Doch Stress statt Streik vor Weihnachten – Tarifvertrag Einzelhandel in Baden-Württemberg: Durchbruch oder gar Pilotabschluss?

Artikel von Anton Kobel, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 12/2013

mini_expressEiner der längsten Streiks für einen Flächentarifvertrag geht seit dem 5. Dezember mit dem Abschluss in Baden-Württemberg, dem kampfstärksten Landesbezirk im Einzelhandel, seinem Ende entgegen. Manche mögen es bedauern, doch die Einzelhändler dürfte es freuen, dass das Weihnachtsgeschäft nun streikfrei seine irrwitzigen Schleifen ziehen kann. Inzwischen wurden in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen materiell vergleichbare Abschlüsse vereinbart. Die Verhandlungen in Berlin/Brandenburg und in Niedersachsen, einer Hochburg der tarif­reaktionären Einzelhändler, laufen zwar noch, doch sieht alles danach aus, als würde der Baden-Württemberger Abschluss bundesweit als »Pilot« fungieren. Inwiefern er sich dazu eignet, untersucht Anton Kobel im folgenden Beitrag.

»Schade! Wir haben uns dieses Jahr so sehr auf Weihnachten gefreut. Endlich wie alle andern frei vom Arbeitsstress mit der Familie Weihnachten feiern!« So, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, kommentierten ver.di-Aktive am 5. Dezember 2013 in der bezirklichen Tarifkommission von Mannheim/Heidelberg wenige Stunden nach dem Tarifabschluss für den Einzelhandel in Baden-Württemberg das Ergebnis dieses 20-stündigen, letzten Verhandlungstages. Gefreut haben sie sich darüber, nach vielen Streiktagen endlich einen Tarifabschluss erreicht zu haben. Andererseits hätten sie sich auch auf die Streiktage vom Freitag, den 20. Dezember, bis Heiligabend am darauf folgenden Dienstag gefreut. Im Verhältnis zum Weihnachtsrummel mit gestressten KundInnen erscheinen die Belastungen der Streiks vielen wie Erholung.

Bei einer Enthaltung haben diese Aktiven dennoch den Tarifkompromiss gebilligt. Eine solch klare Zustimmung ist nach einem so harten und langen Arbeitskampf keine Selbstverständlichkeit. Die Region um Mannheim/Heidelberg hatte sich mit Stuttgart und Freiburg zur »Streikhochburg« entwickelt. So war, um nur ein Beispiel zu nennen, die Belegschaft von real Neu-Edingen in Mannheim an 99 Tagen im Streik. Gern hätten sie die 100 voll gemacht. Letztendlich machten ihnen die Arbeitgeber, die sie in diesen Arbeitskampf gezwungen hatten, doch noch einen Strich durch die (Ab-)Rechnung.

Der Tarifabschluss für Baden-Württemberg scheint tatsächlich einen Durchbruch durch die Phalanx der Händler zu bedeuten. In Nordrhein-Westfalen wurde er am 10. Dezember übernommen, nachdem drei Tage zuvor noch einmal eine imposante Streikwelle mit 1 500 Streikenden stattfand. Auch in mehreren anderen Landesbezirken sind der Ankündigung, sich am Stuttgarter Abschluss als Richtschnur zu orientieren, bereits verbindliche Konsequenzen gefolgt. Für die restlichen Länder bleibt das genaue Ergebnis dennoch abzuwarten, auch wenn größere Abweichungen inzwischen sehr unwahrscheinlich sind.

Die Forderungen und das Ergebnis

Begonnen hatte diese Tarifrunde im Einzelhandel mit einem Paukenschlag der Arbeitgeber. Während man an höherer Stelle von ver.di noch von einer schnellen Tarifrunde sprach, kündigten die Händler bereits im Januar in allen Bundesländern außer Hamburg die Entgelt- und Manteltarifverträge. Eine bisher ungewohnte und dadurch umso klarere Ansage. Entsprechend klar waren die bald im Rahmen einer umfangreichen Öffentlichkeitskampagne verkündeten Forderungen. Als süffige Begründung für die Öffentlichkeit wurde eine nach Jahrzehnten notwendig gewordene Reform der Tarifverträge genannt. Dazu wurden tarifierte Tätigkeiten wie Kaltmamsell, Kaffeebeleser, Pelznäherin u.a. bemüht. Tatsächlich forderten die Arbeitgeber von ver.di deutliche Verschlechterungen in den bestehenden Tarifverträgen. So sollten z.B. die Kassiererinnen abgruppiert und die Möglichkeiten zu einer weiteren Flexibilisierung der Arbeitszeiten erweitert werden. Als Schwerpunkt der Arbeitgeberforderungen stellte sich im Laufe der Verhandlungen die Einführung einer Niedriglohngruppe für Warenverräumung und Regalbefüllung heraus. Diese Tätigkeiten hatten Konzerne wie Rewe, Edeka, real in den letzten 20 Jahren ausgegliedert. Nach profitschmälernden Erfahrungen durch kleinere Skandale im Lebensmittelbereich wollten die Konzerne diese Tätigkeiten wieder unter eigener Kontrolle haben, aber nicht zu den bisher tarifüblichen Löhnen. (S. express, Nr. 6 und 9/2013)

ver.di forderte, je nach Bundesland, eine Erhöhung der Entgelte um 1 Euro je Stunde (faktisch ein Festbetrag von 163 Euro) bzw. 6,5 Prozent, mindestens jedoch 140 Euro, sowie eine unveränderte Wiederinkraftsetzung der Manteltarifverträge. Über alle anderen Themen sollte nach einem Tarifabschluss verhandelt werden.

Im Tarifabschluss wurde nach drei Nullmonaten, für die es keine Tariferhöhung gibt, eine Erhöhung der Gehälter und Löhne um 3 Prozent vom 1. Juli 2013 sowie um weitere 2,1 Prozent ab 1. April 2014 vereinbart. Die Ausbildungsvergütungen steigen insgesamt gar um 7,1-7,5 Prozent. Der Manteltarifvertrag wird unverändert in Kraft gesetzt, ergänzt um eine Protokollnotiz zur Lage der betrieblichen Arbeitszeiten. Während die geforderte Abgruppierung der Kassiererinnen verhindert wurde, gab es für die Warenverräumer/Regalfüller einen Kompromiss, festgehalten in einem gesonderten, zeitlich  befristeten Tarifvertrag und einer neuen Tarifgruppe. Danach erhalten diese Beschäftigten, die bisher über Werkverträge von »Fremdfirmen« ohne Tarifverträge für Stundenlöhne von 6 Euro bis 7,50 Euro vorwiegend nachts im Einzelhandel arbeiten, nunmehr ab 1. Januar 2014 einen Stundenlohn von 9,54 Euro und ab 1. April 2014 von 9,74 Euro.  Für Tätigkeiten zwischen 20 Uhr und 6 Uhr erhalten sie gestaffelte Zuschläge von 20 Prozent und 50 Prozent. Zusätzlich gilt für sie nun auch der Manteltarifvertrag. Dies bringt deutliche Verbesserungen: sechs Wochen Urlaub statt bisher vier Wochen, erstmals Urlaubs- und Weihnachtsgeld, verbesserter Kündigungsschutz. Da ihre bisherigen Arbeitsverträge mit den betriebsratslosen »Fremdfirmen«/Werkvertragsfirmen auf die Unternehmen im Einzelhandel übergehen, sind für sie nun auch die Betriebsräte in diesen Unternehmen zuständig. Um Nachteile für jetzt schon mit den genannten Tätigkeiten betraute Beschäftigte zu verhindern, wurde für diese ein – hoffentlich – wirksamer Abgruppierungsschutz ausgehandelt.

In einer sog. Prozessvereinbarung wurden Themen wie Vereinheitlichung der Gehalts- und Lohngruppen sowie Zeitpunkt und Ablauf dieser Tarifverhandlungen ab April 2014 geregelt. (Eine Beschreibung und Einschätzung dieses Teils des Tarifergebnisses erfolgt in einer der nächsten expressAusgaben.)

Kämpfen lohnt sich

Diese Erfahrung konnten in dieser acht-monatigen Tarifrunde viele Beschäftigte machen. Unschätzbar wertvoll sind diese vor allem für die erstmals aktiv beteiligten Belegschaften, aber auch für die schon im Streik Erfahrenen. Ohne deren Entschlossenheit, die sich im Raum Mannheim/Heidelberg mit 50-80 Streiktagen, in der Spitze mit 99 Tagen zeigte, hätte dieser groß angelegte Versuch der Arbeitgeber, im Einzelhandel Niedriglohngruppen und Abgruppierungen tariflich durchzusetzen, nicht abgewehrt werden können. Bemängelt wurde von den Aktiven bis zum Schluss die fehlende Koordination und Strategie der sog. Führungskräfte von ver.di. Diese Kritik konnte jedoch, wie manch anderer Kritikpunkt auch, die Zufriedenheit gerade der Aktiven mit diesem Tarifergebnis nicht schmälern. Bedauert wurde, dass sich ver.di im Tarifabschluss verpflichtete, in Baden-Württemberg sofort, d.h. ab 5. Dezember, die Arbeitskampfmaßnahmen einzustellen. Dadurch gab es weder eine realistische Möglichkeit, mit den Streikenden in Versammlungen den ausgehandelten Kompromiss zu diskutieren, noch kam es zu Urabstimmungen. Über Demokratie im Arbeitskampf gibt es daher bei der Aufarbeitung dieser Tarifrunde noch einiges zu bereden und für die Zukunft zu regeln.

Blick nach vorn

Ob und wie dieser Abschluss in Baden-Württemberg, dem kampfstärksten ver.di-Landesbezirk, die Situation in den anderen Bundesländern beeinflusst, werden die nächsten zwei Wochen zeigen. Ob der Abschluss gar die Verhandlungen bei Karstadt, der sich aus der Tarifbindung verabschiedet hat, befördert oder die von Amazon geforderte Tarifbindung und den dazu geführten Arbeitskampf voranbringt?

Es gibt im Einzelhandel namhafte Unternehmen wie Globus und Dehner, für die die Branchentarifverträge nicht gelten und die ver.di zu Firmentarifverträgen aufgefordert hat. Von den Branchentarifverträgen werden zurzeit rund 40 Prozent der Unternehmen erfasst. Eine neue Möglichkeit, für die tariflosen 60 Prozent der Unternehmen und deren Beschäftigte Tarifverträge zur Anwendung zu bringen, könnte in der von der beabsichtigten Großen Koalition angekündigten Novellierung der im Tarifvertragsgesetz geregelten Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgenliegen. (S. dazu in diesem express, S. 6) CDU/CSU und SPD wollen Branchentarifverträge auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Beschäftigte für verbindlich erklären lassen, wenn es dafür ein öffentliches Interesse gibt. Das müsste sich für die Branche Einzelhandel mit bundesweit ca. 3,2 Millionen schlecht entlohnten Beschäftigten begründen lassen. Immerhin stehen die Gehälter und Löhne der im Einzelhandel Beschäftigten auf dem vorletzten Platz, nach Wirtschaftsbereichen in Deutschland betrachtet. Ca. 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen –  deren Situation eine gesellschaftspolitische Kampagne von ver.di für die Beseitigung der Lohndiskriminierung und eine Angleichung der Löhne allemal rechtfertigen würde.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=50043
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