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»Weihnachten steht vor der Tür – Wir auch!« Einzelhandelstarife – mit ver.di und mit Demokratie in ver.di?
Artikel von Anton Kobel, erschienen in, express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11/2013
„Die Tarifrunde 2013 ist im Einzelhandel eine der wichtigsten der letzten zehn Jahre und wohl die wichtigste für die nächsten zehn Jahre geworden. Dafür gibt es zwei Gründe: das Verhalten der Arbeitgeber und den Konflikt um die innergewerkschaftliche Demokratie in ver.di. (S. express, Nr. 9/2013). Die aktuelle Tarifrunde hatte faktisch im Januar mit der bundesweiten Kündigung der Entgelt- und Mantel-Tarifverträge begonnen. Ende Mai gab es die ersten Aktionen für eine »akzeptable Erhöhung der Gehälter, Löhne und Ausbildungsvergütungen« und »die Wiederinkraftsetzung der Manteltarifverträge«.
Die ver.di-Forderungen für höhere Entgelte waren in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich: Ein Euro mehr in der Stunde bzw. 6,5 Prozent oder mindestens 140 Euro. Seitdem kämpfen zahlreiche Belegschaften unverdrossen für neue Tarifverträge. Sie streiken und kämpfen, hie und da unterstützt von solidarischen Menschen, mit zahlreichen neuen und phantasievollen Aktionsformen für einen akzeptablen Tarifabschluss und damit gegen die ganze Batterie von Verschlechterungen, die die Arbeitgeber fordern. (S. express, Nr. 6/2013) Der Schwerpunkt der Streikaktionen liegt in Baden-Württemberg. So streiken in Mannheim/Heidelberg seit Ende Mai 17 Belegschaften. Einige stehen schon über 80 (!) Tage vor ihren Läden, demonstrieren in der Öffentlichkeit, fahren zu Firmensitzen. 80 Streiktage – das sind 16 Wochen Streik! Wohl der seit Jahren längste Streik einer deutschen Gewerkschaft für einen Flächentarifvertrag.* Die Streiks finden vor allem an den umsatzstarken Freitagen und Samstagen sowie unmittelbar danach an den für die unternehmensinterne Logistik wichtigen Montagen und Dienstagen statt. Diese Streikform wurde von den Aktiven in den Betrieben entwickelt, da so die wirtschaftlichen Auswirkungen am größten sind…“
Tarifabschluss in Baden-Württemberg?
Nachdem es ver.di bisher nicht gelungen ist (oder ist es nicht gewollt?), eine bundesweite Arbeitskampfstrategie inclusive einer bundesweit und auch ver.di-intern bedeutsamen Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln, konzentrieren sich seit Mitte Oktober die Tarifverhandlungen auf Baden-Württemberg. Hier haben inzwischen vier Sondierungsgespräche und sechs Tarifverhandlungen stattgefunden. Noch im November soll zum siebten Mal verhandelt werden. Wenn man den Begriff Verhandlungen ernst nimmt, kommt es dazu erst zum dritten Mal; vorher waren es inhaltsleere Treffen. Offensichtlich wollten einige Einzelhandelskonzerne die gewerkschaftliche Kampfkraft auf die Probe stellen, wobei ihnen die Vernichtungskonkurrenzen unter den Einzelhandelskapitalien die ideellen und materiellen Grundlagen und damit zugleich die Legitimation gegenüber der Öffentlichkeit liefern.
Den Arbeitgebern geht es bei den Manteltarifverträgen im Zuge der abgeschafften Ladenschlusszeiten um weitere Möglichkeiten zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten und deren Anpassung an die Umsatzzeiten. Für die meisten Beschäftigten würde dies einen verheerenden Eingriff in ihre bisherigen Frei- und Familienzeiten bedeuten. Auch deshalb ist die Streikbereitschaft für den Schutz des Manteltarifvertrages vor allem in den Kauf- und SB-Warenhäusern groß. Konkret sind dies vor allem die Betriebe des Kaufhof, von IKEA, real und Kaufland. Ein von den Streikenden – gar in einer Urabstimmung – akzeptierter Kompromiss ist nicht leicht zu finden.
Bei den Entgelttarifverträgen geht es für die Beschäftigten neben der Erhöhung vor allem um eine Abwehr der von den Arbeitgebern geforderten Verschlechterungen. So soll die bisherige Eingruppierung – vor allem der KassiererInnen in den SB-Warenhäusern – um eine Tarifgruppe verschlechtert werden. Dies wären ca. 250 bis 300 Euro monatlich weniger Gehalt für Vollzeitkräfte bzw. eine 15-prozentige Kürzung. Die bisher tariflich vereinbarte Kassierzulage von ca. 25 Euro monatlich, die bislang vor allem für das Kassenpersonal in den Kaufhäusern und Lebensmittelfilialbetrieben bezahlt werden muss, soll abgeschafft werden. Als ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzung hat sich die von den Händlern geforderte Einführung einer Niedriglohngruppe für »Hilfstätigkeiten wie Warenverräumung und Auffülltätigkeiten« herauskristallisiert. Diese Beschäftigten sollen um die 8,50 Euro pro Stunde bekommen. Das liegt teils deutlich unter den bisher dafür tariflich vereinbarten Löhnen. Zudem sollen für diese Beschäftigten die vereinbarten Spätöffnungs- und Nachtzuschläge (20 bzw. 50 Prozent) nicht gelten.
Ob der bisherige und von ver.di für das Weihnachtsgeschäft angekündigte verstärkte Streikdruck ausreicht, um die Arbeitgeber zu bewegen? Am 22. November sollen bei der vierten Sondierung in Baden-Württemberg Einigungsmöglichkeiten ausgelotet werden, die dann in einer schnell folgenden Verhandlung die Tarifrunde beenden.
Weihnachten steht vor der Tür
Ungebrochen ist die Kampfkraft in den Streikhochburgen wie Mannheim/Heidelberg, Stuttgart und Freiburg. Große, aber nicht letzte Hoffnungen setzen die Streikenden auf die Verhandlungen. Die Bereitschaft, auch bei einem weiteren Scheitern im für die Einzelhändler wichtigen, umsatzstarken Weihnachtsgeschäft zu streiken, ist groß. Dazu lässt der Blick in die Kalender jahrelange Träume und Wünsche der VerkäuferInnen endlich erfüllbar erscheinen: Der 23. und 24. Dezember liegen dieses Jahr auf Montag und Dienstag. »Wenn wir da streiken und schon Freitag und Samstag davor, das wäre wunderschön! Endlich mal ausgeruht und stressfrei nach einem freien, langen Wochenende Weihnachten mit der Familie feiern!« Dieser Aus- und Aufruf einer aktiven Kollegin wurde auf einer Streikendenversammlung in Mannheim mit langem Beifall unterstützt. Er drückt mit am deutlichsten die Arbeitsbelastungen der im Einzelhandel Beschäftigten aus.
Und ver.di?
Die im Einzelhandel aktiven ver.di-KollegInnen führen neben dem Kampf gegen die Arbeitgeber auch ver.di-intern spürbare Auseinandersetzungen. Neben dem immer wieder – bisher ergebnislos – an die ver.di-Handelsspitze schriftlich und mündlich gerichteten Verlangen, endlich eine bundesweite Arbeitskampf- und Öffentlichkeitsstrategie zu entwickeln und zu praktizieren, ging und geht es seit Ende Juli um die innergewerkschaftliche Demokratie. An den Großen Tarifkommissionen und den ehrenamtlichen Gremien vorbei hatten sog. Führungskräfte einen Tarifvertragsentwurf entwickelt und am 30. Juli in Bayern und am 1. August in Hamburg den Arbeitgebern präsentiert. Damit sollte ein Ausweg aus der heißen Tarifrunde gefunden werden. Neben der Missachtung der ver.di-internen Demokratie beinhaltete dieser Entwurf auch in ver.di-Handel umstrittene und von den Großen Tarifkommissionen mehrerer Bundesländer abgelehnte Inhalte wie z.B. eine neue Entgeltstruktur mit neuen Entgeltfindungssystemen. (Ausführlich dazu: express 9/2013) Immerhin führte die Kritik bei der dritten Koordinierungskonferenz am 5. November zu einem neuen Verfahren, wie ehrenamtlich Aktive in die Frage eines akzeptablen Tarifabschlusses einbezogen werden. Angesichts der Situation im Arbeitskampf ein wichtiger Schritt, insgesamt aber bestenfalls ein Zwischenschritt. Die interne Diskussion über Demokratie im Arbeitskampf ist weiter zu führen. Schließlich sind die Streikenden und ihre Aktiven keine Armee von Berufssoldaten, die bei Bedarf entsprechend kommandiert werden können.
* Den letzten so langen Streik, auch 16 Wochen, führte die IG Metall 1957 in Schleswig-Holstein beim Kampf um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.