorstellbar und notwendig. So z.B.

  • ein »Sozialticket« für 10 Euro, wie es das Berliner Sozialforum und Gewerkschaften fordern;
  • eine Erhöhung der Regelleistung um bis zu 20 Prozent, wie dies der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) bereits seit 1999 anmahnt;
  • höhere Freibeträge bei zusätzlicher Erwerbstätigkeit in Höhe eines Mindestselbstbehaltes von 930 Euro;
  • zehn Euro Brutto Stundenlohn je JobberIn, wie es auf den Berliner Montagsdemos gefordert wurde, in Verbindung mit einer Mindestlohnforderung von 1 700 Euro Brutto bei Vollzeittätigkeit;
  • die Abschaffung von Sanktionen wegen Arbeitsablehnung und eine Änderung der Zumutbarkeitskriterien.

Und dennoch: All diese kleineren oder größeren Nachbesserungen bringen nur kurzfristig »mildernde Umstände« in der unerträglichen Lage der Erwerbslosen und Bedürftigen. Steigende Lebenshaltungskosten für Strom, Wasser, Gas und Mieten sind dabei vielfach noch gar nicht berücksichtigt - und eine Aufhebung der Diskriminierung in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten ist nach wie vor außer Sichtweite.

Ausreichendes Einkommen - auch bei Erwerbstätigkeit

Die Höhe des Grundeinkommen war in der Debatte der Grundsicherungen der 80er und 90er Jahre ein steter Streitpunkt. Stichworte kontroverser Argumentationen sind das Lohnabstandsgebot, die Aufspreizung der Löhne im Niedriglohnbereich, Bedarfsgerechtigkeit, die Neubewertung der Arbeit oder eben jene gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. Mit den Regelleistungen bei Hartz IV ist jedoch nunmehr eine Schmerzgrenze erreicht. Es ist dabei m.E. wichtig, sich nicht nur an statistischen Zahlen von Verbänden und Wissen-schaftszentren zu orientieren, die eigene Interessen vertreten, sondern Bedarfsrechnungen von Betroffenen (wie sie etwa Wolfgang Ratzel vom Autonomen Seminar an der Humboldt-Universität [2]oder Petra Leischen [3] als Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und SozialhilfebezieherInnen vertreten) Beachtung zu schenken.

Unsere Grundeinkommensforderung, die wir in einer gewerkschaftsübergreifenden Arbeitsgruppe beim Berliner DGB diskutiert haben, geht jedoch noch über diese beiden Berechnungen hinaus. Wir fordern 850 Euro plus Miete und Krankenversicherung. Entsprechend der Alg II-Bescheide von Alleinstehenden wird deutlich, dass die durchschnittliche Bruttomiete bei 340 Euro liegt. Die Bedarfsaufgliederung stellt sich dann wie folgt dar:

Ernährung und Dinge des täglichen Bedarfs 350 Euro
Energiekosten 50 Euro
Gesundheit 50 Euro
Gesetzliche Krankenversicherung 140 Euro

Soziales: Kommunikation, Kultur, Sport, Hobbys, Bildung, Mitgliedsbeiträge, Interessenvertretung

130 Euro
Urlaub 70 Euro
Mobilität 60 Euro
Bekleidung 90 Euro
Instandhaltung der Wohnung 50 Euro

Dieses Budget zum Leben ist nötig und ermöglicht in magerem Umfang gesellschaftliche Teilhabe. Im Prinzip scheint es auch nur so, als ob wir mit dieser Forderung des Grundeinkommens »nach den Sternen greifen« - wie Friedhelm Hengsbach auf dem Perspektivenkongress sich ausdrückte. Bereits gegenwärtig geben Bund und Kommunen für einen Alleinstehenden ALG II-Bezieher zwischen 903 und 1063 Euro (befristeter Zuschlag) einschließlich Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung aus. Gleichzeitig reicht die 345 Europauschale für den Alleinstehenden schon für die Dinge des täglichen Lebens nicht aus. Unsere Grundeinkommenshöhe liegt ca. bei 1330 Euro (entspricht 76 Prozent des Durchschnittsnettoeinkommens) und damit über der in der europäischen Sozialcharta angegebenen Armutsgrenze von 68 Prozent des Durchschnittsnettoeinkommens der Erwerbstätigen von 2004. Da dieses Grundeinkommen alle erhalten sollen, müssten auch die Nettoeinkommen von rund 21,5 Millionen Erwerbstätigen unterhalb von 76 Prozent des Durchschnittsnettoeinkommens aufgestockt werden. Damit ist klar, wo der Hase im Pfeffer begraben liegt: Nicht die Leistungen für Bedürftige sind zu hoch, sondern die Löhne sind zu niedrig.

Das eben genannte Aufstockungserfordernis illustriert das Umverteilungsvolumen beim Grundeinkommen und die Dringlichkeit einer neuen Existenzminimumsdebatte. Erwerbslose fordern dies als Diskussion über die Neuzusammensetzung und Berechnung des Warenkorbs. JuristInnen wollen das Existenzminimum beim Arbeitslosengeld II anfechten. Haupt- und ehrenamtliche GewerkschafterInnen verlangen eine innerinstitutionelle Debatte um einen Mindestlohn, der die andere Seite der Medaille eines Grundeinkommen ist. Das Grundeinkommen erfordert eine grundlegende Neuausrichtung des Steuer- und Abgabensystems nach bestimmten Mechanismen. Doch es ist finanzierbar, wie schon ein Vergleich mit real existierenden Ausgaben für ALG II oder Beispielrechnungen wie das Take Half-Modell der BAG SHI zeigen. [4]

Soziales Recht auf Grundeinkommen

Grundeinkommen muss als Recht, d.h. individuell einklagbarer Rechtsanspruch ausgestaltet werden. Mit Hartz IV ist der grundlegende Rechtsanspruch auf die Sozialhilfe zur Gewährleistung eines Lebens in Würde gefallen. Das ALG II ist eine Ermessensleistung unter der Bedingung, dass fast jede Arbeit angenommen werden muss. Kinder haben keinen individuellen Sozialgeldanspruch. Hilfe wird nicht mehr durch eine gegenwärtige Notlage ausgelöst (»Gegenwärtigkeitsprinzip«), das Bedarfsdeckungsprinzip ist aufgegeben, die individuelle Situation des Hilfebedürftigen bleibt unberücksichtigt (»Individualisierungsprinzip«), eine Beurteilung der Hilfebedürftigkeit nach der »tatsächlichen Lage« (Faktizitätsprinzip) findet nicht mehr statt. Doch all das ist bisher nur wenigen Menschen aufgefallen.

Die Bedingungslosigkeit umfasst zwei Attribute. Zum einen die Forderung nach einer Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung, zum anderen die Entkopplung von Arbeit und Einkommen.

Die Bedürftigkeitsprüfung der bisherigen Arbeitslosen- und Sozialhilfe und des jetzigen Arbeitslosengeldes II macht eine Sippenhaftung deutlich. Diejenigen, die mit einer/m erwerbslosen PartnerIn zusammenleben, sollen vorrangig für diese sorgen. Erst dann, wenn sie das nicht können, tritt die staatliche Fürsorge in Kraft. Dies schafft materielle Abhängigkeiten von Frauen und Männern in Familien und eheähnlichen Gemeinschaften. Sie macht kleine Vermögen und kleine Ersparnisse für das Alter und besondere Lebenslagen zum Maßstab für den Umfang der staatlichen Verantwortung für den einzelnen Menschen. Die Bedürftigkeitsprüfung ist auch im eigentlichen Sinne eine zweite Prüfung nach der Steuer. Da ein Grundeinkommen für alle jedem und jeder einen Anspruch auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichern soll, ist eine Bedürftigkeitsprüfung unnütz. Denn alle, die über das Grundeinkommen hinaus Einkommen und Vermögen haben, sollen dazu beitragen, das Grundeinkommen für alle zu finanzieren.

Ein Maßstab der Grundeinkommensforderung ist die Anerkennung der Tatsache, dass es unter kapitalistischen Bedingungen bei ständig wachsender Arbeitsproduktivität zunehmend weniger objektiven Bedarf nach dem Einsatz lebendiger Arbeit gibt. Die Arbeitsplatzlücke liegt derzeit zwischen über fünf Mio. offiziell registrierten Arbeitslosen und ca. 300000 offenen Stellen. Arbeitszwang macht also nur als Mittel der Lohnsenkung einen Sinn. Die Arbeitsgelegenheiten zeigen deutlich, wo die Reise hingeht: Diejenigen, die arbeiten, sollen auch nicht mehr gut essen können. 1-Euro-JobberInnen können sich keinen Pausenimbiss leisten und bekommen Kopfschmerzen vor Hunger. Der Stundeneuro reicht oft nicht einmal für den Fahrtkostenersatz. Deutliches Indiz für diese Verarmungstendenzen: In Berlin gibt es derzeit mehr als 300 Suppenküchen - moderne 1-Euro-Buffets. Diese Restaurants der Armen sind gut frequentiert.

Es wird behauptet, dass die Grundeinkommensforderung deshalb nicht tragbar sei, weil die Menschen arbeiten wollten, obwohl niemand je behauptet hat, diesen Arbeitswillen nicht zu akzeptieren. Ein ausreichendes Grundeinkommen schafft m.E. überhaupt erst wieder die Möglichkeit, dass sich Menschen in ehrenamtlicher, sozialer, politischer Arbeit oder selbstorganisierter Arbeit im Kiez engagieren können, weil sie sich nicht für ihr tägliches Brot zur Decke strecken müssen.

Grundeinkommen im Kontext

Ein garantiertes, ausreichendes und bedingungsloses Grundeinkommen für alle als Damm gegen die Armut macht nur dann Sinn, wenn für Erwerbstätige lohnseitige Mindestarbeitsbedingungen definiert sind. Ganz speziell ist ein gesetzlicher Mindestlohn erforderlich, der die Grenze des Grundeinkommens nicht unterschreitet. Auf dieser Basis wäre es möglich, dass Erwerbsfähige sich nicht auf jegliche Arbeitsbedingungen einlassen müssten und entsprechend ihrer Qualifikation ein Entgelt einfordern können. Dann würde sich die jetzige Zumutbarkeitsdefinition in ihr Gegenteil verkehren. Erwerbslose müssten nur noch Jobs annehmen, die aus ihrer Sicht zumutbar sind - und zwar in Bezug auf ihre Qualifikation und Berufserfahrung.

Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich beinhaltet eine harte Umverteilungsforderung. Diese Forderung ist mit einer Änderung des Arbeitszeitgesetzes im Prinzip möglich - und sie ist notwendig: In Berlin liegt die höchste Durchschnittsarbeitszeit bei 50 Stunden in der Woche (Berliner Zeitung, 5. Februar 2005); gleichzeitig liegt die Berliner Arbeitslosenquote mit 21,9 Prozent bundesweit im Spitzenfeld. Eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und vollem Personalausgleich könnte demnach viele BerlinerInnen wieder in Arbeit bringen.

Eine Arbeitszeitverkürzung im beschriebenen Sinne erfordert im Kontext mit einem gesetzlichem Mindestlohn und einem bedingungslosem Grundeinkommen für alle jedoch eine grundlegend andere Steuer- und Abgabenpolitik, bei der die Bedürfnisse des Menschen und nicht der Trieb nach Profit im Mittelpunkt stehen.

Fazit

Die Befürworter des Grundeinkommens wissen, dass ihre Forderung eine politische Entscheidung der Gesellschaft erforderlich macht. Denn das gegenwärtige Kräfteverhältnis im Deutschen Bundestag gibt eine solche Umorientierung sicherlich nicht her.

Die Forderungen zur Durchsetzung sozialer Rechte, wie dem auf ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, können nicht über Bundestagswahlen durchgesetzt werden. Denn dort findet sich eine quasi-große Koalition, die in konzertierter Aktion die sozialen Errungenschaften abschafft. Agnoli meinte 1968 in seinem Aufsatz >Die Transformation der Demokratie<: »Da der Antagonismus staatlich-politisch von den Parteien nicht mehr vertreten wird, findet die Reproduktion nur des einen Pols der Gesellschaft statt, dessen Macht antagonistisch sonst in Frage gestellt wäre. Die Trennung von der gesellschaftlichen Basis trifft nicht alle Gruppen gleich, da von der Reproduktion auf der Ebene der Staatsgewalt nur die Gruppen und Klassen ausgeschlossen bleiben, die die Verhältnisse ändern wollen - potentiell die Abhängigen. Sie finden bei politischen Grundsatzentscheidungen kein politisches Sprachrohr.« [5] Gegen diese Gleichschaltung von Kapital und Politik hilft nur ein strategisch ausgerichteter politischer Kampf für soziale Rechte.

Es existiert derzeit eine derartige Kluft zwischen Kapital und Bundespolitik einerseits und vom Lohn abhängigen Menschen andererseits, dass viele vom Lohn Abhängige begonnen haben, eigene Wege der Selbstorganisation und des Widerstandes zu gehen. Dazu sind allgemein akzeptierte politische Ziele wichtig, die eine außerparlamentarische Opposition weiterentwickeln helfen. Und es liegt letztlich in unserer politischen Verantwortung, unsere Ansprüche auf soziale Absicherung einzufordern. Schon in der Internationale heißt es: »Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!« [6] Dies erkennen immer mehr Menschen und beginnen, selbstorganisiert politisch zu arbeiten. Dadurch wächst auch die Hoffnung, dass ein Grundeinkommen für alle längerfristig gemeinsam durchsetzbar wird. Dafür setzen sich auch Menschen in anderen Ländern Europas und Lateinamerikas ebenfalls ein. Sonnenklar ist, dass das von uns geforderte Grundeinkommen die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse massiv verändern würde - denn soziale Absicherung verlangt eigentlich eine andere Gesellschaft. Aber besser ist es wohl, für solche tagespolitische Utopie zu streiten, als kampflos zu verhungern - oder?

* Der Beitrag wurde auf der 2. Berliner DGB-Arbeitslosenkonferenz am 12. Februar d.J. gehalten und für den express überarbeitet.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/05


(1) Vgl. Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2005, S. 15, in: www.bmgs.bund.de externer Link

(2) Ratzel, Wolfgang: Mut zur Selbstbehauptung, in: Freitag, 11. Februar 2005.

(3) Leischen, Petra: Existenzgeld - eine Antwort auf die Krise des Sozialen, Ein kurzer Hinweis auf die Krise des Sozialen, Seminar Offene Uni Berlin, 25. September 2004, Berlin

(4) www.bag-shi.de externer Link

(5) Agnoli, Johannes: Die Transformation der Demokratie, in: Reihe provokativ, Frankfurt/Main, 1968, S. 33f.

(6) Text »Die Internationale«. Im Juni 1871 gedichtet von Eugène Pottiers.

 


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